China: Tanz auf dem Vulkan

Der Boom im Reich der Mitte droht abzureißen

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Die Stadt Krems weiß seit ein paar Wochen, dass die chinesische Wirtschaft verrückt spielt. Zwar wäre der exorbitante Wirtschaftsboom im Reich der Mitte an sich ja etwas recht Erfreuliches – und das nicht nur, weil auch Österreichs Wirtschaft im Wege von Auftragseingängen davon profitiert. Aber wenn Chinas Stahlerzeuger plus jene außerchinesischen Stahlkonzerne, die hunderttausende Tonnen nach China liefern, den Weltmarkt für Rohstoffe schlicht leer fegen, dann geht das zu weit. Da hört sich der Spaß auf, finden die Kremser. Wenn, wie vor kurzem geschehen, das Kremser Voest-Werk eine ganze Woche zusperren muss, weil das nötige Vormaterial für die Produktion einfach nicht mehr zur Verfügung steht, dann wächst hierzulande der Verdacht, dass es so nicht mehr weitergehen kann: Meldungen, wonach Chinas Wirtschaft, komplett überdreht, kurz vor dem Absturz stehe, werden seither in Krems mit zunehmender Aufmerksamkeit verfolgt.

„Der chinesische Boom trägt alle Anzeichen in sich, in Tränen zu enden“, las man neulich in der „Financial Times“. Und James Kynge, Bürochef der Zeitung in Peking, legte zu: „Und wenn dieser Tag kommt, könnte der Absturz ein spektakulärer sein.“ Der Rest der Welt könnte einen solchen Absturz schmerzhaft zu spüren bekommen.

Freilich – noch wird eine solche Gefahr bloß von Finanzmarktspezialisten und ein paar Ökonomen wahrgenommen, die entsprechende Zeichen an der Wand zu deuten versuchen. Dass es sich angesichts der gegenwärtigen Rolle Chinas als Motor der globalen Konjunkturentwicklung aber um eine tatsächliche und sehr reale Gefahr handelt, wird trotzdem von Tag zu Tag plausibler. Auch wenn vor Ort keine Eintrübung des Geschäftsklimas festzustellen ist. Denn weiterhin drehen sich draußen in der realen chinesischen Wirtschaft rund um die Uhr alle Räder, und in Peking stinkt der immer gewaltiger anschwellende Verkehr immer aufreizender zum Himmel.

In den Meeres-Wasserstraßen vor der Hafeneinfahrt von Shanghai herrscht ein Stau wie auf der Wiener Südosttangente kurz vorm Wochenende. Hunderte Frachtschiffe liegen da vor Anker, und manche Fracht muss vier Wochen in der Warteschlange verbringen, bis sie gelöscht werden kann. Weil auch geschäftstüchtige Transportunternehmer zuzugreifen verstehen, wenn ihnen die Kundschaft die Türe einrennt, sind die Fracht- und Lagerungskosten in den vergangenen Monaten dramatisch gestiegen – was letztlich auch die Endverbraucherpreise der Waren deutlich verteuert.

Engpässe dieser Art häufen sich. Vormaterialien zur Stahlproduktion sind ein – wenngleich typisches – Beispiel. Andreas Werner, Chef der Raiffeisenbank in Peking, machte neulich eine Geschäftsreise in eine chinesische Stadt, die über maßgebliche Kapazitäten der Koksherstellung verfügt: „Im Hotel traf ich auf Kokseinkäufer japanischer, amerikanischer und europäischer Stahlkonzerne, die verzweifelt versuchten, früher gegebene Zusagen für Kokslieferungen einzufordern, die nun dem chinesischen Eigenbedarf zum Opfer zu fallen drohen.“ Jüngsten Schätzungen zufolge verbrauchte China im Vorjahr 257 Millionen Tonnen Rohstahl – ein Viertel des gesamten Weltverbrauchs.

Einerseits spürt solche Produktionsengpässe die ganze Welt. Andererseits wissen China-Kenner wie etwa Birgit Murr, österreichische Handelsdelegierte in Shanghai, von immer ärgerlicheren Engpässen in China selbst zu berichten: „Die Kapazität der Stromerzeugung reicht angesichts des sprunghaft wachsenden Verbrauchs längst nicht mehr aus.“ Es gebe Stromabschaltungen, die erfolgten in manchen Städten ganz unerwartet, ihre Dauer sei vielfach unbestimmt. Andreas Werner erzählt von einer Stadt, die „wie eine Geisterstadt“ auf ihn gewirkt habe: „Keine Leuchtreklame, kein Haus war erleuchtet.“ Neue Kraftwerke seien zwar in Bau beziehungsweise in Planung, doch dauere es naturgemäß Jahre, ein Kraftwerk ans Netz zu bringen. Auch die Transportkapazitäten für Waren und Rohstoffe reichen längst nicht mehr aus, wiewohl Chinas Regierung Milliarden und Abermilliarden in den Ausbau der Infrastruktur steckt. Tausende Eisenbahnkilometer fehlen.

