Ökonomie & China: Das Drachen-Syndrom

China: Das Drachen-Syndrom

Die Aufbruchstimmung in China reißt nicht ab

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Yue-sai Kan ist amerikanische Staatsbürgerin, doch vor allem eine chinesische Ikone. Als Frau ist sie in China so bekannt wie vor ihr nur die berüchtigte Kaiserin Cixi und die verwegene Witwe Maos. „Man nennt sie die berühmteste Frau Chinas, die Königin des Reichs der Mitte“, formulierte das US-Magazin „WomensBiz“. Kan ist Unternehmerin und TV-Star. Wie keine andere Frau verkörpert sie Chinas selbstbestimmte Neugeburt im Zeitalter der Globalisierung.

Kan empfängt in ihrer Privatwohnung im 16. Stock des Luxuswohnbaus „The House“ an der Peking-Straße im alten Stadtzentrum von Shanghai. Vor Kurzem waren hier die Sängerin Victoria Beckham und das Model Naomi Campbell zu Gast. „Alle kommen nach Shanghai, gerade war der König von Belgien hier“, sagt Kan.

Kan, kurzer Haarschnitt, in weißer Bluse mit Reißverschluss und türkisfarbenen Hosen, macht es sich auf einem Sofa bequem. Sie winkelt die Knie an, später streift sie die knallbunten Sandalen ab und sitzt barfuß im Schneidersitz. Hinter ihr gluckert ein Aquarium. An der Wand hängt der vergrößerte Nachdruck einer Briefmarke mit ihrem Porträt.

Sie wurde in Shanghai geboren, in Hongkong erzogen, emigrierte nach New York und verbringt heute, im Alter von mehr als 50 Jahren, den größten Teil ihrer Zeit in Shanghai. Sie war die erste Frau mit einer eigenen Show im chinesischen Fernsehen. 300 Millionen Zuschauer erreichte sie damals, Ende der achtziger Jahre. Nun plant sie eine neue Show, 52 wöchentliche Folgen ab Oktober, für 750 Millionen Zuschauer. Die Gäste ihrer Show heißen Hillary Clinton, Catherine Deneuve und Julio Iglesias.

In den neunziger Jahren baute Kan ihr eigenes Unternehmen auf: Chinas ersten Kosmetikvertrieb. Plötzlich gab es in China Make-up zu kaufen. Ihr Vorname Yue-sai wurde zum Markennamen. „Ich brachte den chinesischen Frauen wieder bei, was es heißt, schön zu sein“, sagt Kan. Sie spricht wie eine Königin, fest davon überzeugt, ihr Land mit knapp 700 Millionen Frauen aus der schminkfreien Mao-Zeit zurück in die Zivilisation geführt zu haben. Kan sieht sich als Angehörige einer Gründergeneration, die unter Deng Xiaoping China zum Westen hin öffnete. Aber der Goldrausch gehe weiter, sagt sie. Das Leben in Shanghai sei wie das in einer Grenzstadt bei der Eroberung des Wilden Westens, die Leute treibe ein überall spürbarer Entdeckungsgeist. Jeden Tag werde an der Börse eine neue Aktiengesellschaft gegründet. Kan geht auf ihren großflächigen Balkon. Sie zeigt auf das nahe Portman-Hotel, den Modetempel Plaza 66 und die Hochhaus-Skyline am Horizont. Es ist kurz vor Mitternacht. Shanghai, Chinas mit 15 Millionen Einwohnern größte Stadt, ist hell erleuchtet. „Verstehen Sie jetzt, warum es jeden in diese Wunderstadt zieht?“, fragt Kan.

Klischees. Zur Repräsentation Chinas taugt indes keine schöne Frau. Stattdessen zieren fauchende Drachen die Titelseiten der amerikanischen und deutschen Magazine. Das Großreich wird im Westen zusehends als Bedrohung wahrgenommen: Schon tagen Kongressabgeordnete in Washington, um gegen den Verkauf der US-Ölfirma Unocal an ein chinesisches Staatsunternehmen zu mobilisieren; schon graut den Europäern vor einer neuen Autoschwemme aus Fernost, weil mit dem Zhonghua (übersetzt: China) erstmals ein chinesisches Fabrikat hier zum Verkauf angeboten wird. Bis in konservative Kreise ist die Klage über den chinesischen Manchester-Kapitalismus zu hören, dem die soziale Gerechtigkeit zum Opfer falle. Warum wählt ein gewerkschaftsfeindliches Unternehmen wie die US-Supermarktkette Wal-Mart 80 Prozent seiner Lieferanten in China aus?, fragen sich die Anständigen in Amerika und Europa. Ihre von ChinaKenntnis überwiegend freie Antwort: weil die Volksrepublik ein Ausbeuterland mit frühkapitalistischen Umgangsformen sei.

