"Sex hat etliche Nachteile"

Christos Papadimitriou: "Sex hat etliche Nachteile"

Fortpflanzung. Computerwissenschafter Christos Papadimitriou über die Nachteile von Sex

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Interview: Robert Buchacher

profil: Ihr Forschungsspektrum reicht von Sex als Motor der Evolution über die Faltung von Proteinen und künstliche Intelligenz bis hin zu philosophischen Comics. Kann man denn mit Algorithmen alles in der Welt analysieren?
Papadimitriou: Dieses Jahr wurde auf der ganzen Welt der 100. Geburtstag des großen britischen Mathematikers, Logikers und Philosophen Alan Turing gefeiert, der als Begründer der Computerwissenschaften gilt …

profil: … und dessen „Turing Mashine“ als erstes Modell eines Computers angesehen wird.
Papadimitriou: Turing war äußerst vielseitig, nicht nur an Mathematik und Computerisierung, sondern an jeder Art von Wissenschaft interessiert, an Physik, Biologie, Evolution. Seit Turing haben Computerwissenschafter eine sehr spezialisierte Art des Denkens entwickelt, um das Phänomen Computer zu verstehen. In den vergangenen 20 Jahren ist klar geworden, dass diese Art des Denkens, angewendet auf andere Wissenschaften, völlig neue Einblicke gewährt. Das ist der Rahmen, in dem sich meine Arbeit abspielt.

profil: Gibt es Beispiele?
Papadimitriou: In den vergangenen Jahren wurden Spieltheorie und Ökonomie durch Sichtweisen der Computerwissenschaften revolutioniert. Plötzlich realisierten die Ökonomen, dass alle wirtschaftlichen Transaktionen über Computerplattformen laufen. Auf der anderen Seite realisierten die Computerwissenschafter, dass ihr Interesse gar nicht mehr dem Computer galt, sondern dem Internet. Der Computer ist Vergangenheit, für uns nicht mehr von allzu großem Interesse.

profil: Warum?
Papadimitriou: Er ist ein Vorläufer des Internets. Wir sind an ihm interessiert, wie wir an alter Technologie interessiert sind. Die faszinierende, vorwärtsschauende, bedeutende Entwicklung ist nicht der Computer, sondern das Internet, das aus dem sozialen Bereich kommt. Spieltheorie, Ökonomie, Soziologie, Psychologie, all das kam damit ins Spiel.

profil: Und die Computerwissenschaft hat sich auch diesen Themenfeldern zugewandt?
Papadimitriou: Wir haben versucht, sie zu nutzen und voranzubringen. Ein anderes Beispiel: In den vergangenen 20 Jahren hat die Computerwissenschaft in Interaktion mit der Quantenmechanik versucht, die Grundlagen für einen Quantencomputer zu entwickeln, der viel leistungsfähiger und schneller ist als heutige Computer. Derzeit versuche ich, meine computerwissenschaftlichen Einsichten in Algorithmen auf die Evolutionstheorie anzuwenden.

profil: Mit welchem Ergebnis?
Papadimitriou: Meine Kollegen und ich sind in den vergangenen Jahren zu neuen Erkenntnissen über die Rolle des Sex in der Evolution gekommen. Es geht um die Rekombination von Genen bei der Zeugung von Nachkommen: ein Gen vom Vater, eines von der Mutter. Sex gibt es überall in der Natur, es gibt extrem wenige asexuelle Lebewesen.

profil: Sie reden aber nicht von niedrigen Lebewesen?
Papadimitriou: Doch, sie alle benötigen Sex. Auch Bakterien vermehren sich sexuell, indem sie genetisches Material austauschen. Prinzipiell pflanzen sich alle Lebensformen durch Rekombination fort oder verfügen zumindest über diese Möglichkeit. Sex ist überall.

profil: Würden Sie Sex als den eigentlichen Motor der Evolution bezeichnen?
Papadimitriou: Ja, unsere Ergebnisse legen das nahe. Bis jetzt wurde Sex als eines von mehreren Charakteristika der Evolution betrachtet, das sich in Form eines Sex-Gens entwickelt habe. Und aufgrund gewisser Vorteile, die wir zu verstehen hätten, habe sich dieses Gen ausgebreitet, sodass jetzt alle Lebewesen Sex hätten.

profil: Diese Sicht haben Sie widerlegt?
Papadimitriou: Unsere Forschungen zeigen, dass es Sex von allem Anfang an gab, seit der Entwicklung von DNA, RNA und
Proteinen. Er gehörte zu den Grundbausteinen des Lebens vor drei Milliarden Jahren.

