Britische Vernunft

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Das war schon ein sehr gekonntes Manöver. Jacques Chirac forderte als „solidarische Geste unserer englischen Freunde“ die Aufgabe des Briten-Rabatts. Der französische Präsident wusste die europäische Öffentlichkeit auf seiner Seite: Wer hat nicht das Bild von Maggie Thatcher, der forschen Blondine, vor sich, wie sie einst in Fontainebleau ihr Tascherl schwingt und ruft: „I want my money back!“

Tatsächlich erscheint auf den ersten Blick die Extrawurst, die London seit 1984 braten darf, eine höchst ungerechtfertigte Vergünstigung – vor allem angesichts der finanziellen Enge, in der sich die Staatschefs der EU wähnen.

Dank des Rabatts trägt die Londoner Regierung jährlich rund 4,6 Milliarden Euro weniger zur EU bei, als es der Wirtschaftskraft entspräche. Der Zahlungsnachlass stammt aus einer Zeit, als Großbritannien noch zu den ärmeren Ländern der Gemeinschaft gehörte. Heute ist die britische Ökonomie jedoch die zweitstärkste in der EU.

Plötzlich sieht es so aus, als ob London die EU-Misere zu verantworten hätte. Ein fantastisches Chirac-Ablenkungsmanöver. Wo doch das französische „Non“ zur Verfassung der Auslöser für den europäischen Jammer war.

Chirac hat aber nicht mit Tony Blair gerechnet. Der britische Premier lässt sich so leicht den schwarzen Peter nicht zuschieben. Er konterte. Er ließe schon mit sich reden über den Rabatt, ließ er vernehmen. Dann müssten aber auch die gewaltigen Agrarsubventionen auf die Tagesordnung, die Frankreich bekommt – und die ein Grund waren, warum seinerzeit den Briten ein Zahlungsnachlass zugestanden wurde. Und da hat Blair einen starken Punkt. Nicht nur kann er darauf hinweisen, dass London, trotz Rabatts, wegen der massiven Zuwendungen an die französischen Bauern noch immer netto ein Mehrfaches von dem Betrag an die EU-Kassa abliefert, den Paris einzahlt.

Vor allem auch ein prinzipielleres Blair-Argument ist überaus eingängig: Er attackiert frontal das ganze System der europäischen Agrarpolitik. Die Staats- und Regierungschefs müssten überprüfen, wie das Geld der EU ausgegeben werde, argumentiert Blair. Ist es nicht absurd, fragt er, dass Anfang des 21. Jahrhunderts für die Landwirtschaft „zehnmal mehr als für die Forschung“ ausgegeben wird? So verschlinge ein Bereich, in dem es nur zwei Prozent der Arbeitsplätze gebe, vierzig Prozent der Brüsseler Finanzen.

Gewiss: Die Butterberge und Milchseen gehören dank mehrerer Reformen der Vergangenheit an – auch die Reform, die Agrarkommissar Franz Fischler vor zwei Jahren in Gang setzte, hat einige besonders provokante Verrücktheiten beseitigt –, doch immer noch hat der Subventionswahn der EU-Agrarpolitik System. Die Grundelemente der aus dem Hunger der Nachkriegszeit geborenen geradezu agrarsowjetischen Politik Europas bleiben erhalten.

Leidtragende sind nicht zuletzt die europäischen Konsumenten, welche die EU-Agrarpolitik mit teurem Essen bezahlen müssen. Besonders haarsträubend erscheint aber diese Politik, wenn man ihre Auswirkungen auf die Dritte Welt betrachtet.

Die Beseitigung der Subventionen für die EU-Landwirtschaft würde die Exporte der Entwicklungsländer massiv steigern, der Abbau des europäischen Agrarprotektionismus brächte für die armen Weltregionen weit mehr als alle Entwicklungshilfe. Noch immer gilt, dass eine europäische Kuh pro Tag im Durchschnitt einen Zuschuss von zwei Dollar 50 Cent erhält, während drei Viertel der Bevölkerung in Afrika mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen müssen.
Der jetzige britisch-französische Streit über dieses Thema ist freilich nicht neu, sondern vielmehr die Fortsetzung von „Le Row“ vom Oktober 2002. Da war Blair bei einer Agrardebatte von einer deutsch-französischen Blitzattacke ausmanövriert worden und hielt Chirac einen wütenden Vortrag über die inhumanen Folgen der europäischen Agrarpolitik für die Völker Afrikas. Chirac warf daraufhin erregt dem Briten schlechte Manieren vor: „Niemand hat je so zu mir gesprochen.“

Nun hat Blair wieder so gesprochen. Und Chirac hat allen Grund, abermals erregt zu sein. Sein Manöver, den Briten-Rabatt auf die Tagesordnung zu setzen, wurde zum Bumerang. Der französische „Bauern-Rabatt“ wird nun allerorten infrage gestellt.
Da mag man die Vorstellung der Briten von Europa ablehnen, die tendenziell die EU bloß als Freihandelszone sehen und das Politische an der Union aufs Notwendigste begrenzen wollen – in der Frage der Agrarpolitik muss man jedoch Blair gegen Chirac Recht geben. Da ist die Vernunft auf britischer Seite. Warum sollte, was die Franzosen so vehement abblocken, der Landwirtschaftshaushalt nicht noch einmal aufgeschnürt werden? Warum sollte man nicht endlich darangehen, diese heilige Kuh zu schlachten?

Wie immer der Streit zwischen Paris und London nun ausgehen mag, der Geist, in dem auf allen Seiten um das EU-Budget gerungen wird, ist geradezu erschreckend. Und da macht England keine Ausnahme. Es ist doch so offensichtlich, dass Europa mehr und nicht weniger Geld braucht. Den neuen Mitgliedern muss – in aller Interesse – geholfen werden, sich in Europa zu integrieren und aufzuschließen zu den wohlhabenderen EU-Ländern. Die gerade jetzt entstehende gemeinsame Außenpolitik bedarf materieller Unterfütterung. Und der stagnierenden Ökonomie müssen mit einer offensiven Wirtschaftspolitik, mit Investitionen in Forschung, Entwicklung und Infrastruktur Impulse gegeben werden. All das ist nicht gratis zu haben. In einem sind sich die Regierungen der reichen EU-Staaten einig: weniger Geld für Brüssel.

Die nationalen Egoismen agieren unverhüllt und unverschämt. Das ist die eigentliche Krise der EU.