Die Chinesen selbst sehen die Welt anders. Globalisierung? Sie reden von Öffnung. Manchester-Kapitalismus? Sie kennen kein ausbeuterischeres System als den Kommunismus. Im Kapitalismus dagegen erkennen sie den eigenen Fortschritt: die neuen Wunderstädte, Autobahnen und Flughäfen, das Angebot an Hamburgern und Haarwaschmitteln, die Menschen in Maßanzügen und Markenjeans. Kaum einer, der sich nicht am Beginn eines großen Zeitalters glaubt, wie es sie in der Vergangenheit öfters gegeben hat. Hang- oder Song-Dynastie nannten sich die großen Epochen chinesischer Herrschaft. Etwas Ähnliches beginnt heute wieder, unabhängig davon, wie lange die KP noch regiert.

Li Dongsheng verkörpert mehr als jeder Politbürokader den neuen Glauben Chinas an sich selbst. Der 48-jährige Südchinese, klein und stämmig, war für Chinas führenden Fernsehsender CCTV 2004 der „Mann des Jahres der chinesischen Wirtschaft“. Dabei steckt der von ihm gegründete Elektronikkonzern TCL in Schwierigkeiten. Gerade musste Li das erst im Vorjahr gegründete Mobilfunk-Joint-Venture mit dem französischen Alcatel-Konzern komplett übernehmen, die Zahl der Handyverkäufe war zuvor drastisch gesunken. Doch einen wie Li fechten solche Rückschläge nicht an. „Es sind die Europäer, die immer nur von ihren Erfolgen reden und Rückschläge nicht eingestehen“, weiß er aufgrund von Unternehmensübernahmen in Frankreich und Deutschland.

Neue Marken. Li empfängt an der Geburtsstätte des chinesischen Kapitalismus, in der vormals ersten Wirtschaftssonderzone des Landes, der 7-Millionen-Stadt Shenzhen unweit von Hongkong. Hier steht sein neu erbauter TCL-Tower über einer blitzblanken U-Bahn-Station neben den Hochhäusern der Konkurrenten, die TZE oder Skyworth heißen – Namen der Zukunft, die man in Europa so wenig kennt wie vor dreißig Jahren Sony oder Toyota. Dabei ist TCL schon der größte Fernsehhersteller der Welt. 24,5 Millionen TV-Geräte will das Unternehmen heuer produzieren, außerdem 20 Millionen Handys. Das bedeutet 40 Prozent Wachstum im Vergleich zum Vorjahr.

Nur so, postuliert Li, könne China seinen Abstand zu den entwickelten Ländern verringern. Nur so habe TCL eine Chance, mit den Sonys und Samsungs dieser Welt gleichzuziehen. Doch will Li nicht bärbeißig wirken. Er sagt, er habe sich für das Interview extra locker angezogen: weißes T-Shirt, aufgeknöpftes gelbes Hemd, hell kariertes Sakko. In Wirklichkeit zählt Li zu den Einpeitschern des chinesischen Wirtschaftswunders: Verantwortung, Teamwork, Opferbereitschaft, Disziplin nennt er als Tugenden chinesischen Managements. Generell sei man Japan ähnlicher als dem Westen. Worin man sich aber von allen entwickelten Ländern unterscheide, sei die Gier nach Erfolg. Li findet den Ausdruck selbst nicht schön. Ihm fällt ein anderer ein: mit Erfolg die Welt beeinflussen – das sei es, woran er glaube.

Schlagkräftig. Dass China die Kraft dazu hat, wird kaum bestritten. „Das Besondere ist, dass es zum ersten Mal ein riesiges, armes Land gibt, das mit niedrigen Löhnen und im High-Tech-Bereich konkurrieren kann“, sagt der Harvard-Ökonom Richard Freeman. Die alte Arbeitsteilung gelte nicht mehr, wonach reiche Länder forschungsintensive Hochtechnologie produzierten und arme Länder Massenware. Bis 2010, so Freeman, werde China mehr Ph.D.-Zeugnisse für Naturwissenschaften und Ingenieurwesen abnehmen als die USA. Schon heute hat das Land die meisten Studenten und verfügt über die zweitgrößte Forscherzahl.

