Teufel an der Wand

Debatte. Anders als Tonträger und Filme gelten Bücher als etablierte Kulturträger

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Die Fehlleistungen der Musikindustrie sollten für das internationale Verlagswesen wie "Köpfe auf Pfählen“ wirken: So mahnte unlängst Dan Franklin, Chef der britischen Digitalabteilung des Verlagsriesen Random House, in einer Analyse für die Online-Kritikplattform "The Quietus“. Die Metapher klingt derb, greift jedoch immer noch zu kurz, denn auf dem anglo-amerikanischen Buchmarkt hat das Gemetzel längst begonnen.

Die Statistiker kommen den Ereignissen kaum mehr nach: Noch im April hatte der Marktforscher iSuppli bei gedruckten Büchern einen Umsatzrückgang von lediglich fünf Prozent bis zum Jahr 2014 prognostiziert. Zeitgleich meldete der US-Verlegerverband AAP aber bereits einen tatsächlichen Rückgang um ein sagenhaftes Viertel gegenüber dem Vorjahr bei gleichzeitigem Wachstum von fast 170 Prozent im E-Book-Bereich, das den finanziellen Verlust am physischen Markt nicht annähernd wettmacht. In Großbritannien hat die tief verschuldete Musik-Megastores-Gruppe HMV ihre (mit mehr als 300 Filialen europaweit) marktbeherrschende Buchhandelskette Waterstone‘s um die erschreckend geringe Summe von 53 Millionen Pfund an den russischen Milliardär Alexander Mamut abgestoßen. Im englischsprachigen Bereich des Online-Verkaufsportals Amazon, das auch Kindle, den erfolgreichsten Reader, vertreibt, haben E-Books physische Bücher längst überholt.

Genau wie in den aufgeregten Frühzeiten der "neuen Musikökonomie“ vor sechs Jahren mit ihren bald enttarnten MySpace-Mythen wird auch der gegenwärtige Aufstieg der digitalen Literatur als Ermächtigung des kleinen Mannes dargestellt - in diesem Fall verkörpert von dem 60-jährigen Hobbyautor John Locke, der im Eigenverlag bereits über eine Million Kindle-Exemplare seiner neun Romane verkauft hat. Der Erfolg seines Agentenhelden Donovan Creed, eines "sehr harten Mannes mit einer Schwäche für sehr leichte Frauen“, wird in den britischen Medien abgefeiert, als hätte es nie einen Massenmarkt für Trivialliteratur gegeben. "Die Verleger werden zittern. Die Agenten und Lektoren auch“, schrieb der Londoner "Independent“ vergangene Woche. Diesseits des Ärmelkanals herrschen entspanntere Töne. In Deutschland wurden 2010 insgesamt nur doppelt so viele E-Books verkauft, wie John Locke allein abgesetzt hat. Nicht mehr als zwei Prozent der deutschen Literaturklientel haben sich weitgehend auf das elektronische Buch umgestellt. Der Hauptverband des österreichischen Buchhandels will überhaupt erst im kommenden Herbst seine ersten statistischen Erhebungen zum Thema veröffentlichen.

Ernsthaft Bibliophilen wie dem "Falter“-Kritiker Klaus Nüchtern geht die minderwertige sinnliche Erfahrung des "leichengrauen“ Kindle-Displays nach wie vor gegen den Strich. Im Gegensatz zum Tonträger, der schon mit dem Übergang zur CD seinen Charme einbüßte, besitze das Buch immer noch haptische Vorzüge, etwa das Gefühl des in die Buchmitte vordringenden Lesezeichens: Beim Reader sei man dagegen "immer auf Seite eins“. In der Musik hätten sich mit der Digitalisierung die Hörgewohnheiten geändert, meint Nüchtern. Statt ganzer Alben werden meist nur einzelne Songs heruntergeladen. "In der Literatur aber bleibt das Album intakt. Niemand saugt sich ein einzelnes Romankapitel runter.“

Was aber, wenn der ganze Roman, wie es bei sieben von zehn angloamerikanischen E-Book-Bestsellern bereits der Fall ist, um den Schleuderpreis eines einzelnen Songs verkauft wird? Wer einen John Locke um 99 Cent erworben hat, ist nicht mehr bereit, das Zehnfache oder mehr für Produkte der großen Verlage hinzulegen. Es winkt die über diverse Torrents oder Portale wie scribd.com jederzeit erhältliche Versuchung der Raubkopie.

Die Industrie müsse "endlich aufwachen“, erklärte im Mai das Medienanwaltsunternehmen Wiggin - und malte den Teufel an die Wand: Ein Drittel der E-Reader- und Tablet-Benützer in Großbritannien konsumierte demnach bereits Raubkopien von E-Books. Selbst in der an illegalen Musikdownloads kaum beteiligten Kernzielgruppe der Frauen über 35 bekennt sich jede achte zur elektronischen Buchentwendung. Fraglos wittert Wiggin hier ein Geschäft im Kampf um das Urheberrecht, das Nachverfolgen der Bewegungen der vergleichsweise winzigen Dateien ist aber praktisch unmöglich. Knacken lässt sich grundsätzlich jedes E-Book, auch gescannte Druckausgaben lassen sich mittels OCR-Technologie (optische Zeichenerkennung) problemlos ins E-Book-Format verwandeln.

Die verschlafene Strategie des deutschsprachigen Verlagswesens dem elektronischen Buch gegenüber birgt eine vom Musikgeschäft her bekannte große Gefahr: dass der Konsum der Raubkopie sich popularisiert, noch ehe ein legaler Markt sich etabliert hat. Derzeit führen nur 35 Prozent der deutschen Verlage E-Books, zumindest 85 Prozent wollen mittlerweile ihr Sortiment vergrößern beziehungsweise in den Markt einsteigen. Die Dringlichkeit der Angelegenheit scheint sich also langsam herumzusprechen. "Hardware und Inhalte wachsen parallel“, meint Benedikt Föger, Chef des Czernin Verlags und Vorsitzender der Gesellschaft österreichischer Verleger. "Mit dem Auftauchen jedes neuen Produkts wie des iPad geht auch bei den Downloads ein sprunghaftes Ansteigen einher.“ Für kleinere Verlage wie seinen eigenen sei das zwar "eine große Vertriebschance“. Aber die Verkäufe von E-Books "gehen zulasten gedruckter Bücher. Und es bringt nichts, wenn Verlage profitieren, aber dabei der Buchhandel zugrunde geht. Das ist ein Dilemma.“ Im Dumping sieht Föger keine Zukunft. Spottbillige E-Book-Preise seien "nicht kostenwahr gerechnet“, da sie Nebenkosten wie das Lektorat außer Acht ließen. Tatsächlich sei die ordentliche Herstellung eines E-Books kaum billiger als das gedruckte Produkt. Wer die aktuellen Online-Foren zum Thema liest, fragt sich allerdings, ob unter den Konsumenten die "Leuchtturmfunktion“ der Verlage (Föger) tatsächlich noch anerkannt wird. Da regt sich vielmehr Rebellion gegen die angebliche Geldgier des Gewerbes.

Vielleicht ist das Gratis-E-Book als Konsensmodell nur mehr eine Frage der Zeit. Möglicherweise wird das traditionelle Buch dann so wie die Vinylplatte zum Nischenobjekt für den Spezialhandel und der Starautor zum Markenbotschafter für Schreibgeräte oder Lesebrillen: keine schöne Idee. Nach den Erfahrungen des Musikgeschäfts wäre es aber fahrlässig, sie auszuschließen.