profil: Damit modifizieren Sie aber Darwins Evolutionstheorie.
Papadimitriou: Die Sichtweise von Charles Darwin wurde seit 1860 immer wieder modifiziert. Die wohl radikalste Abänderung geschah schon vor bald 90 Jahren mit dem Neodarwinismus, der Darwins Evolutionstheorie und Mendels Vererbungslehre aufeinander abstimmte. Auf dieser sehr erfolgreichen Theorie basiert auch das heutige Verständnis von Evolution. Aber einige Dinge fehlten, und Sex ist definitiv eines davon.

profil: Darwin selbst hat Sex nicht als Faktor gesehen?
Papadimitriou: In seinem Buch „Der Ursprung der Arten“ erwähnt er niemals Sex, sondern nur sexuelle Selektion, das ist ein bisschen etwas anderes. Das wäre eigentlich das heißere Thema als die Mechanik der Rekombination, die Darwin nicht verstand, denn dazu braucht man die Genetik.

profil: Aber die Erörterung heißer Themen war in der Viktorianischen Zeit wohl nicht möglich?
Papadimitriou: Sicher gab es religiöse Hindernisse. Für Darwin und die viktorianischen Naturforscher war Sex nichts weiter als das Mixen zweier Flüssigkeiten. Aber wenn Sie immer nur zwei Flüssigkeiten mixen, kriegen Sie keine Diversität, sondern nur eine braune Flüssigkeit wie Cola. Der wahre Punkt ist: Das Thema Sex richtete sich gegen Darwins Argumente, daher ließ er die Finger davon. Ich glaube nicht, dass es nur Puritanismus war.

profil: Ist Sex noch immer ein Mysterium?
Papadimitriou: Ich denke, ja. Es ist ein ex­trem komplizierter Mechanismus. Er verlangt Geschlechter, Organe, viel Energie, bedeutet Risiken für den Organismus – und vor allem: Er hat etliche Nachteile. Wenn ein Tier die Option zur asexuellen Reproduktion hätte, also Nachkommen ohne Partner aus sich selbst zu produzieren, wäre das von Vorteil, weil diese Nachkommenschaft alle Gene erben würde, ohne die Gene eines anderen Individuums.

profil: Worin bestünde der Vorteil?
Papadimitriou: Stellen Sie sich vor, jemand erbt die perfekten Gene für das Immunsystem und für jedes Organ, alles ist perfekt. Eine solche Person würde 200 Jahre leben und hätte vielleicht 50 Kinder. Der Punkt ist: Keines der Kinder wäre wie sie selbst, weil sie keinen Partner finden würde, der ebenfalls perfekt ist. Das heißt, Sex zerbricht glückliche Genkombinationen. Aber bei asexuellen Arten würde diese glückliche Kombination sich immer weiter fortpflanzen.

profil: … und letztlich die Welt erobern?
Papadimitriou: Ja, etwas, was in einer Population mit sexueller Fortpflanzung nie passiert. Warum? Um das herauszufinden, haben wir vor vier Jahren zusammen mit Biologen eine neue Theorie der Vermischung entwickelt. Jeder wollte verstehen, warum Sex Fitness begünstigt. Unsere durch die Begründer des Neodarwinismus gestützte Theorie sagt: Sex hat nichts mit Fitness zu tun. Wenn wir alle an Fitness interessiert wären, wäre Sex ein Hindernis. Aber Sex begünstigt etwas anderes, nämlich die Fähigkeit zur Vermischung.

profil: Worin besteht diese Fähigkeit?
Papadimitriou: Unsere Gene treten in verschiedenen Varianten auf, so genannten Allelen. Aber Sex begünstigt keine Allel-Kombinationen, die sehr vorteilhaft sind. Er favorisiert individuelle Allele, die vermischbar sind. Das heißt, sie sind mit vielen anderen Allelen kompatibel, können mit ihnen kooperieren. Mag sein, dass sie in keiner dieser Kombinationen herausragend sind, aber sie können mit einem breiten Spektrum von Allelen kooperieren. Das wird vom Sex begünstigt, und dies ist offenbar ausschlaggebend für das Leben.

profil: Sie befassen sich aber nicht nur mit Sex, sondern mit einer Reihe anderer Forschungsgebiete: Biologie, Genetik, Biomedizin, Biomathematik. Inwiefern kommt dieses Interesse aus dem Forschungsbereich Sex und Evolution?
Papadimitriou: Der Sexfrage galt mein Hauptinteresse in den vergangenen fünf Jahren. Aber ich bin Wissenschafter, daher bin ich an wichtigen tiefen wissenschaftlichen Problemstellungen interessiert.

