Chemotherapie: Im Krebs-Gang

Nun droht Finanzkollaps durch teurere Präparate

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Wenn es der Münchener Epidemiologe Dieter Hölzel, 62, darauf angelegt hatte, die Zunft der Krebsmediziner aufs Äußerste zu provozieren, so hätte er dafür keine passenderen Reizwörter finden können: Sie trieben zwar einen enormen Aufwand für Medikamente, Chemo- oder Strahlentherapie, und das bei Preisen, die das Gesundheitssystem an den Rand des Ruins treiben würden, kritisierte der Professor. Nur: Erreicht werde damit aber reichlich wenig. Patienten mit Krebs im fortgeschrittenen Stadium würden heute nicht länger leben als vor 25 Jahren, im Gegenteil: „Ich befürchte, dass die systematische Ausweitung der Chemotherapie gerade bei Brustkrebs für den Rückgang der Überlebensraten verantwortlich sein könnte.“

„Giftkur ohne Nutzen“ betitelte der „Spiegel“ in der Vorwoche diese harsche Systemkritik und löste damit auch unter Österreichs Medizinern heftige Reaktionen aus. „Das ist die Sichtweise eines Statistikers, der von der Realität in den Kliniken keine Ahnung hat“, schimpft etwa Heinz Ludwig, Krebsspezialist am Wiener Wilhelminenspital.

Auch Hellmut Samonigg, Chefonkologe der Medizinischen Universitätsklinik Graz, zeigt für Hölzels Offensive wenig Verständnis: „Er schmeißt bei seinen Daten Äpfel und Birnen zusammen. Aber er kann gerne mal kommen und einer frisch operierten Patientin, die kurz vor der Chemotherapie steht, seine Ansichten nahe bringen. Das ist ja wirklich wenig hilfreich, was da von ihm kommt.“

Dieter Hölzel ist derart heftige Reaktionen gewohnt. Und er weiß, dass er mit seinen Angriffen in ein Wespennest sticht. „In diesem existenziellen Bereich, wo es um Leben und Tod geht, ist man rasch der Unruhestifter, wenn man Regulierungen fordert. Aber es ist die Pflicht – auch der Krebsmedizin – über ihre wirklichen Leistungen Rechenschaft abzulegen“, findet Hölzel. Er habe einfach die Nase voll von dieser Überheblichkeit, wo sich die Experten gegenseitig auf die Schulter klopfen und sich zu ihren tollen Leistungen gratulieren, weil wieder eine hochspezielle Studie fertig ist. Draußen in den Kliniken, bei den ganz normalen Patienten, finde der Alltag statt, mahnt er. Doch sobald die ersten Metastasen in der Krankenakte notiert werden, habe der medizinische Fortschritt laut Daten des Münchener Krebsregisters rasch ein Ende. „Und ich glaube nicht, dass das daran liegt, dass die bayrischen Ärzte so viel weniger von ihrem Handwerk verstehen als die Österreicher.“

Überlebenschancen. Die großen Killertumoren Darm-, Lungen-, Brust- und Prostatakrebs sind für etwa die Hälfte aller Krebstodesfälle verantwortlich. Während die Sterblichkeit bei Darmkrebs bei beiden Geschlechtern auf hohem Niveau stagniert, steigt sie beim Prostatakrebs der Männer und beim Lungenkrebs der Frauen rasant an. Hölzel fügte dieser Grobstatistik nun noch Details hinzu, die er aus der genauen Analyse tausender Krebsfälle gewonnen hat. Im Münchener Tumorregister steht nämlich nicht nur der isolierte Todesfall. Auch der Zeitpunkt der Erstdiagnose, ein eventuelles Wiederauftreten des Tumors und die Metastasierung sind dort penibel verzeichnet.

Daraus errechnete der Epidemiologe, dass sich in Bayern die Überlebenszeiten bei fortgeschrittenem Brustkrebs in den vergangenen 25 Jahren sogar verringert haben. Überlebte früher die Hälfte der Patientinnen länger als 24 Monate, so liegt diese „Halbwertszeit“ nun bei nur noch 22 Monaten. Ähnlich schlecht steht es beim Prostatakrebs, wo der Wert von 19 auf 18 Monate zurückging. Lediglich beim Darmkrebs (zwölf auf 14 Monate) und beim Speedkiller Lungenkrebs (früher war nach fünf Monaten die Hälfte der Patienten tot, jetzt erst nach sechs Monaten) geht der Trend ein wenig in die Gegenrichtung.

„Diese Zahlen sprechen den Deutschen ein besonders schlechtes Zeugnis aus“, urteilt Christoph Zielinski, Krebsmediziner am Wiener AKH, „die österreichischen Daten sind völlig konträr.“ Zielinski schwärmt von der vorbildlichen Zusammenarbeit der verschiedenen Krebsdisziplinen, von der hohen Forschungsdichte, dem Zugang zu modernsten Medikamenten für die in Studien eingebundenen Patienten und die ständige Qualitätskontrolle auf höchstem Niveau. Bei der Frage nach konkreten Belegen für seine positive Sicht der Dinge verweist er auf „sehr ausführliche Daten“ des Epidemiologen Christian Vutuc.

