Brasilien: Präsident Lula in der Krise

Brasilien: Lula brennt

Dem Volkshelden droht das Ende seiner Karriere

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Vielleicht endet das schönste Tellerwäschermärchen der Gegenwart in einer Tragödie. Ricardo Kotscho sitzt im Garten eines Intellektuellen-Cafés in São Paulo, deutet kopfschüttelnd auf die Ausgabe der brasilianischen Tageszeitung „Folha de São Paulo“ und sagt: „Das ist schlimm. Das ist sehr schlimm.“ Kotscho – gedrungene Figur, Dreitagebart, intelligentes Gesicht, ironisches Lachen – ist ein langjähriger Freund des brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva, er war einer seiner Wahlkampfmanager und bis vor Kurzem sein Pressesprecher. Wenn einer wie Kotscho zu zweifeln beginnt, dann steht es nicht gut um den ersten brasilianischen Präsidenten, der aus eigener Erfahrung weiß, was Hunger ist, und dem im Oktober 2002 fast 53 Millionen Wähler ihre Stimme gaben, in der Hoffnung, er werde Brasilien von der Armut erlösen.

In der „Folha de São Paulo“ vom 6. Juni wartete der Kongressabgeordnete Roberto Jefferson mit einer Enthüllung auf. Sie sollte das Land in den folgenden Wochen in lärmige Hektik und Politiker in Panik versetzen. Da Lulas „Partei der Arbeiter“ (PT) im Parlament keine Mehrheit besitzt, kann sie ihre Vorhaben nur mit der Unterstützung einer Reihe kleinerer Parteien durchsetzen. Um diese in Eigeninteressen verfangene, notorisch zerstrittene Regierungskoalition zusammenzuhalten, hat die PT laut Jefferson zahlreiche Abgeordnete Monat für Monat mit umgerechnet je 10.000 Euro bestochen. „Es ist billiger, ein Söldnerheer zu mieten, als die Macht zu teilen“, sagt Jefferson von der PTB (Arbeitspartei). Er habe verschiedene Exponenten der PT auf die Bestechungen hingewiesen, geändert habe sich nichts. Als er hingegen dem Präsidenten davon erzählte, sei dieser in Tränen ausgebrochen. Jeffersons Vorwürfe bringen einen Mythos ins Wanken: den Glauben, dass sich Lulas Regierung von einer Ethik leiten lasse, welche die Interessen der Armen in den Mittelpunkt stelle; dass sie gegen Postenschacher, Vetternwirtschaft und Machtpackeleien immun sei. Zwar dementiert die PT entrüstet, doch mittlerweile sind Dokumente aufgetaucht, welche die Anschuldigungen des Abgeordneten stützen.

Acht Tage nach Jeffersons Coup präsentiert Lula im Regierungspalast Planalto in Brasilia ein Programm zur Verbesserung des Schulsystems. In einem Saal mit weißen Marmorplatten, metallenen Stützpfeilern und geschwungenen Balustraden haben sich Funktionäre, der Erziehungsminister und Lehrerinnen und Lehrer versammelt. Lula redet mit rauer Stimme, er erwähnt leicht lispelnd und die Vokale verwischend die Millionen, die in den kommenden Jahren ins Bildungssystem investiert werden sollen, hebt den Zeigefinger, lacht ins Publikum. Über die Krise verliert er kein Wort. Obwohl es eine routinierte Rede ist, wirkt der brasilianische Präsident keine Sekunde wie ein Staatsmann, der ein Alltagsgeschäft hinter sich bringt. Stimme, Mimik und Körpersprache haben etwas bewahrt, das nicht so recht zum architektonischen Machtgeprotze des Präsidentenpalastes und zur rituellen Formalität des Anlasses passt.

Emotionen. Nachdem Lula geendet hat, versuchen Bodyguards mit beschwörend-abwehrenden Armbewegungen das Publikum zurückzuhalten. Erfolglos: Der kleine bärtige Mann mit dem tief zwischen den Schultern sitzenden Kopf ist binnen Sekunden von einer euphorisierten Menge umringt, und jedesmal scheint es, als freue er sich aufrichtig, in genau diesem Moment genau die Person zu sehen, die er vor sich hat. Ein Pressesprecher erzählt, wie Lula eine Woche zuvor bei der Verteilung von Hilfsgeldern an Arme von der Misere seiner eigenen Kindheit erzählt und geweint habe. Darauf seien auch viele Zuschauer in Tränen ausgebrochen. Lula, der mächtigste Mann eines Landes von kontinentalen Ausmaßen und unermesslichen Problemen (fast die Hälfte der 186 Millionen Einwohner lebt in Armut, 48 Prozent des Bodens befinden sich im Besitz von 1,7 Prozent Großgrundbesitzern), weint häufig. „Das ist kein Theater. Lula ist ein sehr emotionaler Mensch“, sagt Kotscho. Als er ihm einmal im privaten Gespräch vom Krebstod seiner Mutter erzählt habe, seien ebenfalls präsidiale Tränen geflossen.

