Die Lebenslüge einer Armee

Bundesheer: Die Lebenslüge einer Armee

Serie. Der Kampf ums Bundesheer: die denkwürdigen Gründerjahre

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Es waren die Tage des Triumphs. Der Staatsvertrag war seit vier Monaten unter Dach und Fach, der letzte alliierte Soldat sollte in wenigen Tagen Österreich verlassen, und die Verhandlungen über das neue Bundesheer liefen auf Hochtouren, als Vizekanzler Adolf Schärf (SPÖ) am Nachmittag des 26. September 1955 mit einer dringenden Frage in das Büro von Bundeskanzler Julius Raab (ÖVP) eilte. Dem SPÖ-Vorsitzenden war Unglaubliches zu Ohren gekommen: Die an der Organisation des neuen Heers beteiligten ÖVP-nahen Militärs hätten sich mit US-Vertretern in Geheimverhandlungen darauf geeinigt, dass sich das österreichische Heer im Fall eines Einmarschs des Warschauer Pakts sofort auf die Linie Saalfelden–Lienz zurückziehen und den Ostteil Österreichs kampflos preisgeben sollte. Der ÖVP-Kanzler zeigte sich erstaunt: Davon wisse er nichts, und er halte das auch für höchst unwahrscheinlich.

Durchaus denkbar, dass Raab tatsächlich nicht wusste, was seine Gewährsleute da verhandelten. „Der Bundeskanzler war zwar im Ersten Weltkrieg Offizier gewesen, stand dem Militär aber mittlerweile ablehnend gegenüber“, schreibt der Militärhistoriker Manfried Rauchensteiner in seiner Geschichte der Großen Koalition. „SPÖ-Chef Schärf und Außenminister Leopold Figl konnten überhaupt zum wenigsten als Militaristen bezeichnet werden, beide waren dem Pazifismus gegenüber aufgeschlossen.“
Das also war die politische Elite des Landes, die das Heer der neuen Republik aus der Taufe hob: drei Antimilitaristen, von denen zwei eine starke pazifistische Ader hatten. Kein Wunder, dass hinter den Kulissen Obristen und Generäle die Fäden zogen, die zum Teil schon im kaiserlichen Heer gedient hatten. Während SPÖ und ÖVP noch hingebungsvoll darüber diskutierten, wie viele Militärgeistliche das neue Heer brauche, ob das Höchstalter der rekrutierten Offiziere 55 oder 58 Jahre betragen und welche Partei wie viele Posten bekommen solle, ergingen sich die Militärs in teilweise absurden Planspielen. Sogar eine Atombewaffnung Österreichs wurde erwogen.

Wehrpolitik kein Thema
Wehrpolitik war kein Thema gewesen in den ersten Jahren dieser Zweiten Republik. Im Dezember 1945 hatte der Alliierte Rat jegliche militärische Aktivität verboten, den Menschen stand nach der Tragödie des Weltkriegs ohnehin nicht der Sinn nach Aufrüstung: „Niemals vergessen!“ war nicht nur der Titel einer von Zehntausenden Wienern besuchten Großausstellung gegen Krieg und Faschismus im Messepalast, sondern der Kitt der unmittelbaren Nachkriegsgesellschaft.
Die Rahmenbedingungen änderten sich, als wenig später der Kalte Krieg ausbrach, die Jahrzehnte andauernde Konfrontation der neuen Großmächte USA und Sowjetunion. Österreich war plötzlich auf vorgeschobenem Posten. Wie schon der legendenumwobene Kaiser Karl der Große im 8. Jahrhundert verstand der Westen den Landstrich um Alpen und Donau nun als „Ostmark“, als Pufferzone gegen die Barbaren.
Ab 1949 rüsteten die USA eine vorerst geheim aufgestellte Truppe mit Waffen aus. Auf österreichischer Seite betrieb Innenminister Oskar Helmer, ein Sozialdemokrat mit leicht antisemitischen Tendenzen, das Projekt. Helmers Bruder und dessen Familie waren in den letzten Kriegstagen von Rotarmisten erschossen worden, der Minister – zweitmächtigster Mann in der SPÖ – war ein glühender Gegner der ­Sowjets.

