Chronik eines ange-kündigten Wunders

Chronik eines angekündigten Wunders

Gaza-Evakuierung: Jüdi-sche Siedler wehren sich

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Es ist Donnerstag, der 4. August. In genau elf Tagen wird sich im Gelobten Land Israel, genauer: im Gazastreifen, ein Wunder ereignen. Wunder gehören in dieser Weltregion von alters her zum Leben. Hier betrachtete man einen Propheten immer schon als Vertreter eines anerkannten Gewerbes, hier ging schon mal einer übers Wasser, hier sprach Gott aus einem brennenden Dornbusch. Das Wunder des 15. August wird sich in diese ewige Kette des Unerklärlichen, Erhabenen einfügen, sagen die, die daran glauben.

Die Dornbüsche am Straßenrand stehen um die Mittagszeit knapp vor der Selbstentzündung. Die brütende Hitze ist so unerträglich, dass sogar die Strauße auf einer Farm nahe der Straße von der Kleinstadt Ofakim in Richtung Gaza jede Bewegung meiden und starr vor sich hindösen. Nur die israelischen Soldaten an den Checkpoints sind hellwach. Bis vor Kurzem waren sie rund um die Siedlungen des Gazastreifens postiert, um Israelis vor palästinensischen Angriffen zu beschützen, nun lautet ihre Order jedoch, jeden Israeli, der nicht rechtmäßig in einer der jüdischen Siedlungen im Gazastreifen gemeldet ist, am Eintritt zu hindern. Die Welt der jüdischen Siedler steht plötzlich Kopf. Und das ist nur der Anfang.

Jedes Wunder setzt eine drohende Katastrophe voraus. In einer Zeltstadt am Strand von Gaza mit dem poetischen Namen Shirat Hayam – Lied des Meeres – sitzen Siedlerfamilien unter einer Gemeinschaftsplane beisammen, essen zu Mittag und besprechen wieder und wieder den bevorstehenden Untergang: Gemäß Beschluss der israelischen Regierung, des Parlaments und mit Zustimmung des Obersten Gerichtshofes werden die jüdischen Siedler ab 15. August aus dem Gazastreifen abgesiedelt, und sobald auch die israelische Armee abgezogen ist, können die Palästinenser das bisher von den Israelis beanspruchte Territorium in Besitz nehmen.

Die jüdischen Siedler von Shirat Hayam sind in einer seltsam zwiespältigen Stimmung. Angesichts ihrer existenziellen Bedrohung demonstrieren sie geradezu trotzig Lebensfreude. Sie haben eine aufblasbare Hüpfburg für die Kinder errichtet, eine Schaumkanone und einen Zuckerwattestand. Alle Besucher, besonders die Journalisten, sollen sehen, wie schön und friedlich dieser Ort sein kann. Doch die zur Schau gestellte gute Laune schlägt schnell in mürrische Aggressivität um, wenn Journalisten Fragen nach der Zukunft von Gaza stellen wollen.

Frevel. Ziporah, 31 und Mutter dreier Kinder, ist eine der Siedlerinnen von Shirat Hayam. Als orthodoxe Jüdin war es für sie und ihren Ehemann eine religiöse Pflicht, hierher zu ziehen, als sie hörten, dass Gaza bald den Palästinensern gehören sollte. Denn in Gaza, sagen sie, lägen heilige Stätten, die in der Thora erwähnt seien. Dies sei das Land der Juden, und Araber dürften hier nur dann leben, wenn sie sich an bestimmte Vorschriften hielten, die in der Thora festgehalten seien. „Die Palästinenser glauben, es sei ihr Land!“, ereifert sich Ziporah und kann den Frevel kaum fassen.

