Charlie Chaplin war ein Virtuose des Slapstick

Charles Chaplin entwarf das US-Kino neu und blieb dennoch zeitlebens ein Alien

Sein Gesamtwerk wird im Filmmuseum gezeigt

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Im Februar 1914 tritt ein 24-Jähriger in die Kostümkammer der Filmgesellschaft Keystone und stellt dort eine neue Verkleidung zusammen. Er klebt sich ein winziges Bärtchen unter die Nase, nimmt eine viel zu große Hose und eine sehr kleine Melone vom Regal, greift nach einem Paar übergroßer Schuhe sowie einem Spazierstöckchen und legt ein enges, zerschlissenes Jäckchen an. Es soll lustig aussehen, aber auch armselig, denn er weiß, dass Sentimentalität zu den Clownerien, für die er schon berühmt ist, gut passt. Charles Chaplin arbeitet zu dieser Zeit erst seit ein paar Wochen beim Film. Ganz glücklich ist er nicht. Er fragt sich, ob es nicht ein Fehler war, von den Bühnen der europäischen und amerikanischen Vaudeville-Theater in die Keystone-Studios zu wechseln. Im Kino kennt ihn niemand, und die kurzen Grotesken, die er seit Jänner wie am Fließband drehen muss, hält er für unergiebig.

Also ergreift er die Initiative – und beginnt, an seinem Bild zu arbeiten. Er wählt eine Figur, wie sie auch in den Music Halls, die er davor fast zehn Jahre lang mit seinen Kunststückchen und Pantomimen bespielt hat, populär war: den Tramp, den einsamen Streuner. Als Chaplin sein neues Kostüm im Spiegel begutachtet, kann er nicht ahnen, dass er gerade die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts umschreibt: ein kleiner Schritt für den Angestellten einer Slapstick-Firma, aber ein großer Schritt für die Menschheit. Seither ist das Kino um eine Ikone reicher, es hat sich jäh in Bewegung gesetzt vom Primitivismus seiner frühen Zeit zur mittleren Reife. Im Österreichischen Filmmuseum kann man ab sofort das zwischen 1914 und 1967 entstandene Gesamtwerk des Komödianten und Regisseurs Charles Spencer Chaplin bewundern.

Wenn man das vergangene Jahrhundert auf eine Hand voll Bilder reduzieren müsste, so wäre die krisenfeste Gestalt des kleinen Vagabunden, wie ihn Chaplin erfunden hat, zweifellos dabei, gleich neben den ­Beatles, der Mondlandung, Elvis Presley und Adolf Hitler. Die Art der Popularität, die Charlie Chaplin schon im frühen 20. Jahrhundert weltweit genoss, setzt weder Wissen noch Interesse voraus: Jeder kennt Chaplin. An dieser Figur führt kein Weg vorbei. Über ein halbes Jahrhundert lang drehte Chaplin Filme, und er beschäftigte damit Legionen von Kinokritikern, -historikern und -philosophen. Die Liste jener Denker, die sich über das Phänomen Chaplin den Kopf zerbrochen haben, reicht von Siegfried Kracauer und Franz Kafka über Theodor Adorno bis hin zu Gilles Deleuze.

Und es ist ein untrügliches Zeichen jener langfristigen Bedeutung, die dem hochbegabten Clown zukommen sollte, dass sich schon die junge Filmtheorie mit Chaplin befasste: Bereits 1917 untersuchte der Harvard-Professor Hugo Münsterberg das Chaplin-Kino. Bis in die Avantgarde reichte wenig später die Strahlkraft des jungen Pantomimen schon: Fernand Léger zerlegte in seinem berühmten (und einzigen) Film „Ballet mécanique“ (1924) das Chaplin’sche Bild in seine so zeichenhaften Bestandteile (siehe Kasten oben).

Vorgezeichnet war diese unglaubliche Karriere keineswegs. Der 1889 in London geborene Charles Chaplin durchlebte eine turbulente, nicht durchwegs glückliche Kindheit. Mit den Versprechungen und Abgründen des Showgeschäfts kam er früh in Berührung, weil seine Eltern – in getrennten Karrieren – in britischen Variétés und Music Halls arbeiteten. Sie unterhielten ihr Publikum, indem sie die Schlager der Zeit sangen, mit denen vor allem Chaplins Vater Achtungserfolge verbuchte. Sein Privatleben hatte er jedoch weniger gut im Griff: Charles Chaplin senior verließ wenige Jahre nach der Geburt seines Sohns die Familie und ging 1901, erst 37-jährig, am Alkohol zugrunde. Seine Frau wurde zwei Jahre später für „geisteskrank“ erklärt und in eine Nervenheilanstalt überwiesen. Der kleine Charlie, der schon als Fünfjähriger, ähnlich wie Buster Keaton, als Einspringer für seine Eltern auf der Bühne gestanden hatte, machte im Sommer 1903 mit seiner Theaterkarriere erstmals Ernst.