Anfang der 1950er-Jahre wurde die Geheimtruppe offiziell: Sie hieß jetzt B-Gendarmerie, unterstand Helmer und war ein erstes kleines „Berufsheer“. Ein so kleines allerdings – 1953 umfasste die B-Gendarmerie gerade 4000 Mann –, dass sich die Sowjetunion mit ihren 44.000 in Österreich stationierten Soldaten nicht ernsthaft bedroht fühlte.
Jetzt zeichnete sich auch ab, dass Österreich ein anderes Schicksal zuteilwerden sollte als dem geschlagenen Deutschland: Die alliierten Besatzer würden in absehbarer Zeit das Land verlassen, aber an eine auch formelle Westintegration, wie sie etwa der sozialdemokratische Staatssekretär im Außenministerium, Bruno Kreisky, anstrebte, war danach nicht zu denken. Die ÖVP freundete sich rascher mit dem Gedanken an eine Neutralität an – ohne diese freilich allzu ernst zu nehmen.
Ihr wichtigster Mann in der Gründungsphase des Bundesheers war der ehemalige k. u. k. Generalstabsoffizier Emil Liebitzky (1892–1961), ein glühender Monarchist, der ab 1927 dem christlichsozialen Heeresminister Carl Vaugoin als Adjutant gedient hatte. Vaugoin war mit dem Satz, sein (Berufs-)Bundesheer werde „die Roten Glied für Glied in Stücke schlagen“, in die Geschichte eingegangen. Im Februar 1934 sollte Vaugoins Ankündigung traurige Wirklichkeit werden. In der Zeit des Austrofaschismus war Liebitzky Militärattaché in Rom und knüpfte Kontakte zu Benito Mussolini.

Keine Atomwaffen erlaubt
Nach dem Weltkrieg war er als Leiter der Personalsektion ins Finanzministerium eingetreten – nun, zu Jahresbeginn 1955, griff die ÖVP auf sein militärisches Know-how zurück. Bundeskanzler Julius Raab betraute ihn, trotz des Argwohns der sozialistischen Koalitionspartner, mit den Vorbereitungsarbeiten für das neue Bundesheer.
Liebitzky war aus anderem Holz geschnitzt als die Antimilitaristen in der ­Politik. Er und seine Gewährsmänner – durchwegs ehemalige Offiziere – wollten ein starkes, bis an die Zähne bewaffnetes Heer. Im Vorfeld der entscheidenden Staatsvertragsverhandlungen rieten Liebitzky und seine Leute der Regierungsspitze dringend, alle militärischen Beschränkungen aus dem Vertragsentwurf wegzuverhandeln. Selbst das Atomwaffenverbot sollte fallen. Überraschenderweise erklärten sich die Sowjets in vielen Punkten einverstanden, nachdem die Österreicher listig erklärt hatten, ein starkes Bundesheer sei schließlich auch ein Bollwerk gegen Übergriffe etwaiger westlicher Revanchisten. In einem Punkt gab Moskau nicht nach: Atomwaffen blieben Österreich im Artikel 13 des Staatsvertrags ebenso verwehrt wie Giftgas und weit reichende Geschütze. Auch Unterseeboote und Seeminen wurden dem neuen Heer übervorsichtig verboten.
Die Amerikaner mussten von der Notwendigkeit einer üppigen Bewaffnung des Bundesheers nicht erst überzeugt werden. Schon am Vorabend der feierlichen Unterzeichnung des Staatsvertrags sagte der nach Wien gereiste US-Außenminister John Foster Dulles dem Bundesheer Ausrüstung im Wert von 20 Millionen Dollar (nach heutiger Kaufkraft 250 Millionen Euro) für 1955 zu und ein ebenso hohes Deputat für die Folgejahre.

Dass die Vereinigten Staaten dafür gewisse Gegenleistungen erwarteten, zeigte sich schon 48 Stunden später. Am 16. Mai 1955, als im Belvedere noch die Spucke aus den Fanfaren geklopft wurde, sprach der Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Österreich, General William Arnold, bei Bundeskanzler Raab und Vizekanzler Schärf vor und deponierte die Wünsche seiner Regierung: Die von der SPÖ ins Auge gefasste Dienstzeit von sechs Monaten sei nicht ausreichend, um den zur Abwehr östlicher Invasoren notwendigen Ausbildungsstand der Soldaten zu erreichen, in der NATO betrage die Wehrdienstzeit im Durchschnitt schließlich eineinhalb Jahre. Noch viel wichtiger war dem US-General aber etwas anderes, wie SPÖ-Vizekanzler Adolf Schärf in seinem Tagebuch festhielt: „Danach kommt Arnold auf die Durchzugsrechte für militärische Zwecke zu sprechen: Österreich möge neutral sein, aber die Amerikaner wollen trotzdem bitten, versiegelte Fracht und Personenzüge sowie Flugzeuge durch Österreich durchzulassen. Er hoffe, dass die österreichische Regierung solche Ersuchen wohlwollend behandeln werde.“
Truppentransporte durch das nunmehr neutrale Österreich? Das widersprach ­fundamental dem erst tags zuvor unterzeichneten Staatsvertrag, war aber für das westliche Verteidigungsbündnis NATO von entscheidender Bedeutung. Denn wie ein Riegel schiebt sich Westösterreich zwischen die NATO-Staaten Deutschland und Italien. Da auch die Schweiz neutral ist, waren Truppentransporte von Bayern nach Oberitalien theoretisch nur mehr über Frankreich möglich – eine für die NATO-Strategen inakzeptable Situation.

