Druckverhältnisse

Bluthochdruck. Bis zu drei Millionen Österreicher leiden daran

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Der 22-jährige Wiener Wirtschaftsstudent Markus F. war geschockt. Das Blutdruckmessgerät zeigte einen viel zu hohen Wert – 152 zu 94. Normal sind Messdaten unter 130 zu 80. Auch eine Wiederholung der Blutdruckmessung einige Minuten später zeigte keine nennenswerte Veränderung. Dass das Gerät im Haus seiner Eltern schadhaft oder die Messung fehlerhaft war, schloss F. aus. Seit er in der Pubertät Probleme mit erhöhtem Blutdruck hatte und deshalb vorübergehend Tabletten schlucken musste, weiß er, worauf es bei der Messung ankommt. Sein hoher Blutdruck war umso beunruhigender, als er seit Jahren Sport betreibt, regelmäßig ins Fitnessstudio geht, Fußball spielt, nicht raucht und sich gesund ernährt.

Seine Eltern rieten, das Problem vom Wiener Blutdruckspezialisten Dieter Magometschnigg abklären zu lassen. Dieser maß mithilfe einer neuartigen, vom Austrian Institute of Technology (AIT, vormals Forschungszentrum Seibersdorf, siehe auch Kasten auf Seite 86) entwickelten Apparatur eine ganze Reihe von Parametern, gab F. ein tragbares Gerät zur 24-Stunden-Blutdruckmessung mit nach Hause und analysierte zwei Tage später alle erhobenen Daten. Überraschender Befund, so Magometschnigg: „Es ist nichts. Ihre Selbstmessung zu Hause hat erhöhte Werte ergeben, obwohl Sie einen normalen Blutdruck haben.“

Der schlichte Grund, so der Arzt: F. betreibe im Fitnessstudio offenbar auch Muskelaufbautraining, daher habe er einen stärker entwickelten Bizeps. „In die Messung fließt aber auch jener Widerstand mit ein, den das Gerät überwinden muss, um Ihren Bizeps zusammenzudrücken“, erklärte Magometschnigg (siehe auch Kasten auf Seite 90).

F. war erleichtert. Aber er fragt sich, ob die Messung vielleicht schon in seiner Pubertät fehlerhaft gewesen sein könnte und er damals womöglich grundlos blutdrucksenkende Medikamente geschluckt hatte. Das Thema Blutdruck ist eines der verwirrendsten Gebiete der Medizin. Zur ­Frage, was ein normaler Blutdruck sei, gibt es ebenso unterschiedliche Angaben wie zu den Modalitäten der richtigen ­Messung.

Die Angelegenheit ist aber nicht nur verwirrend, sondern auch von besonderer Bedeutung. Denn laut Weltgesundheitsorganisation WHO gehört Bluthochdruck (Hypertonie) neben Rauchen zu den häufigsten Todesursachen in den Indus­triestaaten. Experten schätzen, dass es in Österreich zwischen zwei und drei Millionen Hypertoniker gibt. Das Leiden tut nicht weh, ist aber die Vorstufe tödlicher Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkt, Herz- und Niereninsuffizienz, Lungenembolie und Schlaganfall – mit etwa 36.000 Todesfällen im Jahr der mit Abstand größte Killer in Österreich, weit vor Krebs (19.000).

Es ist also eine Krankheit mit dramatischen Folgen, wobei viele Betroffene gar nicht gleich an Schlaganfall, Herzinfarkt oder Nierenversagen sterben. Die meisten von ihnen werden gerettet und leben dann als Invalide weiter. Schlaganfall ist die häufigste Ursache für Invalidität, wobei Hypertonie der auslösende Faktor ist.

„Bluthochdruck ist eine wirkliche Volkskrankheit“, urteilt der Wiener Kardiologe Gerald Maurer, Vorstand der Universitätsklinik für Innere Medizin II am Wiener AKH (siehe auch Interview auf Seite 85). Zwar wäre die Krankheit mit modernen Blutdrucksenkern einfach und gut behandelbar, „aber nur ein Bruchteil der Patienten ist richtig eingestellt, und die Krux ist, es ändert sich nichts“, urteilt Blutdruck-Papst Magometschnigg.

Der Experte beruft sich dabei auf Daten, die er seit acht Jahren bei jährlichen Herz-Kreislauf-Events in Wien erhebt. Bei diesen, vom Werbefachmann Johannes Thonhauser veranstalteten und von der Gemeinde Wien gesponserten Events werden Passanten zu Gesundheitsspielen samt Blutdruckmessung eingeladen. Laut internationalen Studien sind etwa 80 Prozent der Menschen „normoton“, das heißt, sie haben einen normalen Blutdruck, der nach aktuellen Richtlinien der International Society of Hypertension und der European Society of Cardiology unter 140 zu 90 liegen sollte.