Wer die Länge des Weges abschätzen will, den Lula zurückgelegt hat, muss seine Geburtsstadt Caetés im nordöstlichen Bundesstaat Pernambuco besuchen. Caetés (25.000 Einwohner) liegt 300 Kilometer im Landesinnern. Es ist eine Stadt von unsäglicher Hässlichkeit: nicht asphaltierte Straßen, hingewürfelte Zementhütten, der Hauptplatz beherrscht von einer klotziggrauen Betonarchitektur, die an den ehemaligen Ostblock erinnert. Überall rötlicher Staub, Kinder in abgerissenen T-Shirts, Frauen in Strandlatschen. Antonio Ferreira de Melo, einer von Lulas zahlreichen im Ort lebenden Cousins, deutet auf die Überreste einer Baracke, in der vor 53 Jahren Lulas Mutter Eurídice Ferreira de Melo, genannt Dona Lindu, mit ihren sieben Kindern zwei Tage lang auf den Lastwagen wartete, der die Familie in einer zweiwöchigen Reise nach São Paulo bringen sollte. Lula war damals sieben Jahre alt. Noch vor seiner Geburt war der Vater Aristides, ein Landarbeiter, vor der Misere des brasilianischen Nordostens in die Industriemetropole geflüchtet. Beim Wiedersehen musste Dona Lindu feststellen, dass er sich ausgerechnet eine ihrer Cousinen als zweite Frau genommen und mit ihr eine neue Familie gegründet hatte.

Lula hat keine guten Erinnerungen an seinen Vater, er schildert ihn als selbstherrlich, versoffen und gewalttätig. Als er einmal mit Lula und zwei anderen Söhnen auf einem Fluss Holz transportierte, bemerkte er, dass das Boot ein Leck hatte. Um das Gewicht zu vermindern und die Fracht zu retten, befahl er den Jungen, ins Wasser zu springen. Da Lula sich als Nichtschwimmer schreiend weigerte, beförderte der Vater ihn mit einem Ruderschlag über Bord.

Auf die Frage, ob sich mit der neuen Regierung in Caetés etwas verändert habe, bekräftigen die Bewohner zuerst ihre Bewunderung für den Präsidenten und blicken dann etwas ratlos. Ja, die finanzielle Unterstützung armer Familien sei ein wenig erhöht worden. Aber wirklich verändert habe sich nichts – noch nicht. Der Cousin Antonio ist immer noch ein armer Bauer, und Lulas Tante Corina Guillermina da Silva lebt noch immer am Rande der Stadt, in einem Haus mit drei kleinen Zimmern, das man über schlammige Wege erreicht. Die 77-Jährige hat die Umgebung von Caetés ein Leben lang nie verlassen. Wird es unter der Regierung ihres Neffen jetzt endlich besser? „Solange man warten kann, kann man auch hoffen“, sagt sie.

Schuhputzer. In São Paulo brachte Dona Lindu sich und die Kinder dank einer Stelle als Wäscherin durch. Doch die Armut war erdrückend, die Familie lebte zeitweise im Hinterzimmer einer Bar, teilte das Klo mit den Gästen, jeder stärkere Regenguss setzte das Haus unter Wasser. Die Kinder mussten arbeiten, Lula verkaufte Orangen und putzte Schuhe. Als Bürohilfe in einem großen Warenhaus war er erfolglos, weil er am Telefon stotterte und sich die Bestellungen nicht merken konnte. Erst eine Stelle als Dreher in einer Metallfabrik im Industriegürtel von São Paulo erlaubte dem 15-Jährigen erste Schritte aus seiner Tagelöhner-Erbärmlichkeit. Zwar verlor er bei einem Arbeitsunfall den kleinen Finger seiner linken Hand, doch zu Beginn der sechziger Jahre hatte Lula erstmals das Gefühl, mehr zu sein als ein Hungerleider aus dem Nordosten, dem das Leben bestenfalls einen Teller mit Reis und Bohnen gönnte.