Schlechte Daten. Der hingegen kommt ein wenig ins Stocken, als er von der geradezu euphorischen Schilderung der hiesigen Verhältnisse erfährt. „Das Problem ist nur, dass wir relativ schlechtes Zahlenmaterial von den Patientenakten haben. Damit brauchen wir bei den angesehenen Medizinjournalen gar nicht vorstellig werden. Das genügt nicht den internationalen Standards.“ Nur bei Brustkrebs reichten die Fallzahlen, und die Patientendokumentation entsprach den Qualitätskriterien. Doch die Ergebnisse dieser 2002 publizierten Studie ähneln verdächtig jenen der Münchener. Zwar sank die Sterberate im Vergleich zum Ende der achtziger Jahre um insgesamt 3,3 Prozent, dies ist jedoch vor allem auf starke Verbesserungen bei den lokal begrenzten, gut behandelbaren Tumoren ohne Lymphknotenbefall zurückzuführen. Sobald Metastasen auftreten, kehrt sich der Trend hingegen auch in Österreich um. „Bei Frauen im Alter unter 50 Jahren hat im Vergleichszeitraum die Überlebenswahrscheinlichkeit sogar um 17 Prozent abgenommen“, konstatiert der Wiener Epidemiologe.

Lungenkrebs. Beunruhigende Ergebnisse liefert auch der Sozialmediziner Ernest Groman in einer Studie zum durchschnittlichen Sterbealter von österreichischen Lungenkrebspatienten. Während die betroffenen Männer in den siebziger Jahren noch ein Durchschnittsalter von 69 Jahren erreichten, sank der Vergleichswert in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre auf 68 Jahre ab. Und das, obwohl die allgemeine Lebenserwartung in dieser Zeitspanne um sechs Jahre gestiegen ist. Die Ursache für diese Verschlechterung ist nicht so klar zu orten. „Das kann ein Problem mit der Therapie sein“, sagt Groman, „das kann aber auch daran liegen, dass die Leute jetzt viel mehr rauchen. Oder dass sie die Light-Zigaretten stärker inhalieren.“ Genauere Aussagen sind aufgrund der schlechten Datenlage nicht möglich. Auch Groman weiß weder, wie lange die Patienten krank waren, noch, an welchem Tumortyp sie gelitten hatten. Deshalb kann er nur höchst allgemeine Hinweise geben: „Wir wissen, dass heute bei den jungen Leuten die Frauen schon mehr rauchen als die Männer. Und dass ein Patient mit Lungenkrebs im Schnitt eine Raucherkarriere von 40 Jahren hinter sich hat.“

Gültige Aussagen zur Therapie und hochwertige Kontrollstudien sind bei der extrem schlechten Datenlage jedoch nicht möglich. Einzig das Tiroler Krebsregister genießt einen halbwegs guten Ruf, die Fallzahlen aus Innsbruck reichen jedoch – speziell bei selteneren Tumoren – nicht aus, um daraus gültige Schlüsse zu ziehen. „Die Datenerhebung ist wirklich ein enormes Problem“, sagt Groman. „Der Widerwillen der Ärzte ist beträchtlich.“

„Kein Wunder“, assistiert Heinz Ludwig, „denn wir ersticken im Papierkrieg. Zwei von acht Arbeitsstunden wenden wir nur dafür auf, irgendwelche Zettel auszufüllen. Die Kollegen fühlen sich regelrecht missbraucht mit dem Verrechnungskram.“ Da bleibt naturgemäß auch die Motivation für eine standardisierte Patientendokumentation auf der Strecke. Sie ist aber die Grundvoraussetzung für eine funktionierende Qualitätskontrolle. Wenn aber damit den Medizinmathematikern erst die Munition geliefert wird, die Arbeit der Kliniker wie im Fall der Münchener Offensive hart zu kritisieren, so erhöht dies die Begeisterung der Ärzte erst recht nicht.

Insbesondere weil es auch eine ganze Reihe von Erfolgen der Krebsmedizin vorzuweisen gäbe. Bei Blutkrebsen, Lymphomen und bei Hodenkrebs beispielsweise lassen sich heute sensationelle Heilungsraten belegen, die noch bis vor wenigen Jahren undenkbar schienen. Dasselbe gilt für die unterstützende Verabreichung der Chemotherapie, meist im Anschluss an die chirurgische Entfernung des Tumors. Damit wird mit hoher Wahrscheinlichkeit das Auftreten von Metastasen gleich im Ansatz verhindert.