Die religiösen Siedler halten nichts von den Argumenten, mit denen die Regierung Sharon gemeinsam mit der linken Opposition für den Abzug aus Gaza geworben hat: dass die Kosten für die Sicherung der Siedlungen durch die Armee enorm hoch seien, dass die Siedlungen international einhellig als illegal verurteilt würden und dass die Territorien in Gaza langfristig ohnehin nicht zu halten seien. Auch die taktische Überlegung, dass durch die Aufgabe von Gaza (und vier kleiner Siedlungen im Westjordanland) möglicherweise mehr besetzte Gebiete im Westjordanland auf Dauer israelisch bleiben können, interessiert die jüdische Gaza-Gemeinschaft nicht.

Ziporah und ihren Freunden ist es auch völlig egal, dass die Entscheidung demokratisch getroffen wurde. Ein Premierminister kann nicht über Gottes Land verfügen. Und Demokratie? „Wir glauben nicht an Demokratie, wir erwarten die Ankunft des Messias“, lächelt die gläubige Jüdin.

Wie es Gott gefällt. Ziporah und ihre Familie gelten jetzt als Siedler von Shirat Hayam, tatsächlich sind sie wie fast alle anderen, die in den Zelten hausen, erst gekommen, als sie vom Abzugsplan gehört haben. In Shirat Hayam hatten nie mehr als 40 Leute gewohnt, zuletzt war die Bevölkerung auf eine einzige Familie geschrumpft. Jetzt aber muss das Land gerettet werden, deshalb siedelt, wer kann, um der Welt zu zeigen, wie schnell die Siedlung wächst.

Das Zusammenleben auf engem Raum in der Schwüle der Zeltstadt schafft sektenartige Harmonie. Von hinten naht bald der Untergang, vorne rauscht das Mittelmeer, der heilige Streifen zwischen dem Zaun und dem Wasser misst etwa 200 Meter, dort werden Haushalt und Gebet gemeinsam verrichtet. Über allem wacht Gott. Ziporah und ihre Mitstreiter können gar nicht anders, als ein Wunder kommen zu sehen. Spätestens am 15. August würden die Politiker plötzlich zur Besinnung kommen oder die Soldaten den Befehl, Juden abzusiedeln, verweigern, oder Gott werde irgendeinen anderen Weg finden. „Dafür beten wir“, sagt Ziporah und geht zu den anderen Frauen, die den Abwasch erledigen, während junge Männer daneben ein baufälliges Haus renovieren und andere einen Graben für eine neue Wasserleitung ausheben. Die Zukunft will erarbeitet werden. Alle wissen, dass Gott gefällt, was sie tun.

Je näher der Tag des Wunders rückt, umso enger rücken die Siedler von Gaza zusammen in ihrer Überzeugung, Recht zu haben, während die Welt draußen irrt. In der Siedlung Gadid halten sie eine Dankesfeier ab, in der sie die unglaubliche Zahl von 1200 palästinensischen Anschlägen beschwören, von denen die Siedlung in den vergangenen Jahren betroffen gewesen sei, und trotzdem habe nie ein Bewohner von Gadid Schaden genommen.

Aussichtslos. Doch das Unheil naht. Die Armee hat ihre Einsatztruppen unweit der Grenze zum Gazastreifen im riesigen Lager Re’im kaserniert. Die Regierung unter Premier Ariel Sharon verkündet täglich, von ihrem Plan nicht abrücken zu wollen, laut Umfragen befürwortet die Mehrheit der Bevölkerung diese Entscheidung. Die internationale Politik beglückwünscht Sharon zu seinem Schritt. Die Lage der Siedler scheint aussichtslos.

Der Rat der jüdischen Gemeinden in Judäa, Samaria und Gaza, auch Yesha Council genannt, versucht verzweifelt, Protestmärsche nach Gaza zu organisieren, doch die Armee hat keine großen Probleme, die großteils jungen Leute weit vor der Grenze zu Gaza zu stoppen. Nur vereinzelten Aktivisten gelingt es, sich mit falschen Ausweisen oder in Säcken versteckt in die Siedlungsgebiete zu schmuggeln. Am Abend erholen sich tausende Jugendliche im Park der Stadt Ofakim von den Strapazen des erfolglosen Anrennens gegen die Bannmeile der Armee.