Heer eingefärbt
Bundeskanzler Raab spielte auf Zeit. „Heute kann ich noch nicht etwas Definitives sagen“, bat er den US-General um eine Frist. Arnold reagierte verärgert, wie Schärf in seinem Tagebuch festhielt: „Er beschwert sich über die Langsamkeit der militärischen Planung Österreichs: Es hat eine ungünstige Auswirkung auf die Vereinigten Staaten.“ Als kleines Zuckerl hinterließ der General weitere 7,5 Millionen Dollar an Militärhilfe, nach heutiger Kaufkraft immerhin 100 Millionen Euro.
Während die politische Führung mit den Begehrlichkeiten der US-Vertreter beschäftigt war, färbte Raabs Vertrauensmann Liebitzky das entstehende Heer tiefschwarz ein. Als die SPÖ Anfang Oktober 1955 herausfand, wie monocolor die engagierten Offiziere, Unteroffiziere und Kader waren, gab es in der Regierung Krach. Bei den vorangegangenen Nationalratswahlen 1953 waren die Sozialisten stimmenstärkste Partei geworden, nur ein die ÖVP begünstigendes Wahlrecht sicherte den Schwarzen die Mandatsmehrheit und damit die Kanzlerschaft. Ihnen jetzt auch noch die neue Armee zu überlassen – das ging den SPÖ-Granden zu weit. Ultimativ forderten sie ein rotes Beiwagerl für Bundesheer-Bastler Liebitzky. Innenminister Oskar Helmer empfahl seiner Partei für diese Rolle den in seinem Ministerium für die B-Gendarmiere zuständigen Polizeiobersten Ferdinand Linhart. Dieser sollte darauf achten, dass die von Liebitzky allzu üppig geplante Bewaffnung und personelle Ausstattung des Heers in Grenzen gehalten würden. Und natürlich sollte er mehr Rote an Schlüsselstellen platzieren.

Nun war Linhart schon alles gewesen – Offizier in der Armee des Kaisers, des Ständestaats und in der Wehrmacht –, ein Sozialdemokrat war er nie. Wenige Wochen nach seiner Bestellung legte er der SPÖ-Spitze eine erste Liste des von ihm angeheuerten Personals vor. Diese fiel aus allen Wolken: Von 35 Rekrutierten kamen nur drei aus den roten Reihen. Als Parteichef Schärf heftig wurde, drehte sich Linhart um und stürmte aus dem Raum. In den folgenden Wochen mobilisierte er sozialistische Offiziere gegen den Plan Schärfs, die Zahl der „Lamettaträger“, also der Generäle, möglichst gering zu halten.

Später wurde bekannt, dass Liebitzky seinem Stellvertreter die Beförderung zum General versprochen habe, wenn dieser nur recht brav pariere. So kam es dann auch: Ferdinand Linhart ging 1961 als Generalmajor in Pension.