Das britische Wochenmagazin „Economist“ zitiert Untersuchungen, wonach es nur auf 60 Prozent der Strecken von den chinesischen Häfen zu Chinas Stahlwerken Eisenbahnen gäbe. Im Boom wird nun sogar der simpelste aller Rohstoffe knapp: Wegen Wassermangels, so liest man in der „South China Morning Post“, falle die chinesische Industrieproduktion heuer um 28 Milliarden Dollar geringer aus, als eigentlich möglich wäre. Dass sich die ohnehin deplorable Lage der chinesischen Umwelt dabei so verschlimmert, dass es teilweise gefährliche Ausmaße annimmt, ist eine weitere Konsequenz.

Lehrbuchgemäß führen Nachfrageüberschuss plus Lieferengpässe zum Phänomen der Preisexzesse. Andreas Werner nennt Beispiele, unter anderem aus der Stahlindustrie: „Neun Dollar pro Tonne kostete der Eisenerztransport von Indien nach China im Vorjahr, 60 Dollar kostet er jetzt. Koks war noch vor einem Jahr um 60 Dollar pro Tonne zu kriegen. Mittlerweile ist der Preis auf 420 Dollar gestiegen.“

Angesichts all dessen wird von internationalen Ökonomen immer häufiger und intensiver die Frage diskutiert, ob die Situation des überhitzten Wachstums kippt und bald ein Crash droht. Diese Woche wird der seit einem Jahr im Amt befindliche chinesische Premierminister Wen Jiabao in offizieller Mission in Europa erwartet. Bei seinen Besuchen in Deutschland, Italien und England wird dieses Thema ausführlich zur Sprache kommen. Eines hatte Jiabao schon vorweg wissen lassen: Der chinesischen Führung sei bewusst, dass alles getan werden müsse, um dem Land eine „weiche Landung“ nach dem Höhenflug zu ermöglichen. Im Interesse der Chinesen und im Interesse der ganzen Welt.

Gefahr. Wen Jiabao deutete an, dass der chinesischen Führung die Konsequenzen des Nicht-Handelns klar seien. Ließe sie nämlich die Entwicklung laufen, so könnte irgendein Anlass ausreichen, das Desaster auszulösen. In Scharen würden dann die Auslandsinvestoren Kapital abziehen. China würde in der Folge nicht nur seine ostasiatischen Nachbarn in den Abgrund mitreißen, ein chinesischer Crash könnte auch die sich zaghaft erholende Konjunktur im Rest der Welt wieder ersticken.

Offenbar sind also alle davon beseelt, eine „sanfte Landung“ hinzukriegen. Eine solche verlangt von den Piloten freilich nicht nur perfektes Beherrschen der Steuerungssysteme. Diese Übung findet darüber hinaus unter Bedingungen statt, für die es historisch kein wirkliches Vorbild gibt.

Unter führenden Ökonomen herrscht alles andere als Einmütigkeit, was zu tun sei. Die öffentliche Debatte erreichte vor ein paar Wochen einen Höhepunkt, als die Vorwahl-gestresste US-Regierung (ein Teil der US-Wirtschaft stöhnt unter chinesischer Konkurrenz) die Wechselkurspolitik Chinas aufs Korn nahm und, mit Unterstützung diverser Fachleute, eine Aufwertung des Renminbi forderte. Chinas Währung ist seit zehn Jahren fest an den Dollar gekoppelt, was der chinesischen Exportwirtschaft während der Dollarschwäche sehr dienlich war und ist. Arbeitsplätze wanderten aus den USA nach China ab. Dementsprechend erzielte China bis vor kurzem Leistungsbilanzüberschüsse. (Zuletzt allerdings zog der gewaltige chinesische Investitionsboom derart hohe – wechselkursbedingt teure – Importe nach sich, dass Chinas Leistungsbilanz momentan ein kleines Defizit aufweist.) Die US-Regierung jedenfalls meint, der Renminbi sei drastisch unterbewertet, Chinas Zentralbank möge die Dollar-Bindung lösen und die Kursbildung dem Markt überlassen. Was den Renminbi in die Höhe triebe.

Dass gleichzeitig US-Notenbankpräsident Alan Greenspan gegen ein Aufgeben der Renminbi-Dollar-Bindung auftrat, zeigt, wie weit das Spektrum der Auffassungen auseinander geht.

Das Wechselkursthema mag auf den ersten Blick wie eine Expertendebatte im ökonomischen Elfenbeinturm erscheinen. In Wahrheit zeigt jedoch ein Blick auf die Ereignisse der Jahre 1997/98, als eine Wirtschaftskrise in Ostasien die Weltfinanzmärkte erschütterte, die Bedeutung der Frage: Viele Milliarden Dollar stehen am Spiel. Diese Finanzmittel können entweder stabil in einem Land bleiben und dort für Investitionen in die Realwirtschaft zur Verfügung stehen, oder sie können ebenso spekulativ wie kurzfristig ihre Richtung wechseln und Währungskrisen auslösen – mit Rückwirkungen auf die Realwirtschaft. Die Ostasien-Krise 1997/98 bildete hiefür ein unerquickliches Beispiel.