Die beiden Medizingesellschaften geben ohne weitere Interpretationen den oberen Grenzwert der Messung beim Arzt an, mehr sagen sie nicht. Sie berufen sich dabei auf epidemiologische Daten von Hunderttausenden Patienten, die zeigen, dass ab diesen Werten das Risiko von tödlichen Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich ansteigt.

Aber die von Magometschnigg vorgenommene Auswertung der bei den Gesundheitsevents gesammelten Daten zeigt, dass der Blutdruck sehr vieler Menschen über diesem Wert liegt. Hochgerechnet auf die österreichische Gesamtbevölkerung, kommt der Blutdruckspezialist auf eine mögliche Population von drei Millionen betroffenen Hypertonikern. Genauere Daten gibt es nicht, weil in Österreich keine epidemiologischen Daten erfasst sind. Es gibt nur Schätzungen. „Bei der wichtigsten Erkrankung gibt es keine Daten. Die Hälfte der Menschen stirbt daran, es ist ein Riesenproblem, und man schaut sich’s nicht einmal an, wie es ist. Das ist absurd“, mokiert sich Magometschnigg. Österreich sei eben eine Glaubens- und keine Wissensgesellschaft.

Zu den fehlenden epidemiologischen Daten kommt ein zweiter gravierender Missstand. Bei den Wiener Gesundheitsevents werden die Probanden nämlich auch gefragt, ob sie Blutdruckmittel nehmen. Bedenkliches Resultat: Von den medikamentös behandelten Hypertonikern sind laut Magometschnigg nur zehn bis 15 Prozent richtig eingestellt. „Das ist ein erbärmliches Ergebnis“, urteilt der Experte. „Man weiß eigentlich nicht, wo das Problem liegt.“

Der Kardiologe Otmar Pachinger, Vorstand der Innsbrucker Universitätsklinik für Innere Medizin III, schätzt die Zahl der Hypertoniker in Österreich mit zwei Millionen geringer ein als Magometschnigg, vielleicht auch deshalb, weil das Problem in Westösterreich noch nicht diese Dimension erreicht wie in Ostösterreich. „Ein Viertel der Bevölkerung neigt zur Hypertonie“, konstatiert Pachinger. „Ein Drittel davon weiß es nicht, ein weiteres Drittel weiß es, wird aber nicht optimal therapiert und das dritte Drittel wird überhaupt nicht therapiert.“

Trotz dieses Befunds sind die Ausgaben für Blutdruckmittel beträchtlich. Der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger gab im Vorjahr für 23,8 Millionen verschriebene Packungen blutdrucksenkende Medikamente rund 318,4 Millionen Euro aus. Zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum zahlten Österreichs Krankenkassen für 5,5 Millionen Packungen Cholesterinsenker (so genannte Statine) rund 96.4 Millionen Euro. Damit sind Blutdruckmittel die mit Abstand größte Gruppe der auf Kasse verordneten Medikamente.

Manche Ärzte führen die hohen Ausgaben für Blutdruckmittel darauf zurück, dass die Blutdruckempfehlungen diverser Gesundheitsorganisationen und medizinischer Fachgesellschaften in den vergangenen Jahren immer weiter gesenkt ­wurden. „Als ich studiert habe, galt für einen normalen Blutdruck noch die Formel 100 plus Alter“, erinnert sich Kardiologe Pachinger – nicht ohne zu bemerken, dass das sukzessive Absenken der empfohlenen Werte der Pharmaindustrie gewiss nicht unangenehm sei. Aber die Spekulationen, große Pharmaunternehmen hätten durch Finanzierung einschlägiger Studien einiges dazu beigetragen, lassen sich nicht konkret belegen.

Internationale Studien haben jedenfalls gezeigt, dass Patienten mit einem Durchschnittsblutdruck von 120 langfristig gesehen länger leben als Patienten mit einem Durchschnittsblutdruck von 130. Dennoch lässt sich die Frage, ab welchem Punkt der Blutdruck gut oder schlecht sei, nicht mit einfachen Formeln beantworten. Es geht schließlich um ein lebendiges, äußerst komplexes System, bei dem viele Faktoren eine Rolle spielen, genetische ebenso wie Lebensstilelemente. Auffallend: Bluthochdruck ist ein Problem der industrialisierten Welt, in nicht industrialisierten Ländern ist das Leiden nahezu unbekannt.

