China-Report: 'Jenseits von Lhasa'

Aufstand greift auf andere Provinzen über

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Im fensterlosen Hinterzimmer seiner Stammkneipe in Lanzhou, der Hauptstadt der Provinz Gansu, wählt Duoji Cidan* zum x-ten Mal dieselbe Handynummer. Sie gehört einem Mönch des Labrang-Klosters der Stadt Xiahe im Süden der Provinz. Das Kloster ist das wichtigste buddhis­tische Zentrum außerhalb der „Autonomen Region Tibet“ – so nennt China die Provinz am Himalaya. Die Geistlichen des Labrang-Klosters hatten vor rund zwei Wochen den ersten großen Protest nach den Unruhen in Lhasa angeführt. Mit ­hunderten Zivilisten zogen sie vor die lokalen Verwaltungsgebäude und riefen „Unabhängigkeit“ und „Lang lebe der Dalai Lama“. Seitdem belagert die Militärpolizei ihr Kloster. Keiner darf rein oder raus. Keiner weiß, wie es den Mönchen geht. Duoji versucht unablässig, eine Telefonverbindung zu ihnen herzustellen. Der 25-jährige Tibeter – Sonnenbrille im langen Haar, Lederkette mit Amulett und beige Cargohose – kennt tausend Leute. Er ist als Musiker durch ganz China getingelt. Den Kontakt zu den Mönchen hat ihm der Onkel eines Freundes vermittelt. Wieder lässt Duoji den Anruf lange durchklingeln – zwanzig Mal, dreißig Mal. Plötzlich nimmt jemand ab.

„Letzte Chance“. Die Stimme eines jungen Mönchs ist voller Misstrauen. Er will sofort auflegen, alle Telefonate würden mitgeschnitten, sagt er. Um sein Vertrauen zu gewinnen, erzählt Duoji, wie er versuchte, über den Himalaya zum Dalai Lama nach Indien zu wandern, und dass ihn die chinesische Grenzpolizei für mehrere Tage ins Gefängnis steckte. Die Verbindung bricht ab.

Duoji ruft erneut an. Dieses Mal spricht der Mönch von den politischen Forderungen seines Klosters. Die Tibeter besäßen eine lange Geschichte, eine großartige Kultur, eine eigene Sprache und damit alle Grundlagen für einen eigenen Staat. „2008 ist unsere letzte Chance. Die Tibeter müssen die chinesische Flagge einholen und ihre eigene hissen“, sagt der junge Geistliche mit fester Stimme. Noch nie hat ein tibetischer Mönch eine solche Kampfansage öffentlich verkündet. Der Telefonkontakt reißt erneut ab. Duoji ruft noch einmal an – das Handy bleibt ausgeschaltet. Auf dem Ledersofa neben Duoji sitzt Ciren Wangdui*. Ihm stehen die Tränen in den Augen. Duoji streicht dem jungen Studenten mitfühlend mit der Hand über den Rücken. „Die Tibeter haben sich nun über­all erhoben“, sagt Duoji. Ciren fährt sich schnell übers Gesicht, durch die langen Haare. Unter dem Nike-Sportblouson trägt er ein schwarzes T-Shirt. „Tibet“ steht in gelber Schrift über einem Bild des Potala-Palastes.

Ciren ist einer von rund 2000 tibetischen Studenten der Minoritäten-Universität von Lanzhou. Und er ist Mitglied der Kommu­nistischen Partei. Nicht aus Überzeugung, sondern wegen besserer Berufschancen, sagt er. Auf seinem Campus hielten vor rund zwei Wochen mehrere hundert Studenten eine Gedenkfeier für die Toten der Revolte in Lhasa ab. Die ti­betischen Studenten trugen auch Plakate mit der Aufschrift „Demokratie und Menschenrechte sind wertvoll“. Aber davon scheut sich Ciren zu reden. Er und die anderen 70 tibetischen Parteigänger der Minoritäten-Universität mussten Sonntagmorgen um 6.30 Uhr im Auditorium erscheinen. Die Lehrer zeigten ihnen einen dreistündigen Zusammenschnitt von Bildern randalierender Tibeter aus Lhasa. Die chinesische Regierung hatte angeordnet, den Propagandafilm an den Minoritäten-Universitäten und Klöstern aller Provinzen zu zeigen. „Patriotische Erziehung“ nennt das Peking. Die Lehrer sagten Ciren, er solle wahre Gefühle aufschreiben, keine offiziellen Verlautbarungen.

Verwirrung. Ciren war an diesem Morgen traurig und verwirrt. Er dachte daran, dass die Tibeter nicht nur Täter, sondern auch Opfer seien. Doch das durfte er nicht niederschreiben. Also übernahm der 21 Jahre alte Student doch die amtlichen Stellung­nahmen. Jetzt hilft er Duoji beim Telefonieren. Bis gestern kannten sich die beiden nicht. Vor den Unruhen lebten sie in zwei verschiedenen Welten. Nun verbindet sie das Engagement für die tibetische Sache. Chinas offizielle Aussendungen drehen sich allein um die Revolte in Lhasa. Dabei ist längst ein nationalistischer Aufstand der tibetischen Bevölkerung entbrannt. Rund zwei Drittel der sechs Millionen Tibeter wohnen außerhalb der Verwaltungsregion am Himalaya. Sie leben in autonomen Bezirken der Nachbarprovinzen Qinghai, Gansu und Sichuan. Dort schwelen jetzt die Proteste. Für viele Tibeter sind diese Gebiete legitimer Teil ihres Landes, das damit nicht viel kleiner wäre als das entsprechend reduzierte China.

