China kämpft mit internen Problemen

China-Krise süß-sauer: Das KP-Regime schnürt ein gigantisches Konkjunkturpaket

Das KP-Regime schnürt Konjunkturpaket

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Es waren knapp 10.000 Männer, die meisten von ihnen mit Äxten, Eisenketten oder Holzknüppeln bewaffnet. Wütend marschierten sie durch das Zentrum der Stadt Longnan in Chinas nordwestlicher Provinz Gansu, verteufelten die Zentralregierung in Peking und hinterließen eine Spur der Verwüstung: Sie prügelten auf Polizeibeamte ein, setzten öffentliche Gebäude in Brand, plünderten Supermärkte, zertrümmerten parkende Autos.

Sieben Menschen kamen bei den Krawallen in Longnan ums Leben, über 100 Zivilisten und Polizisten wurden mit zum Teil schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Mittwoch vergangener Woche verhängte die Polizei eine Ausgangssperre über die Stadt. „Wer nach zehn Uhr abends auf der Straße angetroffen wird, der wird abgeführt“, berichtete ein Hotelmitarbeiter über die Revolte, von der die Öffentlichkeit vor allem via Internet informiert wurde. „Es traut sich niemand mehr vor die Tür, überall riecht es nach Tränengas.“

Was die Menschen in Longnan zur Rage brachte? In der 2,6-Millionen-Einwohner-Metropole sollen demnächst Verwaltungsgebäude geschlossen und in eine andere Stadt verlegt werden. Eigentlich nichts Besonderes im politischen System Chinas. Doch diese in Peking getroffene Entscheidung, so befürchten die Demonstranten, wird die ohnehin schon hohe Arbeitslosenrate weiter anheben, während die Immobilienpreise sinken werden.

Longnan ist kein Einzelfall
Wie in ­vielen anderen Regionen lebt man hier in erster Linie vom Export. Doch dieser schwächelt derzeit in ganz China. In der Textilindustrie und anderen auf das Ausfuhrgeschäft spezialisierten Branchen mussten landesweit zahllose Betriebe schließen. Viele Unternehmen sind aufgrund steigenden Kostendrucks im Inland und sinkender Absatzchancen im Ausland schwer angeschlagen. Arbeitsmarktbörsen im ganzen Land können sich vor dem Ansturm von Jobsuchenden kaum retten. Allein in der Provinz Shandong verloren dieses Jahr 700.000 Menschen ihre Arbeit. In der südchinesischen Provinz Guangdong, die wegen ihrer erfolgreichen Spielzeugfabriken als „Exportfabrik Chinas“ gilt, wird das schwächste Wachstum seit drei Jahrzehnten gemeldet. Bis zu 2,7 Millionen Menschen könnten bis Anfang des kommenden Jahres arbeitslos sein.

Die globale Finanzkrise hat auch China erreicht, „stärker als ursprünglich erwartet“, wie Premierminister Hu Jintao zuletzt einräumte. Doch nicht nur schrumpfende Wachstumsraten bereiten Hu und seinen Parteikadern Kopfzerbrechen: Der wirtschaftliche Abschwung führt im Reich der Mitte zu massiven sozialen Spannungen. Proteste von nicht bezahlten Arbeitern, um ihren Boden betrogenen Bauern oder Besitzern enteigneter Häuser haben eine neue Dimension erreicht. Schickten unzufriedene Bürger bisher zunächst brav Beschwerdebriefe an die jeweiligen Behörden oder wandten sich an Rechtsanwälte, gehen sie nun – wie zuletzt in Longnan – auf die Straße.

Die KP-Führung in Peking wird angesichts dieser neuen Protestwelle zusehends nervös. „Die Polizei sollte sich der Herausforderungen voll bewusst sein, welche die weltweite Finanzkrise mit sich bringt, und die soziale Stabilität nach Kräften sichern“, forderte der für öffentliche Sicherheit zuständige Minister Meng Jianzhu kurz nach Ausbruch der Unruhen in Longnan sichtlich beunruhigt.

Vor ein paar Wochen schienen solche Warnungen noch undenkbar. In den ersten Wochen der internationalen Wirtschaftskrise redete Peking die Auswirkungen auf das eigene Land klein – obwohl internationale Finanzinstitute schon vor Monaten Alarm schlugen. 2008 stieg Chinas Bruttoinlandsprodukt (BIP) erstmals seit den neunziger Jahren um weniger als zehn Prozent. Für 2009 prognostizieren Investmentbanken China ein Wachstum von unter zehn Prozent. Nach westlichen Maßstäben mögen solche Zahlen paradiesisch sein, für China hingegen bedeuten sie eine Hiobsbotschaft. Denn das Land braucht das schnelle Wachstum, um den rapiden Strukturwandel der vergangenen Jahrzehnte abzufedern. Jedes Jahr drängen 20 Millionen junge Chinesen auf den Arbeitsmarkt. Doch dieser ist momentan mehr als gesättigt. Täglich berichten chinesische Medien von weiteren Entlassungswellen.

Vorvergangene Woche lenkte die Parteispitze in Peking schließlich ein und beschloss ein gigantisches Konjunkturpaket: 570 Milliarden US-Dollar (rund sieben Prozent von Chinas BIP) werden bereitgestellt, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Die Finanzmittel sollen in den Ausbau des Verkehrsnetzes, in Sozialwohnungen, ländliche Infrastruktur, den Wiederaufbau von erdbebenversehrten Häusern, aber auch in moderne Projekte zum Umweltschutz investiert werden. 18 Milliarden US-Dollar will die KP-Spitze noch dieses Jahr im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und den sinkenden Konsum aufwenden.