Freeman sieht Chinas relativen Aufstieg zeitgleich zu den Wachstumsproblemen im Westen – verursacht nicht zuletzt durch eine Verdoppelung des weltweiten Arbeitskräfteangebots eben aufgrund der Öffnung Chinas, Indiens und der ehemaligen Sowjetunion. China stehe für mehr als die Hälfte dieses Anstiegs. Umgekehrt habe sich damit das weltweit verfügbare Kapital pro Arbeitskraft in wenigen Jahren nahezu halbiert. Dies aber bedeute geringere Produktivität und niedrigere Löhne. Freeman folgert daraus, dass 30 bis 40 Jahre vergehen müssen, bevor sich das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital wieder dem einstigen Stand angleichen werde. Bis dahin wäre es für die Kapitalseite leicht, Druck auf hohe Sozialleistungen im Westen auszuüben – vor allem dank Chinas riesigem industriellem Rerserveheer.

Was sich damit andeutet, ist nichts Geringeres als eine Sinisierung der Weltwirtschaft. Früher war China die Werkbank der Welt, jetzt schickt das Land sich an, die Weltwirtschaft zu verändern. Was nützen noch Währungsabsprachen der G7, wenn das größte Problem die Unterbewertung des Yuan ist? Peking aber lässt sich schwer unter Druck setzen, weil man mit seinen Währungskäufen zur Finanzierung des amerikanischen Haushaltsdefizits beiträgt.

Stetes Wachstum. „China nimmt sich die Frechheit heraus, die USA als Ursache globaler Ungleichgewichte in der Weltwirtschaft zu benennen“, so Nouriel Roubini, Wirtschaftsprofessor an der Stern School of Business der New York University. Für Roubini befindet sich China „auf dem Weg zur ökonomischen Supermacht. Für viele Länder ist China schon heute wichtiger als die USA.“ Er denkt nicht nur an Südostasien oder Australien, sondern auch an Länder Lateinamerikas, denen China in den nächsten zehn Jahren Investitionen von 100 Milliarden Dollar versprochen hat – etwa für den Bau von Eisenbahnen in Brasilien. Dies soll helfen, dort Rohstoffe zu erschließen, die China dringend benötigt. Heute wollen zudem 1,3 Milliarden Chinesen an den Öltropf, China ist bereits für die Hälfte des weltweiten Anstiegs des Ölverbrauchs verantwortlich.

9,5 Prozent betrug das chinesische Wirtschaftswachstum 2004. Inzwischen ist China die sechstgrößte Volkswirtschaft – und die drittgrößte Handelsnation. Allein in den vier Jahren seit dem Beitritt zur Welthandelsorganisation verdoppelte sich das chinesische Handelsvolumen von 510 auf 1100 Milliarden Dollar. Zwar hat die EU gerade von ihrem Recht Gebrauch gemacht, billige chinesische Textilien mit Zöllen zu belegen – aber das gilt nur bis 2008. Dann ist der Handel frei.

Was könnte Chinas Aufstieg also noch behindern? Die Korruption im Einparteienstaat; neue soziale Gegensätze zwischen Arm und Reich; die rapide Verschlechterung der Umweltlage. Der Nationale Geheimdienstrat der USA aber hält Chinas Machtzuwachs nur im Fall einer „abrupten Umkehr des Globalisierungsprozesses oder eines bedeutenden Aufstandes“ für gefährdet. Dies ist unwahrscheinlich: 400 Millionen Chinesen sind seit 1980 der schlimmsten Armut entkommen, 260 Millionen verfügen über ein Familienvermögen von mehr als 20.000 Dollar. Das alles spricht trotz wachsender Einkommensunterschiede für ein Mehr an sozialer Stabilität.

Für TV-Star Yue-sai Kan folgt daraus, dass man den Luxus in China heute genießen darf. Sie führt durch ihr extravagantes Schlafzimmer, über grün lackierten Nachttischen hängen Tuschzeichnungen ihres Vaters, der ein bekannter Maler war. Schon träumt sie davon, seine Kunst wieder populär zu machen. Doch vorher müsse sie an einem in China spielenden Hollywood-Film mitwirken.

Von Georg Blume