Auf diese Territorialansprüche reagiert Peking fast panisch. Ziel ist die „Zerschmetterung der separatistischen Kräfte“, und die Führung ist zum „Kampf auf Leben und Tod gegen die Clique des Dalai Lama“ bereit. Alles ist auf den Feind in Dharamsala, dem indischen Hauptquartier des Dalai Lama, fixiert. Es ist eine Ausweichstrategie. Denn von einer nationalen Revolte der Tibeter wagt Peking nicht zu sprechen. Dies würde ethnische Konflikte zwischen Chinesen und Tibetern weiter aufschaukeln. Aber durch die Verteufelung des tibetischen Oberhaupts – obwohl sich der Dalai Lama um Deeskalation bemüht – radikalisiert China Mönche und Studenten erst recht. In Lhasa hat die Revolte vorerst keine Chance mehr. Die Militärpolizei hat die Zentren der Proteste fest im Griff. Mit Schnellfeuergewehren stehen die Einsatzkräfte an allen Zugängen zur Altstadt. Ohne Personalausweis lässt sie Anwohner weder hinein noch heraus. Die lokalen Behörden legen Mieterlisten an. Die Polizei durchsucht Häuser. Junge Männer verstummen, sobald ein Fremder auftaucht. Gehen sie raus, müssen sie beweisen, dass sie nicht bei den Protesten dabei waren, erzählen die Alten. Sonst droht Verhaftung.
Danzeng Ouzha* ist froh, dass er endlich reden kann. Meist streift der junge Tibeter rastlos durch die Gassen. Im Innenhof seines Wohnhauses in Lhasa bietet er Korbhocker zum Sitzen an. Die Hauswände sind weiß verputzt. Über den kleinen Fenstern hängen bunte Stoffborde. Einige Bewohner stehen bald um Danzeng herum. Andere bewachen den Hofausgang. Der 18-Jährige schildert die chinesischen Verbrechen in Tibet: die Massenmorde der Volksbefreiungsarmee Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre, die Brandschatzung der Klöster und die Einmischung in die Religion. Als das Gespräch auf die Revolte vom 14. März kommt, rutscht Danzeng auf seinem Hocker hin und her.

An jenem Tag saß er in einem Restaurant. Ein Freund kam und erzählte ihm von Morden der Militärpolizei an drei Lamas und fünf Mönchen des Drepung-Klosters. Der dortige Klerus hatte die friedlichen Demonstrationen zum 49. Jahrestag des tibetischen Volksaufstandes am 10. März initiiert. Der Freund sagte, er solle sich den Straßenprotesten anschließen. „Zu weit gegangen“. „Ich hatte nichts dabei“, erzählt er, „die meisten Tibeter haben einfach Steine genommen.“ Bei den Protesten seien sie verstärkt auf chinesische Medien losgegangen, die Zerstörungswut der Tibeter sollte nicht aufgezeichnet werden. „Die Polizisten haben nicht geschossen, sie sind sogar vor uns geflüchtet“, grinst Danzeng verlegen. Er glaubt, dass durch den Vandalismus mehr Chinesen als Tibeter gestorben sind. „Ehrlich gesagt sind die Tibeter etwas zu weit gegangen“, sagt Danzeng. Den Dalai Lama aber beschuldige Peking zu Unrecht als Drahtzieher der Proteste, der sei ja gegen Gewalt. Gibt es noch Chancen auf Verständigung zwischen Tibetern und Chinesen? Die Deeskalationsbemühungen des Dalai Lama verhallen auf allen Seiten ungehört.

China setzt die Aufständischen durch einseitige Schuldzuweisungen weiter unter Druck. Die exiltibetische Regierung macht ihrerseits einen Kompromiss mit China durch Unabhängigkeits- und Territorialforderungen unmöglich. Der Westen verdrängt durch Schwarzweißmalerei die Komplexität des Konflikts.
Denn so klar sind die Fronten des Widerstandes dann doch wieder nicht.
Ciren ist dafür ein gutes Beispiel. Der junge Tibeter studiert im zweiten Jahr Chinesisch, Tibetisch und Englisch. Er möchte Übersetzer werden. Er will vermitteln zwischen Sprachen und Kulturen. Die Chinesen haben Schulen gebaut in Tibet und die Wirtschaft vorangebracht, erzählt Ciren. Selbstverständlich hat er chinesische Freunde. Doch mit Chinesen könne er nicht über seine Tränen sprechen. Sein Traumland sind die USA. Andererseits beherrscht er Chinesisch viel besser als Englisch. Er überlegt, vielleicht doch als Chinesisch-Lehrer in sein Heimatdorf zurückzugehen. Sein Cousin studiert an der Peking-Universität, einer der besten des Landes. Ciren hat ihn im letzten Jahr für drei Wochen besucht. „Erst war mir Peking ganz fremd“, erinnert Ciren sich, „aber nach ein paar Tagen dachte ich, das ist unsere Hauptstadt.“

Von Kristin Kupfer (Lhasa und Lanzhou)