profil: Sie befassen sich unter anderem mit der Faltung von Proteinen, die aussieht wie ein komplizierter Knäuel von Bändern. Was ist daran so spannend?
Papadimitriou: Ich habe mich mit den algorithmischen Aspekten der Protein-Faltung befasst. Wenn Sie versuchen, die Struktur dieser Faltung mithilfe eines Computers zu entschlüsseln, wird das nicht gelingen, weil sie so komplex ist. Es ist eines jener Probleme, von dem wir wissen, dass die Entschlüsselung wahrscheinlich nicht in vertretbarer Zeit gelingen wird.

profil: Obwohl das ein bedeutsames Forschungsfeld wäre?
Papadimitriou: Natürlich ist das eine relevante Frage: Wie kommt es zu dieser raschen und komplexen Faltung? Ich habe dazu eine Theorie: Diese Proteine falten sich so schnell, so effektiv und so erfolgreich, weil sie durch die Evolution selektiert wurden. Denn ohne Faltung ist ein Protein nutzlos.

profil: Und eine Fehlfaltung kann zu schweren Erkrankungen führen, wie das Beispiel der Prionen zeigt, den Auslösern des Rinderwahns BSE und der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit beim Menschen.
Papadimitriou: Es gibt Proteine, die in zwei verschiedenen Zuständen auftreten, und das ist ein Minus. Vermutlich hat die Evolution über Millionen Jahre Proteine selektiert, die nicht in verschiedenen Faltungszuständen auftreten. Denn eine Fehlfaltung kann Krankheit bedeuten, weil die Proteine miteinander kommunizieren und eine Idee voneinander haben. Wenn Sie viele krank machende Proteine im Körper haben, könnten dadurch andere, richtig gefaltete Proteine dazu verleitet werden, den krank machenden Proteinen zu folgen, den Körper oder Organe zu befallen und schreckliche Krankheiten zu verursachen, wie man am Beispiel BSE sieht.

profil: Beschäftigen Sie sich auch mit der Entstehung von Krebs?
Papadimitriou: Wir stehen am Beginn einer Revolution, weil wir eine unvorstellbare Datenmenge über so viele Krebspatienten und so viele verschiedene Krebsarten angesammelt haben, dass wir dabei sind, Verbindungen zu erkennen, die wir zuvor nicht gesehen haben, und dadurch Behandlungswege beschreiten können, die zuvor nicht möglich erschienen.

profil: Neuen möglichen Behandlungs­wegen geht aber eine Revolution im Verständnis von Krebs voraus?
Papadimitriou: Ich denke, ja. Die Basis dieser Revolution könnte die riesige Menge von Krebsgenom-Daten sein.

profil: Riesige Datenmengen werden heute Tag für Tag in vielen Lebensbereichen produziert. Umso wichtiger erscheinen Datenanalyse und Datenmanagement. Welchen Beitrag können Ihre Algorithmen dazu leisten?
Papadimitriou: Das ist heute eine der wichtigsten Fragen der Wissenschaft. Ich bin leitender Wissenschafter eines neu gegründeten Instituts, das die theoretischen computerwissenschaftlichen Grundlagen für die Anwendung in verschiedenen Forschungsgebieten erarbeiten soll.

profil: Sie müssen aus dem Datenwust versteckte Gesetzmäßigkeiten herausdestillieren?
Papadimitriou: Wir suchen nach den Perlen im Daten-Ozean. Es geht nicht nur um Krebs oder Proteomics, sondern um jeden Forschungsbereich. Ein Beispiel: Hier an der Universität Berkeley arbeitet der As­tronom Joshua Bloom. Er ist Pionier auf einem Gebiet, in dem es um die Analyse großer Datenmengen geht: Jede Nacht gibt es am Himmel mehrere hundert Milliarden Ereignisse, die interessant sein könnten. Ein Astronom kann vielleicht hundert davon beobachten.

profil: Deshalb suchen Computer nach den wirklich spannenden Ereignissen?
Papadimitriou: Ja, aber Sie brauchen dazu Algorithmen, um aus Hunderten Milliarden Ereignissen jene herauszufinden, die es wert sind, näher betrachtet zu werden. Im nächsten Herbst starten wir ein eigenes Programm, das sich speziell mit solchen Fragen beschäftigt.

profil: Manche Leute glauben, Daten würden den wissenschaftlichen Genius ersetzen. Wird das passieren?
Papadimitriou: Ich glaube das nicht. Ich denke, dass Cleverness und wissenschaftliche Hingabe immer der Motor der Forschung sein werden. Daten sind nur ein Werkzeug.