Dieser Schritt wird nicht nur im eigenen Land weitgehend positiv bewertet. Vor allem in den Regierungsgebäuden der internationalen Staatengemeinschaft herrschte nach dem Beschluss allgemeine Erleichterung. Dominique Strauss-Kahn, Chef des Internationalen Währungsfonds, jubelte nach Bekanntwerden der Geldspritze: „Das enorme chinesische Paket wird definitiv die Weltwirtschaft stützen.“ Strauss-Kahn sollte zumindest kurzfristig Recht behalten: Die Börsen in New York, London und Tokio verzeichneten erhebliche Kursgewinne, und Börsenmakler feierten China als Retter der internationalen Finanzwirtschaft.
Verlockende Angebote. Selten wurden die globalen Verflechtungen mit Peking so deutlich wie in diesen Tagen. Nur wenn China weiterhin stabil wächst, können sich auch die USA, Europa, Japan und Afrika von ihren Finanzkrisen erholen. Drastischer formuliert: Wenn selbst China taumelt, kollabiert der Rest der Welt.

Mit der Krise des neoliberalen Wirtschaftsmodells bekommt die „chinesische Methode“ Auftrieb: Peking hat das westliche Modell nie kopiert, seinen Kapitalmarkt weniger radikal liberalisiert – und ist damit offenbar gut gefahren. Nun kann es die neuen Regeln der internationalen Finanzwelt aus der Position einer nie dagewesenen Stärke mitbestimmen.

Vergangenen September stieg Peking mit einem Volumen von 585 Milliarden Dollar zum größten Besitzer von US-Staatsanleihen auf und verdrängte damit den bisherigen Spitzenreiter Japan. Ein wesentlicher Teil der Anleihen ist bereits an den US-Staatshaushalt gekoppelt. Schon werden Stimmen laut, die China fortan ein viel größeres Gewicht auf dem internationalen Parkett einräumen wollen. „China und andere Schwellenländer wie Brasilien müssen künftig an den G8-Treffen teilnehmen“, forderte zuletzt der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Andere wollen Peking, das schon seit Jahren als Sprachrohr der Schwellenländer auftritt, künftig mehr Mitspracherechte im Internationalen Währungsfonds (IWF) geben.

Verlockende Angebote, die in der KP-Parteizentrale allerdings mit Skepsis aufgenommen werden. Einerseits will Peking mehr Machtbefugnisse haben. „Andererseits fürchtet es, dass die westliche Dominanz sein politisches System beeinflusst“, sagt der Wirtschaftswissenschafter Hu Xingdou. „Deshalb tritt China international noch sehr reserviert auf.“ Im eigenen Land, das hat die Parteiführung offenbar erkannt, droht der stillschweigende Pakt zwischen KP-Regierung und seiner Bevölkerung – wirtschaftlicher Wohlstand für politischen Gehorsam – zu bröckeln. Arbeitslose und Demonstranten, die ohnehin nichts mehr zu verlieren haben, beginnen, Unruhe zu stiften. In den offiziellen Statistiken der Akademie für Sozialwissenschaften spricht man von täglich 170 „Störungen der öffentlichen Ordnung“, wie es im Parteijargon heißt. Tatsächlich dürfte die Zahl noch weitaus höher liegen. „Das Muster ist derzeit immer wieder das gleiche“, sagt der Pekinger Menschenrechtsanwalt Liu Xiaoyuan. „Wo immer sich jemand traut, öffentlich das ihm widerfahrene Unrecht anzuprangern, bildet sich schnell eine Gruppe von Menschen, die sich mit seinem Schicksal auf die eine oder andere Art identifizieren können.“

In Peking ist man daher um Schadensbegrenzung bemüht. So dürfen in der Provinz Hubei seit vergangener Woche Unternehmen keine Entlassungen ohne Genehmigung der Arbeitsbehörden oder Betriebsgewerkschaften vornehmen. Sie müssen die Behörden einen Monat im ­Voraus informieren, wenn sie mehr als 40 Mitarbeiter entlassen. Große Verwunderung löste auch die Reaktion der KP-Zentrale auf die streikenden Taxifahrer in der Metropole Chongqing aus, die wegen steigender Benzinpreise kaum noch Geld verdienen. Der Parteisekretär der Metropole Chongqing suchte die demonstrierenden Taxifahrer drei Tage nach Beginn ihres Streiks auf, hörte sich stundenlang ihre Klagen an und versprach, alles zu tun, damit sich die Fahrten der 16.000 Taxis in der Jangtse-Metropole wieder lohnen.

Sein Beispiel machte Schule: In einem halben Dutzend chinesischer Städte, in ­denen Taxifahrer seit Anfang November streikten, suchten die Behörden statt Konfrontation den Dialog. Die Streiks konnten friedlich beendet und viele Forderungen der Taxifahrer erfüllt werden. Künftig erhalten die Fahrer staatliche Zuschüsse als Ausgleich für die erhöhten Benzinpreise, die sie nicht auf ihre Kunden abwälzen durften.

Die neue Volksnähe der Parteisekretäre wurde in Chinas Internetforen, die zum wichtigsten Medium des Landes anwachsen, positiv registriert. „Die Behörden haben die Macht des Internets in China erkannt und verstehen, dass es besser für sie ist, auf die Menschen zuzugehen und transparent zu sein“, sagt China-Experte Jeffrey Wassermann von der University of California in Irvine. Noch deutlicher bringt die Situation ein anonymer Dissident auf einer der zahlreichen Online-Plattformen Chinas auf den Punkt: „Die Wirtschaftskrise ist für uns paradox: Den Menschen geht es zwar schlechter, gleichzeitig wird der Abschwung langfristig zu einer Öffnung des Landes führen.“

Von Kristin Kupfer, Peking, und Gunther Müller