Mittags sitzt der prominente Sänger und Abzugsgegner Ariel Zilber auf der Terrasse eines Restaurants im Schatten und plant per Handy seine nächsten Auftritte, die den bedrohten Siedlern Mut machen sollen. „Ich singe auch zu den Soldaten, damit sie nachdenken, was sie da eigentlich tun“, sagt der ergraute Liedermacher. Doch seine Widerstandstournee wird auch nichts ändern.

Stattdessen macht sich in den Siedlungen Fatalismus breit. Josef Gaday, ein 34 Jahre alter Anwalt, dirigiert ein paar Arbeiter durch seine Villa, die alles auf einen Lastwagen laden, was an Hab und Gut transportabel ist. Ein Laufband, ein Schlagzeug, eine Skiausrüstung. Das meiste ist bereits verladen, vieles muss dableiben: der Marmorboden, die Klimaanlage, die Pflanzen im Garten. Josef Gaday ist ein eher stiller, überlegter Typ. Er räumt ein, dass der Abzug möglicherweise eine gute Sache sei, auch wenn er ihn persönlich hart trifft. „Ich werde nie wieder so eine Villa besitzen“, sagt er bitter.

Der junge Anwalt gehört nicht zu jenen Siedlern, die aus religiösen Motiven im Gazastreifen leben. Seine Familie zog 1993 in die vorwiegend säkulare Siedlung Nisanit, weil das Land billig war. Gaday ist sich bewusst, dass es für fremde Ohren absurd klingt – aber er mag Nisanit, weil es so friedlich und sicher sei. Zwar sei einmal eine Rakete auf dem Nachbargrundstück gelandet, aber in der Siedlung gebe es keine Kriminalität, keine Drogengefahr für die Kinder. Gaday entschuldigt sich, er muss die Arbeiter anleiten, wie die schweren Tontöpfe aus dem Garten transportiert werden müssen.

Nisanit leert sich. Die meisten Häuser sind geräumt, vor anderen stehen Möbelwagen oder Container, das Gemeindezentrum hat geschlossen. 96 Prozent aller Familien von Nisanit hatten bis Ende Juli um Kompensation für ihre Häuser angesucht und damit in den Abzug eingewilligt. Zwei Wochen vor dem angekündigten Wunder glaubte hier bereits niemand mehr daran. Nur im hinteren Teil der Ortschaft haben sich nebeneinander ein paar orthodoxe Familien eingemietet, um die Bewohner, die längst nicht mehr da sind, „zu unterstützen“. Assaf Klein und seine Frau und drei Kinder wollen in Nisanit bleiben, bis die Soldaten kommen. „Man darf das Land nicht den Palästinensern geben, sie sind unsere Feinde“, sagt er. Wenn die Soldaten an seine Tür klopfen, will der 25-jährige Tontechniker sie umarmen und ihnen sagen, dass er sie liebt. „Vielleicht werden sie dann unverrichteter Dinge wieder abziehen“, hofft Klein. Er habe gerade gehört, dass ein Siedler in Gush Katif zwei schwere Wunden hatte, von denen eine plötzlich verschwunden sei. Das sei doch zweifellos auch ein Wunder.

Neues Zuhause. Doch Assaf Klein und die herbeigeeilten religiösen Siedler können den Trend nicht aufhalten. Nisanit gibt es nicht mehr.

Wenige Kilometer weiter nördlich in Nitzan, nahe der Stadt Ashkelon, haben viele ehemalige Bewohner von Nisanit ein neues Zuhause gefunden, zumindest vorübergehend. Die Regierung hat so genannte „Caravillas“ bereit gestellt, eine Mischung aus Caravans und Villen. Tatsächlich handelt es sich um Fertighäuser mit gedecktem Ziegeldach und einer Wohnfläche von 60 oder 90 Quadratmetern. Einige haben ihre neuen Eigenheime bereits bezogen und fühlen sich recht wohl. Ihre früheren Häuser waren zwar größer, dafür wohnen sie jetzt näher an der Metropole Tel Aviv.