profil: Sie haben sich auch mit künstlicher Intelligenz beschäftigt. Stimmt der Eindruck, dass in diesem Bereich die Versprechungen größer waren als das Erreichte?
Papadimitriou: Ja, das stimmt. Die Forschungen starteten in den Fünfzigern. Es war ein sehr ambitioniertes Projekt, weil die Leute noch nicht an die Leistungsstärke von Computern gewohnt waren. Sie sahen, dass Computer kleine Probleme lösen konnten, und waren beeindruckt. Diese kleinen Anfangserfolge verleiteten zur Annahme, Artificial Intelligence könnte die Welt erobern. Das wiederholte sich in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren. Es war ein Auf und Ab von Versprechungen und Enttäuschungen. In den letzten zehn, 20 Jahren gab es keine Versprechungen mehr.

profil: Außer dem Versprechen, die Maschinen würden imstande sein, selbstständig zu lernen.
Papadimitriou: Sobald die großen Versprechungen aufhörten, begann die seriöse Arbeit. Mittlerweile gibt es in den Computerwissenschaften und in der Mathematik ein sehr seriöses, eher lautloses Forschungsfeld zum Thema lernende Maschinen. Ein Ergebnis, das meine Kollegen und ich erst kürzlich präsentierten, ist, dass Fragen der Evolution und Fragen lernender Maschinen auf eine sehr ungewöhnliche, überraschende und mysteriöse Weise zusammenkommen. Sie haben viel gemeinsam.

profil: Sie haben zusammen mit Kollegen einen philosophischen Zeichenroman mit dem Titel „Logicomix. Eine epische Suche nach der Wahrheit“ verfasst. Was fasziniert Sie an Comics?
Papadimitriou: Der Comicroman erzählt eine faszinierende Geschichte. Es geht um die fundamentale Suche nach Wahrheit, einer der Schauplätze ist Wien.

profil: Speziell der Wiener Kreis um Kurt Gödel, Moritz Schlick und Ludwig Wittgenstein. Die reden über Logik?
Papadimitriou: Genau. Es war die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, als sich Mathematiker der Logik zuwandten, um die fundamentalen Fragen der Mathematik zu lösen, mit viel Leidenschaft und menschlichem Leid. Als Erzähler tritt der britische Philosoph, Mathematiker, Logiker und Sozialkritiker Bertrand Russel auf.

profil: Das, gemessen am Thema, ungewöhnlich erfolgreiche Buch ist mittlerweile in mehreren Auflagen, auch auf Deutsch erschienen.
Papadimitriou: Es wurde in 30 Sprachen übersetzt und hat sich eine Million Mal verkauft. Und es war auf Platz eins der „New York Times“-Bestsellerliste.

profil: Das wäre mit einem Textroman wohl schwer erzielbar?
Papadimitriou: In einem Textroman müssen Sie viel Energie darauf verwenden, den Schauplatz zu beschreiben. Einen Comic schlagen Sie auf, und der Schauplatz ist da. Er ist die ideale Form für einen historischen Roman.

Papadimitriou live
Christos Papadimitriou hält am Montag, dem 17. Dezember, um 17 Uhr einen Vortrag in der Raiffeisen Lecture Hall am IST Austria Campus in Klosterneuburg. Thema: „Computational ­Insights and the Theory of Evolution“. Details, auch über Shuttle-Verbindungen von der TU Wien und von der U4 Heiligenstadt unter www.ist.ac.at.

Christos H. Papadimitriou, 62, ist C. Lester Hogan Professor für Elektrotechnik und Computerwissenschaften an der University of California in Berkeley. Der gebürtige Grieche studierte am Polytechnikum in Athen, machte 1974 den Master an der US-Eliteuniversität Princeton in Elektrotechnik und 1976 das Doktorat in Elektrotechnik und Computerwissenschaften. Papadimitriou lehrte am Polytechnikum Athen, an den Universitäten Harvard, Stanford, San Diego und am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston. Er ist Senior Scientist des erst im vergangenen Mai von der Simon Foundation mit einem Startkapital von 60 Millionen US-Dollar (46 Millionen Euro) an der Universität Berkeley gegründeten Simon Institute on the Theory of Computing. Papadimitriou ist Autor zahlreicher Bücher über die Theorie des Computers, über Algorithmen und Komplexität. Er verfasste einen Roman über Alan Turing, den Vater der Computerwissenschaften, und zuletzt gemeinsam mit anderen Autoren einen philosophischen Comicroman über die schwierige Suche nach der Wahrheit. Er spielt außerdem Keyboard in einer Rockband.

Apostolos Doxiadis, Christos H. Papadimitriou: Logicomix. Eine epische Suche nach Wahrheit. Atrium-Verlag, Hamburg, 2010, 352 S., EUR 25,60