Barry Eichengreen etwa, kalifornischer Ökonom und Währungsexperte, plädiert für ein graduelles Lösen der Renminbi-Dollar-Bindung – und zwar bevor die chinesische Führung das derzeit noch umfassende System von Kapitalverkehrskontrollen aufgibt und Kapitalverkehr sowie Bankwesen voll liberalisiert. Eichengreen geht unter anderem von folgender Überlegung aus: Bei festgezurrten Wechselkursen und zementharten, undurchdringlichen Kapitalverkehrskontrollen besaß Chinas Wirtschaftspolitik den nötigen Spielraum, die ökonomische Entwicklung im Lande zu steuern. Eichengreen hält jedoch mittlerweile die Mauern der Kapitalverkehrskontrollen bereits für löchrig und meint, sie würden zunehmend immer noch löchriger. In dieser Konstellation und bei fixiertem Wechselkurs glitten der Wirtschaftspolitik die wirksamen Steuerungsinstrumente nach und nach völlig aus der Hand. Und ohne wirksame Instrumente ließe sich eben auch kein „soft landing“ bewerkstelligen.

Angesichts dessen und weil sich China mit seinem Beitritt zur WTO im Jahr 2007 ohnehin zur Liberalisierung von Kapitalverkehr und Bankwesen verpflichtet habe, sei es nicht nur angebracht, sondern absolut notwendig, den Systemwechsel, auch in der Währungspolitik, zu vollziehen. Eichengreen empfiehlt, dies in konjunkturell guter Zeit zu tun. Also jetzt.

Andreas Werner, ein brillanter Kopf und China-erfahrener Finanzmann, widerspricht dieser Sichtweise. Aus seiner praktischen Erfahrung behauptet er: „Die Mauer der Kapitalverkehrskontrollen ist keineswegs porös. Sie hält.“ Was die Verpflichtung der Chinesen angeht, 2007 ihre Finanzmärkte zu liberalisieren, so ist er überzeugt, dass dieser Termin, wenn nötig, verschoben werde. Derzeit verfolge Chinas Führung vor allem das Ziel, die riesige, weit gehend defizitäre Staatsindustrie sowie das Bankensystem, das hohe Kredite an ebendiese Staatsunternehmen vergeben hat, politisch schonend zu sanieren. Im jetzigen, nicht liberalisierten System habe man es noch in der Hand, sowohl Staatsindustrien als auch chinesische Banken zu schützen und sukzessive auf festere Beine zu stellen. In einem liberalisierten System bräche ein hoher Prozentsatz der Unternehmen und Institute rasch zusammen – eine Katastrophe mit auch politisch schwer zu bewältigenden Folgen. Also wird China nach Meinung Werners voll auf Kontinuität und Stabilität setzen, mit den erprobten Mitteln weiter operieren und auf Zeit setzen. Ob so das „soft landing“ gelingt? Werner: „Eine schwierige Frage …“

Inflation. China hat in den letzten Jahren mit hunderten Milliarden auf den Devisenmärkten interveniert, um den Renminbikurs niedrig zu halten. Jetzt kämpft es mit wachsenden Inflationsraten, was gemäß Lehrbuch eine Zinserhöhung erforderlich machen würde. Doch die Geldpolitik eines Landes kann sich, so lautet ein alter Richtsatz, in Sachen Zins nicht frei bewegen, wenn sie sich hinsichtlich des Wechselkurses festgelegt hat. Eine Zinsanhebung unter den Umständen, denen sich Chinas Führung derzeit gegenübersieht, könnte sehr unerwünschte Folgen zeigen. So bemühen sich derzeit denn auch Pekings Geldpolitiker mit allen anderen zur Verfügung stehenden Mitteln – indem sie etwa Bankkreditvergabe zeitweise glatt verbieten – um eine Dämpfung der Konjunktur. Die Zinspolitik selbst ist bis auf weiteres tabu.

Auch das halten manche für eine unbefriedigende, dem „soft landing“ nicht eben förderliche Situation.

Stephen Roach, Chef-Analytiker von Morgan Stanley, veröffentlichte jüngst seine – durchaus optimistische – Einschätzung der bevorstehenden Ereignisse. Es ist eine, die sich mit jener von Andreas Werner deckt: „China wird jetzt keinen wirtschaftspolitischen Systemwechsel – hin zu frei schwankenden Wechselkursen und einer westlichen Art von Wirtschaftspolitik – zulassen“, so Roach. Trotz gegenüber der Vergangenheit veränderter Umstände setzt Roach auf Chinas bewährten Sinn für Stabilität. Damit habe man schon viele schwierige Situationen gemeistert. Warum nicht auch diese?