Die Chronik eines un-angekündigten Todes

Chronik: Tod in der Pause

Hintergründe der Bluttat an einer Wiener Schule

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Am Tag nach der Bluttat hat NatasŠa N. keine Erklärung für das, was passiert ist. Die Frau sitzt zusammengesunken an ihrem Schreibtisch, immer wieder muss sie sich die Tränen abwischen.

„Es tut mir so leid“, sagt sie, „ich kann das nicht verstehen.“ Ihr Sohn Nikola sei ein ganz normaler Junge, verteidigt sie ihn. Kein Raufer, schon gar kein Schläger. Es habe auch nie Schwierigkeiten mit ihm gegeben – bis auf die ganz normalen Probleme. „Wie bei jedem Kind.“

Am Donnerstag der Vorwoche stach der 15-jährige Nikola N. seinen 14-jährigen Mitschüler Kevin G. mit einem Taschenmesser nieder. Einmal bohrte er die acht Zentimeter lange Klinge in die Brust, ein zweites Mal in den Bauch des Opfers. Vier Stunden lang kämpfte ein Ärzteteam des Wilhelminenspitals im Schockraum um das Leben von Kevin G. Um 15 Uhr starb er an seinen Verletzungen.

Die beiden Jungen waren Schüler des Polytechnischen Lehrgangs in der Schopenhauerstraße im 18. Wiener Gemeindebezirk. Gegen 10 Uhr kam es in der Pause zu einer Rauferei zwischen zwei anderen Jungen. Kevin G. soll daneben gestanden und gelacht haben. Laut Berichten von Augenzeugen habe Nikola ihn daraufhin angeschrien: „Was lachst du so deppert, du Hurenkind?“

Über das, was danach passierte, gehen die Aussagen auseinander. Nikola behauptet, er sei von Kevin G. gewürgt worden und habe in einer Abwehrreaktion „aus Reflex“ einmal zugestochen. An den zweiten Messerstich erinnert er sich nicht. Einige Mitschüler sagten der Polizei bei der Einvernahme dagegen, dass der Junge bereits mit dem aufgeklappten Messer auf sein Opfer losgegangen sei. Dass Nikola von seinem späteren Opfer gewürgt worden sei, bestätigen sie nicht.

Widersprüche. Die Polizeidirektion Wien scheint derzeit den Klassenkameraden Nikolas mehr Glauben zu schenken. Der Täter verwickle sich in Widersprüche, sagt Einsatzleiter Josef Koppensteiner. Anfang dieser Woche will er noch einige Klassenkameraden Nikolas einvernehmen und damit die Ermittlungen abschließen. Bereits vergangenen Freitag wurde Nikola N. in die Justizanstalt Josefstadt überstellt. Bei einer Verurteilung drohen ihm wegen Körperverletzung mit tödlichem Ausgang zwischen zweieinhalb und fünf Jahren Haft.

Ein Einzelfall, gewiss. Und doch passt er ins Bild, das Psychologen von der zunehmenden Gewalt an Schulen zeichnen (siehe profil 34/05). Zwar liegt Österreich in dieser Hinsicht international im untersten Drittel. Doch immer öfter werden Jugendliche zu Tätern: In den vergangenen vier Jahren stieg laut dem Bundeskriminalamt die Zahl der Anzeigen wegen schwerer Körperverletzungen durch Jugendliche um die Hälfte. Schwere Körperverletzungen nahmen um fast zwei Drittel zu.

In Österreichs Schulen beobachten Lehrer und Psychologen vor allem eine Intensivierung der Gewalt. Die Leiterin der Wiener Schulpsychologie, Mathilde Zeman, spricht von einer gesunkenen Hemmschwelle: „Raufereien gab es immer. Aber wenn einer gesagt hat, es ist aus, ich ergebe mich, dann war’s das. Heute wird oft weitergetreten.“ Auch diese Entwicklung wird durch die Zahlen des Bundeskriminalamts belegt: 2001 beging nur einer von sieben jungen Straftätern ein Delikt, das mit mindestens drei Jahren bestraft wird. Heute ist es jeder Fünfte.

Dass vergangene Woche ausgerechnet in einer Polytechnischen Schule ein Junge erstochen wurde, mag Zufall sein. Doch in den Städten rangiert diese schon länger als Auffanglanger für Leistungsschwache und Problemfälle. Einen „Wurmfortsatz der Schulbildung“ nennt Elternvereinsobmann Kurt Nekula das Polytechnikum. Denn wer die Hauptschule mit guten Noten abschließt, wechselt vor der Berufsausbildung lieber für ein Jahr in eine Handels-akademie oder Höhere Technische Lehranstalt.