Eine eigenwillige Mischung aus Pathos und Zynismus begann seine Bühnenauftritte zu dominieren, als er im Herbst 1910 seine erste Amerika-Tournee mit dem Music-Hall-Impresario Fred Karno antrat. Als Komiker wurde Chaplin immer besser; die harte Schule des Variétés kam nicht nur ihm zugute, auch Zeitgenossen wie Stan Laurel oder W. C. Fields lernten ihr Gewerbe, ehe sie ins Kino wechselten, im Vaudeville. Es war nur eine Frage der Zeit, ehe man Chaplin dort entdeckte. Sein Weg führte von Karno zu Keystone: Er unterschrieb den ersten Hollywood-Vertrag, der sein Wochengehalt auf 150 Dollar aufbesserte, und trat ab 1914, im Dienste des Keystone-Kinounternehmens, das Mack Sennett leitete, in Filmen auf, die zunächst nicht mehr als Routine waren.

Aber Chaplin war ambitioniert: Unzufrieden mit der lustlosen Inszenierung seiner ersten zehn Filme, übernahm Chaplin noch im April 1914 selbst die Regie. Der Welterfolg, zu dem er es wenig später brachte, hatte auch mit dem Krieg zu tun: Die wilden Farcen, die er drehte, gingen direkt in die Frontkinos, wo sie die Moral der Soldaten stützen sollten. So gerieten die Amerikaner, die Franzosen und die Briten in eine Art Chaplin-Fieber. Sein Aufstieg war steiler, als sich selbst der egozentrische Chaplin das ausgemalt hatte. Jeder seiner frühen ­Filme, schreibt der Filmhistoriker Jerzy ­Toeplitz, sei damals von rund 300 Millionen Zuschauern weltweit gesehen worden. Chaplin nutzte seine Popularität nicht nur dazu, Gagen in schwindelerregender Höhe zu verhandeln, er verschaffte sich auch vollkommene künstlerische Autonomie: Endlich konnte er so arbeiten, wie es sein Perfektionismus verlangte. Das Drehen am laufenden Band stellte er sofort ab; er begann, sich Zeit zu lassen beim Filmemachen, inszenierte aufwändige Szenen nur auf Verdacht und verwarf viele davon, wenn sie nicht ganz so funktionierten, wie er das wollte, nach wochenlanger Arbeit wieder.

Slapstick-Superstar. Man kann ermessen, wie sehr Chaplin im Laufe weniger Jahre seine Arbeitsweisen geändert hatte, wenn man weiß, dass er in den ersten fünf Jahren seiner Karriere 66 Filme herstellte – und in den fünf folgenden Jahrzehnten nur noch 15. Ab 1918 produzierte Chaplin alle seine Filme selbst, 1919 gründete er, um auch noch den Vertrieb zu kontrollieren, mit dem Regisseur D. W. Griffith und den Filmstars Douglas Fairbanks und Mary Pickford das Studio United Artists. 1923 drehte er dort, nach fast einem Jahrzehnt Komödienarbeit, seinen ersten dramatischen Film, „A Woman of Paris“.

Chaplins Stil zielte von Anfang an auf Universalismus: Siegfried Kracauer nannte 1931 den Film „City Lights“ in der „Neuen Rundschau“ eine „Sammlung von Pantomimen“, die sich „Kindern und Erwachsenen aller Völker verständlich“ mache. An anderer Stelle fragte er rhetorisch, „in welchen Ländern Chaplin nicht zu Hause“ sei mit seinen „Groteskfilmen“.

An den Tonfilm glaubte Chaplin sehr entschieden nicht, schon weil die gesprochene Sprache die Weltsprache seiner Kinobilder zu verdrängen drohte. Länger als jeder andere Regiestar der stummen Kino-Ära verweigerte er die so genannten „Talkies“, erst 1936 wagte er sich mit „Modern Times“ halbherzig an (wenige) gesprochene Passagen. Seine Form war die physische Performance, die Pantomime, die Darstellung körperlicher Unmöglichkeiten: In „The Gold Rush“ (1925) etwa verspeiste er seinen (aus Lakritze und Marzipan gefertigten) Stiefel.

Als Filmemacher und Slapstick-Superstar war Charlie Chaplin bis in die dreißiger Jahre das unumstrittene Zentrum der Comedy-Industrie in Hollywood. Nichts schränkte seine Massentauglichkeit ein, er war nicht konzeptuell wie Keaton und nicht anarchisch wie Fatty Arbuckle oder Laurel & Hardy und lange nicht so urban wie die Marx Brothers, deshalb war er beliebter, gefühliger und instinktsicherer als sie alle zusammen. Er wurde sogar mit einem gewissen Geschick imitiert: Ein Komiker namens Billy West trat in seiner Aufmachung auf, konnte aber nie auch nur einen Bruchteil der Aufmerksamkeit Chaplins erregen.