Der Trigger muss also der Lebensstil des Industriezeitalters sein: kalorienreiche Ernährung bei wenig Bewegung, viel tierische Fette und zuckerhaltige Nahrungsmittel, Rauchen, übermäßiger Alkoholkonsum und viel Stress. Diese Mischung führt zu Übergewicht, zum metabolischen Syndrom, zu Insulinresistenz, Bluthochdruck, Arteriosklerose und zu potenziell tödlichen Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Wie entsteht Bluthochdruck? Es sind mehrere, einander überlagernde Prozesse. Einmal ist es die natürliche Alterung, die zu einem langsamen Verlust der Gefäß­elastizität führt. Im jugendlichen Gefäßsystem sind die blutführenden Schläuche noch weich und elastisch. Mit zunehmendem Alter bilden sich in den Gefäßwänden mehr und härtere Fasern, was zu einer allmählichen Steifigkeit führt. Steifere und weniger elastische Gefäße können auf den vom Herzen erzeugten Blutdruck nicht mehr mit der nötigen Flexibilität reagieren. „Wenn es starre statt weichere Rohre gibt, muss das Herz stärker pumpen, und dadurch entsteht mehr Druck“, erklärt der Innsbrucker Pathologe und Immunologe Georg Wick.

Der höhere Druck stresst die so genannten Endothelzellen in der Innenschicht der Gefäßwände. Zu diesem Stress kommen noch andere Stressfaktoren hinzu. Zum Beispiel Rauchen. Wick und sein Team konnten bei Untersuchungen von Tiroler Jugendlichen nachweisen, dass sich bereits bei 16- bis 19-jährigen Rauchern arteriosklerotische Gefäßveränderungen zeigen. Ein dritter Stressfaktor ist fett- und zuckerreiche Ernährung. Dadurch bildet sich mehr Bauchfett, ein Schlüsselparameter für das metabolische Syndrom, das durch Übergewicht, hohe Blutdruck- und Blutfettwerte und beginnende Insulin­resistenz der Zellen gekennzeichnet ist.

Durch das angesammelte Bauchfett bildet sich in der Leber mehr C-reaktives Protein (CRP), ein Entzündungsfaktor, der bei der Entstehung der Arteriosklerose eine Schlüsselrolle spielt. Erst wenn das CRP in der Innenwand der Blutgefäße eine Entzündungsreaktion auslöst, kann sich dort das schlechte LDL-Cholesterin einlagern, das schließlich zur Arteriosklerose führt. „Bluthochdruck, Diabetes, hohe Blutfettwerte und Rauchen sind die größten Risikofaktoren für die Arteriosklerose“, erklärt Wick. Arterien reagieren auf diese Stressoren viel empfindlicher als Venen, weil die arteriellen Endothelzellen laut Wick eine niedrigere Stresstoleranz haben als die venösen Endothelzellen.

Jede Art von Stress – ob erhöhter Blutdruck, Rauchen, erhöhte Blutfett- oder Blutzuckerwerte – schädigt also die arteriellen Endothelzellen ganz besonders. Dieser Zusammenhang ist umso wichtiger, als die Endothelzellen auch eine Steuerungsfunktion innerhalb der Blutgefäße haben. Sie dirigieren die Muskulatur der Gefäße, sind für Kontraktion und Erschlaffung zuständig und daher der Angelpunkt der Gefäßgesundheit. Sind die Endothelzellen geschädigt, schwindet die Elastizität der Blutgefäße, wodurch wiederum der Blutdruck steigt, was die Gefäße erst recht schädigt. Ein Teufelskreis.

Geschädigte Gefäße sind der Beginn einer beschleunigten Alterung. Sie führen nicht nur zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sondern längerfristig beispielsweise auch zu Potenzproblemen, im Extremfall zu absterbenden Beinen und zu Erblindung. Das besondere Augenmerk der Internisten und Kardiologen gilt in diesem Zusammenhang dem vergrößerten Bauchumfang, „weil er Ausdruck einer hormonellen Fehlsteuerung ist“, erklärt Magometschnigg. „Er zeigt, dass der Umgang mit dem Insulin nicht mehr richtig funktioniert, dass sich die Zellen abschotten gegen den Blutzucker.“

Selbst bei normalem Insulinspiegel im Blut können Zellen schon insulinresistent sein. Die Bauchspeicheldrüse beginnt, mehr Insulin zu produzieren. Das Insulin kann aber nicht nur den Blutzucker verbrennen, es kann auch Fett speichern, und das geschieht im Bauch. „Wenn ich einen Patienten mit einem Bauch sehe, weiß ich sofort: Insulinresistenz“, berichtet Magometschnigg. „Sein Stoffwechsel ist gestört, das heißt, diese Menschen neigen stärker zu Herzinfarkt und Schlaganfall als Menschen ohne Bauch.“

Auf die Frage, wann der ungesunde Bauch beginnt, antwortet der Experte: „Jeder Mann mit Hosengröße über 50 oder mit einem Bauchumfang über 102 Zentimeter und jede Frau ab Rockgröße 44 oder einem Bauchumfang über 88 Zentimeter leidet unter Insulinresistenz. Da kommt es gar nicht auf die Körpergröße an.“

Mit dem vergrößerten Bauch treten dann zumeist andere Parameter auf, wie erhöhter Blutdruck, erhöhte Blutfett- und Blutzuckerwerte.