Die Caravillas symbolisieren den Sieg des demokratischen Mehrheitswillens über den Widerstand der Minderheit, des säkularen Realitätsbezugs über das religiöse Sendungsbewusstsein, des Pragmatismus über das Wunder.

In Shirat Hayam wird dieser säkulare Ungeist verdammt. Wenn sich das Wunder nicht einstellt, muss man es eben erzwingen. Nadia Matar hat in den vergangenen Tagen zusammen mit ihrem Nachbarn in ihren Gärten in Gush Katif 300 Quadratmeter Rasenziegel auslegen lassen. Matar ist Mitglied der rechtsgerichteten Gruppierung Frauen in Grün, die ein klares Ziel verfolgt: Die Palästinenser dürfen keinen Staat haben. Die resolute Frau will nicht bloß auf ein Wunder hoffen, um die jüdischen Siedlungen zu retten. Ihr „4-Punkte-Plan“ enthält neben dem frommen Wunsch, dass sich über 90 Prozent der Siedler dem Räumungsbefehl widersetzen würden, auch das Vorhaben, mit bis zu 40.000 Menschen von draußen jedes Haus der Siedlungen zu „einer Festung“ zu machen. Der Kampf gegen die Araber diene nicht nur dem Fortbestand des jüdischen Gaza, sondern auch des christlichen Europa, erklärt Matar, denn „die Araber wollen erst die Juden loswerden und dann die Christen“.

Rassismus mischt sich mit religiösen und politischen Überzeugungen. Daraus entsteht Fanatismus – und plötzlich Terror.

Am 4. August fährt ein 19 Jahre alter desertierter israelischer Soldat mit einem Bus in die Stadt Shfaram im Norden Israels, die vorwiegend von israelischen Arabern bewohnt wird, und eröffnet im Bus das Feuer auf den Fahrer und die Passagiere. Vier Araber sterben, der Attentäter wird von der Menge gelyncht. Der junge Mann war in Kontakt mit der verbotenen rechtsextremen jüdischen Kach-Gruppierung gestanden. Die Nation verurteilt den Akt und nennt den Täter unzweideutig einen „jüdischen Terroristen“.

Prüfungen Gottes. Die frommen Siedler wollen mit solcher Gewalt nichts zu tun haben. Sie haben ihre Waffen längst abgegeben. Sie beten. Doch sie beginnen den Staat Israel zu hassen. Ziporahs Mann sagt, die Familie müsse sich „total vom Staat Israel lösen“. Spät, sieben Tage vor dem angekündigten Wunder, setzt Finanzminister und Abzugsgegner Benjamin Netanjahu ein Zeichen und verlässt die Regierung, doch seine Aktion wird eher die nächsten Wahlen als die bevorstehende Evakuierung beeinflussen. Obwohl die Gesetze der politischen Wahrscheinlichkeit auf Gottes Plan nicht angewandt werden können, fürchten die Siedler allmählich, dass Gott sie nicht erhören könnte.

Ziporah weiß, was das bedeuten würde: „Gott hat uns nicht verlassen. Im Gegenteil, er erlegt uns schwierige Prüfungen auf. Wir müssen weiter daran glauben, dass der Messias kommt, um uns zu erlösen.“ Auch wenn vorher, am kommenden Montag, dem Tag, an dem das Wunder ausbleiben wird, Soldaten in den Siedlungen an jede Tür klopfen werden. Ziporah sagt, sie würde ihrem ältesten Sohn diesen Moment gern ersparen. Aber er sei alt genug, um zu verstehen, worum es gehe, und müsse lernen, dass in der Welt nicht alles rosa und das Unrecht oft mächtiger sei.

Den Glauben an ein Wunder könne das nur stärken.

Von Robert Treichler/Gaza