1938 machte sich Chaplin an sein riskantestes Projekt: Als Adolf Hitler (und als dessen Nemesis) trat er in „The Great Dictator“ in Szene. Hitler und Chaplin, das war High Concept, lange bevor es diesen Begriff überhaupt gab; die Paarung passte perfekt, denn auch Chaplin wusste, wie man die verzweifelten, verarmten Massen erreichte, wie man sie über das Gefühl zu fassen kriegen konnte – er mit der Kunst und der Liebe, sein pathologischer Doppelgänger mit dem Krieg, dem Hass und dem Mord. So war es nur fol­gerichtig, dass Chaplin dem deutschen Diktator noch zu dessen Lebzeiten, 1940, eine Polemik vor den Bug knallte, eine in verballhornter Nonsensdiktion gehaltene Hitler-Persiflage, in der es vor „Leberwurst“ und „Sauerkraut“ nur so rauschte: „Demokratie Schtonk! Liberty Schtonk! Free Sprecken Schtonk!“, brüllt Chaplins Adenoid Hynkel den Menschenmengen entgegen. Nebenbei markierte der Film, nach 26 Jahren Filmgeschichte, das Ende des Tramp.

Gefühlsmensch. In Amerika stieß er mit diesem Film auf erheblichen Widerstand bei Menschen, die meinten, man dürfe Politik und Entertainment nicht mischen. Wenig später begann die Zeit der Hetze gegen Chaplin: In Leitartikeln warf man ihm seine Scheidungsprozesse und seinen Mangel an Patriotismus vor, und Chaplins alte Sympathie für den sowjetischen Kommunismus hatte man ihm sowieso nie verziehen. Er trat öffentlich gegen Kapitalismus, Militarismus und Bigotterie auf – und machte sich damit an vielen Fronten Feinde. 1952 verließ Charles Chaplin, nachdem er mit „Limelight“ noch einmal seinem ersten Medium, dem Vaudeville, gehuldigt hatte, die Vereinigten Staaten, wo man ihn nicht zuletzt als Steuerhinterzieher verunglimpft hatte. Er wählte, gemeinsam mit seiner jungen Frau Oona O’Neill, die Schweiz als seine zweite und letzte Wahlheimat, wo er 1977 starb.

Die Zeitlosigkeit, die Chaplins spezieller Form der Komödie tatsächlich bis heute anhaftet, war seinerzeit nicht abzusehen. Wie eine Figur aus dem Lustspieltheater tauchte er im Kino auf, ein Meisterpantomime, hochstilisiert in seinen flink-linkischen Bewegungen und seinem Tramp-Kostüm. Er war der sprichwörtliche „kleine Mann“ als Gefühlsmensch und Romantiker, ein Unterdrückter, der die Unterdrücker stets bauernschlau auszuschalten wusste, aber auch ein Sentimentalist, der eher dem 19. als dem 20. Jahrhundert verpflichtet schien. Sein Slapstick-Theater ist von Choreografien bestimmt: „Alles, was ich mache, ist Tanz“, hat er selbst in seinen späten Jahren noch gesagt. Wie ein Balletttänzer trat er gegen all die brutalen Kerle an, die einem wie ihm kein Existenzrecht zugestehen wollen. Im Kino erschien er wie ein Fremdling, der ganz aus den Farben Schwarz und Weiß gemacht schien, dem Medium also absolut angemessen war – als eine Art Alien, das durch einen absurden Zufall in die amerikanische Gegenwart gefallen war. Das Bühnenhafte schlug in all seinen Filmen durch, Montage-Experimente mochte er nicht: Chaplin sah das Kino als Konserve seiner Artistik – und dazu musste man, so meinte er, den ganzen Körper ins Bild setzen. Aber in Kleinigkeiten machte sich Chaplins Innovationsgeist schnell bemerkbar: Er liebte es etwa, den Blick in die Kamera zu richten, direkt Kontakt mit dem Kinogänger aufzunehmen.

Seine fingierte Ungeschicklichkeit war jene des Ahnungslosen, der die Funktionszusammenhänge der modernen Welt nicht ganz begreifen konnte. Dabei besaß er die Eleganz eines Tänzers auf fremdem Gelände. Als Außenseiter in allen Lebenslagen lebte sein Leinwand-Alter-Ego am Leben stets knapp vorbei, deshalb war es zum Alleinsein verurteilt. Die Einzigen, die im Kino an ihm hängen, sind selbst Vereinsamte: Hunde und Kinder, siehe „A Dog’s Life“ (1918) und „The Kid“ (1920). Viele der frühen Chaplin-Filme enden mit dem Abgang des einsamen Tramp in die weite Welt, während sich die Irisblende um ihn schließt wie ein Schlinge.

Retrospektive Charles Chaplin: Österreichisches Filmmuseum, bis 7.1.2010.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.