Der Blutdruck ist nur ein erster möglicher Hinweis auf ein zumeist breiteres gesundheitliches Problem. Allerdings muss ein beim Arzt gemessener Bluthochdruck noch keine Hypertonie bedeuten. Denn in der Ordination wird Patienten ein leichter Erregungszustand zugebilligt, daher kann die ärztliche Messung höher ausfallen als die Messung zu Hause. Mediziner sprechen in diesem Zusammenhang vom so genannten „Weißkittel-Syndrom“, daher gilt ein beim Arzt gemessener Wert von 140 zu 90 als normaler Blutdruck. Es kann aber auch umgekehrt sein, dass nämlich die Arztmessung niedriger ausfällt als die Selbstmessung zu Hause. Dann sprechen die Mediziner von „maskierter Hyper­tonie“.

Um die Verwirrung perfekt zu machen, sagt Kardiologe Pachinger: „Man kann für den Blutdruck keine Regeln aufstellen.“ So sei beispielsweise für einen Achtzigjährigen ein Blutdruck von 130 zu niedrig, er fühle sich dabei nicht wohl. Andererseits ist für Pachinger ein Blutdruck von 140 noch kein Grund für die Verordnung
von blutdrucksenkenden Medikamenten. Selbst ein oberer Blutdruckwert – die Systole – von 150 oder 160 müsse noch kein Grund für eine medikamentöse Intervention sein. Geringfügige Änderungen des Lebensstils täten es auch: „Wenn der Patient täglich eine Stunde spazieren geht, hat er nach sechs Wochen einen normalen Blutdruck“, sagt Pachinger.

„Bei kaum einem Krankheitsbild der modernen Medizin gibt es so viel Unsicherheit wie bei der arteriellen Hypertonie“, konstatierten Berliner Blutdruckspezialisten schon im Jahr 2006 im „Journal für Hypertonie“. Schließlich gehe es beim Blutdruck um einen psychobiologischen Prozess, bei dem die emotionell-psychologische Seite des Patienten lange vernachlässigt worden sei. Die Medizin neige nämlich vielfach dazu, komplexe Systeme wie eine maschinelle Apparatur zu betrachten und unvollkommene Kausalitäten aufzustellen. Das sei beim Blutdruck in besonderem Maß der Fall.

Aus diesem Grund entwickelten die Berliner Forscher einen standardisierten Blutdruck-Entspannungstest, bei dem Patienten gebeten wurden, auf einem gepolsterten Liegesessel Platz zu nehmen und sich tief zu entspannen. Die Spezialisten ermittelten einen Blutdruckausgangswert vor der Prozedur und einen Entspannungswert. Überraschendes Ergebnis: Der systolische, also obere Blutdruckwert war in der Entspannungsphase um 12,0 bis 17,9 Millimeter Quecksilbersäule (mmHg) niedriger als der Ausgangswert, der diastolische um 6,0 bis 8,6 mmHg.

Resümee der Forscher: „Eine Klassifizierung einmal auf Grundlage der Daten des Ausgangswerts und einmal auf Grundlage der Daten des Entspannungswerts ­ergab eine Verminderung des Anteils der Hypertoniker von 51 Prozent auf 15 Prozent. Schlussfolgerung: Der reale Messwert für eine Hypertoniediagnostik muss der Entspannungswert sein.“ Aber der moderne Mensch ist im Alltag nur selten so entspannt, wichtiger als ein punktueller Entspannungswert ist daher der Mittelwert mehrerer Messungen.

Aus diesem Grund pochen erfahrene Kardiologen auf mehrfache Selbstmessungen zu verschiedenen Tageszeiten oder auf eine 24-Stunden-Messung, vor allem auch, um zu sehen, ob der Blutdruck zur Nachtzeit absinkt. Wenn der Mittelwert aller Messungen höher als 135/85 liegt, versuchen sie zuerst eine Blutdrucksenkung durch Allgemeinmaßnahmen wie Salzreduktion und Bewegung. Erst wenn das nicht zum Ziel führt, verschreiben sie Medikamente. „Heute gibt es sehr effektvolle Präparate. Aber man muss sich ein wenig spielen, bis der Patient richtig eingestellt ist“, erklärt Kardiologe Pachinger.