Die Bedeutungslosigkeit der SPÖ im Bundesheer war besiegelt, als Julius Raab durchsetzte, dass es kein eigenes Verteidigungsministerium geben solle, sondern die Verteidigungsagenden von einer Sektion im Bundeskanzleramt wahrgenommen zu werden hatten. Deren erster Leiter: Emil Liebitzky.
Aber selbst mit Nahestehenden hatte die SPÖ Probleme. Der greise Bundespräsident Theodor Körner wollte sich mit der ihm zugedachten Rolle eines nur formellen Oberbefehlshabers des Bundesheers nicht abfinden. Der inzwischen 82-Jährige hatte im Ersten Weltkrieg als General die kaiserlichen Truppen an der Isonzofront befehligt – nun bestand er darauf, alle Offiziersernennungen persönlich vorzunehmen. Die ÖVP kosteten Körners Ansprüche bloß ein müdes Lächeln.
Auch innerparteilich regte sich in der SPÖ Widerstand: Um den Kärntner Arbeiterkammerpräsidenten Paul Truppe sammelten sich Sozialisten gegen die Aufstellung eines neuen Heers. Truppe wurde in der Folge aus der SPÖ ausgeschlossen. Die Parteijugend war etwas folgsamer: Sie kritisierte lediglich, dass der Wehrdienst nun doch nicht sechs, sondern auf Drängen der ÖVP (und der USA) neun Monate dauern sollte. Auf dem Parteitag rügte der freche Studentenfunktionär Karl Blecha: „Wenn schon nicht über das ,Ob‘, wenigstens über das ,Wie‘ hätte man mit uns diskutieren sollen.“
Am 26. Oktober verabschiedete der Nationalrat das Gesetz über die „Immerwährende Neutralität“ Österreichs, ein Akt, dem bis heute der Nationalfeiertag samt Heeresparade gewidmet ist.
Dabei nahm die Staatsspitze die Neu­tralität schon eine Woche nach deren Beschluss im Parlament nicht gar so bitterernst. Am 3. November 1955 machten Außenminister Leopold Figl und ÖVP-Generalsekretär Alfred Maleta dem in Wien weilenden christdemokratischen Verteidigungsminister Italiens, Paolo Taviani, klar, dass Österreichs Heer viel mehr Geld brauche, um „kommunistische Subversionsversuche“ zu bekämpfen. Taviani möge das doch bitte seinen amerikanischen ­NATO-Freunden übermitteln – was dieser umgehend tat.

Keine Verteidigung Ostösterreichs
Den unerhörtesten Akt in diesem von Tarnen und Täuschen geprägten Spiel setzte im Dezember 1955 aber Quasi-Verteidigungsminister Liebitzky, wie der Zeithistoriker Oliver Rathkolb 1997 in seiner Habilitationsschrift enthüllte. Wohl mit Wissen von Bundeskanzler Raab und nach Vorinformation der US-Botschaft in Wien reiste Liebitzky nach Rom und übergab der italienischen Militärführung einen Plan mit der Bitte um dessen Weiterleitung an das NATO-Hauptquartier. Demnach würde sich das österreichische Bundesheer nach einem Einfall des Warschauer Pakts sofort Richtung Westen auf die Linie Stadt Salzburg, Gmunden, Eisenerz, Leoben, Wolfsberg zurückziehen. Eine Verteidigung Ostösterreichs, inklusive Wien, Graz und Linz, war nicht geplant. Es war die Weiterentwicklung jener Variante, auf die Schärf Bundeskanzler Raab schon im September angesprochen hatte.

Der NATO gefiel dieses Konzept, weil damit die zwei größten mit Österreichs Neutralität verbundenen Probleme beseitigt waren: Die Nordgrenze des NATO-Staats Italien war wenigstens für eine Weile gesichert, und die Verbindung zwischen Deutschland und Italien wurde durch die von den Österreichern gehaltene Alpenfestung abgeschirmt.
Nur ein Anliegen hatte Liebitzky: Die SPÖ dürfe von diesen Plänen auf keinen Fall Wind bekommen.
Im Frühjahr 1956 wurde die ÖVP bei den vorgezogenen Nationalratswahlen nun auch wieder stimmenstärkste Partei. Die Landesverteidigung wurde in ein eigenes Ministerium ausgelagert, zum Minister der vormalige Staatssekretär im Innenministerium, Ferdinand Graf (ÖVP), berufen, ein gelernter Elektrotechniker aus Kärnten. An der sehr freizügigen Auslegung des Staatsvertrags änderte das ­wenig: Bei einem Besuch in Washington verlangte Graf allerlei Spielzeug, das im Vertrag verboten worden war – bis hin zu weit reichenden Raketensystemen. Der Wunschliste fügte das Verteidigungsministerium ein Memorandum bei, in dem es hieß: „Die österreichischen Länder waren Jahrhunderte hindurch Vorposten abendländischer Kultur gegenüber dem Ansturm der asiatischen Heidenvölker aus dem Osten.“
Die Amerikaner schickten daraufhin zwar keine Raketen, aber eine komplette elektronische Lauschstation, die auf der Königswarte, einem Hügel bei Hainburg, aufgebaut wurde. Bis zum Ende des Ostblocks belauschte der österreichische Heeresnachrichtendienst von dort aus den Funkverkehr in Osteuropa. Die Bänder gingen umgehend an die in Frankfurt dar­auf wartenden US-Kollegen.

+++ Ex-Kanzler Franz Vranitzky über seine Zeit beim Bundesheer und die Notwendigkeit einer Erneuerung +++