Revolution. Sobald allerdings Metastasen auftreten, verschiebt sich die Priorität – weg von der rein quantitativen Überlebenszeit, hin zu einer qualitativen Überlebenszeit. „Denn bei den meisten soliden Tumoren in diesem Stadium wird der Krebs zu einer chronischen Krankheit“, sagt der Grazer Onkologe Samonigg. „Wer anderes erzählt, redet Blödsinn.“

Gerade hier hat sich allerdings in den letzten Jahren die wahre Revolution in der Krebstherapie abgespielt. Elendes Siechtum am Infusionstropf mit Glatze und Speisack gehört glücklicherweise längst der Vergangenheit an. Die modernen Chemotherapeutika und auch die Begleitmedikamente erlauben es heute vielen Patienten, ein weit gehend normales Leben zu führen. Und je nach Tumorart stehen noch viele Lebensjahre bei guter Qualität bevor. „Wir haben Patienten, denen würden sie nichts anmerken. Die stehen voll im Leben, dabei haben sie das ganze Rückgrat voll mit Metastasen.“ Und darum, so Samonigg, gehe es in der modernen Krebstherapie. Wohl dosierte Chemotherapien, aber auch Hormonpräparate, Bestrahlung oder bestimmte Antikörper helfen, die gefürchteten Symptome der Krebserkrankung zu vermeiden: Bauchwasser, Darmverschlüsse oder unerträgliche Knochenschmerzen. „Im Zentrum der Therapie stehen immer die Patienten“, sagt der Wiener Onkologe Johannes Meran. „Es kommt darauf an, was sie erwarten und welches Risiko sie eingehen wollen. Und wir sind dazu da, die Patienten auf ihrem Weg zu beraten und mit gültigen Informationen zu versorgen.“

Schonende Therapie. Die 39-jährige Marion Hlawatschek hat vor beinahe drei Jahren von ihrer Diagnose Brustkrebs erfahren. Insgesamt hat sie in dieser Zeit bereits 21 Zyklen Chemotherapie hinter sich gebracht. Dazu bekommt sie jetzt seit fast einem Jahr das neue Hormonpräparat Herceptin. Bis auf die ersten Chemotherapien, „die wirklich ganz stark waren“, verlief die Behandlung für die Mutter eines zehnjährigen Kindes bisher erstaunlich schonend. Sie konnte sogar die meiste Zeit über arbeiten gehen. „Die letzte Chemotherapie bekam ich mit Tabletten. Das war so komplikationslos, die hätte ich ein ganzes Leben nehmen können.“ Nur leider ließ, wie bisher immer, die Wirkung der Mittel nach einer gewissen Zeit nach. Diesmal dauerte es nur drei Monate, bis die Tumorzellen gegen die Präparate resistent geworden waren. Jetzt wurden neue Metastasen in ihrer Lunge diagnostiziert. „Aber die Ärzte sagen, sie haben noch jede Menge neue Mittel, die ich noch nehmen kann – und das macht doch Mut“, sagt Hlawatschek.

Dass eine spontane Heilung unwahrscheinlich ist, weiß sie. „Ich hoffe halt, dass es eine zwar chronische, aber beherrschbare Krankheit bleibt. So lange wie möglich.“ Zum ersten Mal will sich die Wienerin nun auch nach unkonventionellen Methoden der Krebstherapie umsehen. So wie 80 Prozent aller Patienten. „Ich habe mit meinem Therapeuten ein so gutes Vertrauensverhältnis, dass ich auch das problemlos mit ihm besprechen kann und er mich gut berät.“

Kostenexplosion. Was Gesundheitsökonomen Gänsehaut bereitet, sind die enormen Preise, die für die neuen Krebspräparate verlangt werden. Die Kosten der Chemotherapie für die im Vorjahr österreichweit angefallenen 91.000 stationären Krebstherapien beliefen sich zusammen auf 70 Millionen Euro. „Die neuen Mittel“, sagt Onkologe Ludwig, „werden die Preisspirale aber noch einmal explosionsartig in die Höhe treiben.“ Das Merck-Medikament Cetuximab, einer der neuesten Hoffnungsträger bei Darmkrebs, kommt etwa pro Einnahmezyklus auf rund 2000 Euro. Bis zu zehn Zyklen sind die Regel. „Und das ist nun überhaupt die Katastrophe in der Krebstherapie“, so Ludwig. „Denn dieses Mittel haben wir zwar, es hilft auch gut und ist behördlich zugelassen. Allerdings weigern sich die Kassen bisher standhaft, es zu bezahlen.“

Ähnliche Signale gibt es bereits bei der neuen Generation der Hormonpräparate zur Brustkrebstherapie, den Aromatasehemmern. Sie sind um ein Vielfaches teurer als Tamoxifen, das derzeitige Mittel der Wahl. „Doch wir sehen bei den neuen Medikamenten in einer großen, derzeit laufenden Studie wirklich sensationelle Zwischenergebnisse“, sagt Samonigg.

Doch auch hier mahnt der Münchener Epidemiologe Hölzel zur Mäßigung. Er findet es höchst bedenklich, die Patienten von einer Therapie zur nächsten zu hetzen. „Solche Empfehlungen“, sagt Hölzel, „können dazu führen, dass die Patienten und ihre Angehörigen nie zur Ruhe kommen und mit Aktionismus und aufwändiger Diagnostik bis wenige Tage vor ihrem Tod noch der erhofften Heilung als Restchance nachjagen.“