Noch träumte er in jenen Jahren einen kleinen Traum jenseits von Politik und hehrer Erlösungsideale: ein Haus und ein eigenes Auto, Fußball am Wochenende, Grillpartys mit den Arbeitskollegen. Doch das Schicksal machte diese keimende Privatidylle zunichte: 1971 starb seine schwangere Frau Lourdes an einer Hepatitis-Krankheit, welche die Ärzte zu spät erkannt hatten. Für den Witwer folgte eine Zeit der Depression und des Alkohols, aber auch erster gewerkschaftlicher Betätigungen. Es war der Beginn eines kometenhaften Aufstiegs: 1975 wurde Lula Vorsitzender der Metallurgiegewerkschaft, 1979 gründete er die Partei der Arbeiter, zehn Jahre später war er erstmals Präsidentschaftskandidat. In zweiter Ehe ist er mit Marisa Letícia Casa verheiratet. „Lula hat seiner Umgebung immer vermittelt, dass hinter seinem Engagement nicht persönlicher Machtwille, sondern ein Klassenbewusstsein steht. Das Geheimnis seines Erfolgs liegt in der Mischung aus persönlicher Bescheidenheit und sozialem Ehrgeiz“, sagt Ricardo Kotscho.

Als sich im Jahr 2002 abzeichnete, dass Lula nach drei erfolglosen Versuchen die Präsidentschaftswahlen gewinnen würde, waren angesichts dieser Biografie die Hoffnungen seiner Anhänger ebenso groß wie die Ängste seiner Gegner. Die elftgrößte Volkswirtschaft der Welt in den Händen eines ehemaligen Gewerkschaftsbosses, der IWF und Weltbank jahrzehntelang als Geißel für die Länder der Dritten Welt verurteilt hatte – diese Vorstellung beunruhigte die Finanzmärkte. Am Horizont zeichneten sich Szenarien ab, die bereits das Nachbarland Argentinien ins Chaos gestürzt hatten. Zugleich gab es eine millionenstarke Phalanx aus Landlosen, Armen und Gewerkschaftern, der sich Intellektuelle, Künstler, Umweltschützer und Globalisierungsgegner anschlossen. Für sie war der Mann, der am 1. Jänner 2003 unter „Ole-ola-Lula“-Gesängen in den Regierungspalast einzog, die menschgewordene Verheißung einer besseren Welt. „Ich bin nicht das Ergebnis einer Wahl“, sagte Lula. „Ich bin das Ergebnis der Geschichte.“

Seine ersten Taten ließen die Anhänger noch träumen: Er stoppte den Kauf von zwölf Kampfflugzeugen und erklärte, der einzige Krieg, den Brasilien führe, sei jener gegen den Hunger. Er zwang seine Minister zu einem Gang durch Elendsviertel und besuchte das Weltsozialforum in Porto Alegre. Er schuf das Antihungerprogramm „Fome Zero“, für das der Fußballstar Ronaldo ebenso warb wie das Topmodel Gisèle Bündchen. Bei der Besetzung der Ministerien bewies Lula Mut zum Unkonventionellen: Der Sänger Gilberto Gil wurde Kulturminister, die Ökoaktivistin Marina Silva Umweltministerin.

Das brasilianische Parlamentsgebäude ist eine einzige architektonische Ausschweifung, eine unendliche Abfolge von Sälen, Korridoren und Rolltreppen, ein Labyrinth aus Glas, Marmor und Beton. Der Weg zum Kongressabgeordneten João Fontes führt durch einen tunnelartigen Gang, dessen Wände mit exotischen Pflanzen geschmückt sind und in dem aus Lautsprechern Grillengezirpe und Wasserplätschern ertönt. Fontes, ein glattrasierter Mittvierziger, gehört zur wachsenden Gruppe ehemaliger Lula-Anhänger, welche an die Anfangszeit der neuen Regierung zurückdenken wie an ein Fest, das einem einen Kater beschert und in der Erinnerung jeden Reiz verloren hat. „Lula hat seine Seele den Teufeln verkauft, die er ein Leben lang bekämpft hat. Er ist ein Verräter“, sagt Fontes.