Nikola N. hatte diese Chance nicht. Vor wenigen Wochen bestand er in der Hauptschule Koppstraße im 16. Wiener Gemeindebezirk eine Nachprüfung in Mathematik. Davor hatte er im selben Fach bereits einmal wiederholt.

Krisenfeuerwehr. Die Sparmaßnahmen der Bundesregierung treffen Schulen wie jene in der Koppstraße besonders hart. 83 Prozent Ausländeranteil zählt man hier und ist stolz auf das gepflegte Gebäude und den gepflegten Umgang zwischen den verschiedenen Nationalitäten. Für die Beschäftigung mit den persönlichen Problemen der multikulturellen Kinderschar bleibt bei 30 Schülern pro Klasse jedoch kaum Zeit. Zwar steht jede Woche eine Stunde „Soziales Lernen“ am Programm, doch in hartnäckigeren Fällen muss eigens ein Psychologe angefordert werden.

Schulpsychologin Zeman wünscht sich daher mehr Fachkräfte, um in Zukunft öfter präventiv zur Stelle sein zu können. „Derzeit sind wir nur so etwas wie die Feuerwehr“, bedauert sie (siehe Interview Seite 38). Laut Elternvertreter Nekula fehlen an Wiens Schulen gar 700 Lehrer für die psychologische Betreuung der Schüler. In manchen Teilen der Bundeshauptstadt habe die schwarz-blaue Regierung das Angebot mittlerweile halbiert.

Die Gründe für Nikolas Gewalttat kennen am Morgen danach auch seine Mitschüler und Lehrer nicht. Vor dem Eingang zum Polytechnikum Schopenhauerstraße erinnern Blumensträuße, Friedhofskerzen und eine Trauerfahne an Kevin G.. „Bitte kommt in die Schule ohne Messer“, steht auf einer weißen Schleife. Bereits an den beiden Tage zuvor habe Nikola das Messer mit in die Klasse gebracht, erzählt ein Mädchen, das den Burschen schon aus der Hauptschule kennt. Die Schulkollegin teilt die Einschätzung von Nikolas Mutter gar nicht. „Wenn er gut drauf war, war er eh lieb. Aber er hatte auch schlechte Tage“, sagt sie.

Problemkind. In der Koppstraße 110, Nikolas früherer Hauptschule, erinnert man sich an ein Problemkind. Immer wieder habe der Junge Lehrer wüst beschimpft und landete dafür beim Direktor. „Ich lasse mir nichts gefallen“, sei seine Grundeinstellung gewesen. Zu gröberen Raufereien sei es trotzdem nicht gekommen, denn auf die körperliche Konfrontation mit seinen Mitschülern habe sich der klein gewachsene Bub nicht eingelassen.

Nikolas Aggression führen die Lehrer in der Koppstraße auch auf die schwierigen Familienverhältnisse zurück. Der Vater führe zu Hause ein sehr strenges Regiment, auch zu körperlicher Gewalt sei es regelmäßig gekommen. „Nachdem er wieder einmal etwas angestellt hatte, habe ich Nikola gesagt, dass ich seinen Vater in die Schule bestellen will“, erzählt eine Lehrerin, die anonym bleiben will. „Wenn Sie zu Hause anrufen, hat er geantwortet, dann klebt mir der Vater wieder eine.“

Nur wenige hundert Meter von der Schule entfernt betreiben Nikolas Eltern ein kleines Dienstleistungsunternehmen. Während des Jugoslawien-Kriegs waren sie mit ihren zwei Kindern aus Serbien nach Österreich geflohen. Nikola, der Jüngere, war damals zweieinhalb Jahre alt. Er ist in Wien aufgewachsen und – wie der Rest der Familie – längst österreichischer Staatsbürger. „Eigentlich wollte Nikola dieses Jahr eine Kochlehre beginnen“, erzählt die Mutter. „Aber er hat bisher keinen Lehrplatz gefunden.“

Am Donnerstagnachmittag sah Verteidiger Peter Philipp seinen Mandanten bei der polizeilichen Einvernahme zum ersten Mal. Kalkweiß sei der Junge gewesen und schwer geschockt. „Er saß neben seiner Mutter, und beide haben geweint“, erzählt Philipp. Von einem kaltblütigen Mord könne sicher nicht die Rede sein, meint der Verteidiger. Sollte es zu einer Anklage kommen, wird darüber letztlich das Gericht entscheiden.

Von Alexander Dunst und Kaspar Fink
Mitarbeit: Rosemarie Schwaiger