Pragmatiker. Was der linke Parlamentarier als Verrat bezeichnet, ist eine Politik, die vielem widerspricht, was Lula jahrelang gepredigt hat. Denn neben den eher symbolhaften Anfangsgesten verfocht er einen wirtschaftspolitischen Kurs, der ihn zum Hätschelkind der ehemaligen Gegner aus der Finanzwelt werden ließ. Seine Sparpolitik ging in ihrer Radikalität noch über die Forderungen des Internationalen Währungsfonds hinaus, zum Präsidenten der Nationalbank ernannte Lula mit Henrique Meirelles den früheren CEO der Bank Boston. Die Finanzmärkte reagierten mit Kapitalzuflüssen, die Aktienkurse schossen in die Höhe. Im vergangenen Jahr wuchs die brasilianische Wirtschaft um 5,2 Prozent, der Außenhandel erzielte mit fast 34 Milliarden Dollar einen Rekordüberschuss, die Realeinkommen stiegen. Der Chef der Weltbank, James Wolfensohn, nannte Lula „einen der großen Welt-Leader“. João Fontes war über den Applaus dieses Repräsentanten des internationalen Kapitalismus dermaßen erzürnt, dass er im Parlament Videos vorführte, die zeigten, wie ein polternder Lula einst genau jene Politik in Grund und Boden verdammt hatte, die er nun selber betrieb. Rund ein Drittel der verbliebenen Parlamentarier aus Lulas Partei sind gelegentliche oder notorische Linksabweichler. Ihre Stimmen werden lauter, doch noch sprechen sie nicht für die Mehrheit. Nach jüngsten Umfragen sind 60 Prozent der Bevölkerung trotz des Korruptionsskandals mit Lulas Leistung zufrieden.

Das Hauptquartier der Metallurgiegewerkschaft liegt in São Bernardo, einer von Autobahnen durchzogenen Industriestadt bei São Paulo, einer aus Fabriken, Lagerhallen, Shoppingcentern und Wohnblöcken zusammengesetzten Produktionsmaschinerie, die sich ausdehnt bis an den Horizont. Hier hatte Lula als Chef der Metallurgiegewerkschaft seinen Arbeitsplatz, in einem kleinen Gebäude mit niederen Decken und graugrünen Tapeten. Über ihren ehemaligen Kollegen reden die Arbeiter in jenem Ton, den man anschlägt, wenn eine uneingestandene leise Enttäuschung durch rational klingende Argumente verdrängt werden soll: „Wir haben mehr erwartet, aber wir haben auch mehr bekommen, als wenn ein Konservativer gewonnen hätte.“ – „Wir leben nun einmal in einem kapitalistischen System.“ – „Das Buch, das ich am meisten liebe, ist das Kommunistische Manifest. Weil es ein schöner Traum ist.“

Da sich Lula nie einem abstrakten Weltbild verpflichtet fühlte, kann er seine Position ändern, ohne deswegen ein großes Ideal zu verraten. Ein Linker, der eine liberale Wirtschaftspolitik betreibt und kraft seiner Biografie und seines Charismas auf die Geduld der Armen zählen kann – dieses wacklige Gleichgewicht hat die ersten zweieinhalb Jahre von Lulas Regierung geprägt. Es erlaubte ihm, einige mutige Akzente zu setzen, etwa eine Justiz-, eine Steuer- und eine Rentenreform. Es trifft auch nicht zu, dass Lula nichts für die Armen getan hätte – es war einfach weniger, als er versprochen hat. So haben im ersten Jahr 11.000 Familien ein Grundstück erhalten statt wie versprochen 60.000. Und der Mindestlohn wurde nicht verdoppelt, sondern von 200 auf 300 Real angehoben – rund 105 Euro.

Die Zukunft allerdings erscheint eher düster. Denn es ist nicht nur Lulas Charisma, das die Bevölkerung bisher geduldig warten und hoffen ließ, sondern auch das Vertrauen, dass seine Regierung integer genug sei, die Früchte der wirtschaftlichen Austerity-Politik dereinst gerecht zu verteilen. Und genau dieses Vertrauen ist durch die Anschuldigungen von Roberto Jefferson bis in die Grundfesten erschüttert. 76 Prozent der Bevölkerung glauben, dass die Bestechungsvorwürfe zutreffen. „Meine ganze Biografie steht auf dem Spiel“, sagte der Präsident in einer Rede und ging in die Offensive, kündigte Aufklärung an, versprach, notfalls ins Fleisch der eigenen Partei zu schneiden. Kurz darauf musste deren Präsident zurücktreten, gleichzeitig begann Lula mit einer Kabinettsreform. Doch über dem fiebrigen Aktivismus zur Schadensbekämpfung schwebt wie ein böser Geist der Verdacht, selbst die Lichtgestalt Lateinamerikas sei nichts weiter als ein Kazike, der zur Verwirklichung seiner Politik die nötigen Stimmen zusammenkauft. Lulas Mythos wankt. Gefallen ist er noch nicht.

Von Sandro Benini, São Paulo