Angststörungen, Burn-out, Depressionen

Crash: Die Auswirkungen der Wirtschafts- krise auf die Seele der Österreicher

Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise

Drucken

Schriftgröße

Die Mobbingattacken innerhalb des Finanzunternehmens hatten der 42-jährigen Marianne M. schon seit Monaten schwer zu schaffen gemacht. Ihr überkorrektes Verhalten angesichts „diverser Schlampereien, die ich nicht vertuschen wollte“, hatte Sticheleien, Gespött und „viel Gerede hinter meinem Rücken“ zur Folge. Massive Schlafstörungen, Gereiztheit und Angespanntheit wurden zu ihrem seelischen Alltag. Als sich die Situation zuspitzte, nahm sie im vergangenen April das Angebot zu einer einvernehmlichen Kündigung an. Die ersten arbeitslosen Wochen verbrachte sie „in einem regelrechten Schockzustand“.

Um die unablässige Gedankenschleife in ihrem Kopf, in der sich Aggressionen und Ängste abwechselten, endlich zum Stillstand zu bringen, versuchte sie, sich selbst mit körperlicher Erschöpfung auszutricksen: „Ich bin handwerklich sehr geschickt und habe dann einfach meine Flügeltüren abgebeizt und neu gestrichen. Ich wollte einfach nicht mehr denken müssen.“

Ein Medikamentencocktail aus Schlaf- und Beruhigungsmitteln sowie Antidepressiva gehörte über Monate zum täglichen Programm; inzwischen beschränkt sich die kinderlose und unverheiratete Marianne M. nur mehr auf die Pillen gegen Depressionen. Einen neuen Job hat sie noch nicht, dafür bereits zwei Absagen hinter sich. Der finanzielle Polster hält gerade einmal für ein Jahr. Doch der Kampfgeist meldet sich allmählich wieder. Ihre Beziehung stand in den ersten Monaten auf der Kippe, erzählt Marianne: „Selbst wenn ich da war, war ich für meinen Partner abwesend und ungreifbar. Jetzt haben wir uns Gott sei Dank wieder durch viele Gespräche stabilisiert.“ Für Bewerbungsgespräche lässt sie sich inzwischen von einem Psychologen coachen; noch ist sie am Sondieren und fühlt sich den Anforderungen psychisch nicht gewachsen. Ihre Erfahrungen mit dem Arbeitsmarktservice sind gemischt: „Als ich mich ziemlich kurz nach dem Einschnitt für eine Weiterbildung anmelden wollte, wurde mir aufgrund einer Fristenregelung eine Wartezeit von drei Monaten in Aussicht gestellt. Ein volkswirtschaftlicher Wahnsinn! Ich habe mich dann dort so sehr aufgeregt, dass ich den Kurs dann doch noch früher besuchen konnte.“

Ende September waren in Österreich 234.505 Menschen als arbeitslos vorgemerkt. Im Vergleich zum September 2008, als das internationale Finanzsystem kollabierte und die Weltwirtschaft in die Krise rutschte, bedeutet dies eine Steigerung von fast 30 Prozent oder 51.178 Personen. Rechnet man die Arbeitslosen in AMS-Schulungen ein, sind in Österreich derzeit 302.955 Menschen auf Jobsuche. Dazu befinden sich derzeit etwa 45.000 Menschen in Kurzarbeit, fast die Hälfte davon seit mehr als sechs Monaten. Am deutlichsten fällt im Jahresvergleich der Anstieg bei den arbeitslosen Jugend­lichen aus: Im zweiten Quartal 2009 war die Zahl der erwerbslosen 15- bis 24-Jährigen um 18.700 auf insgesamt 58.400 geklettert, was einer aktuellen Arbeitslosenquote von 10,0 Prozent entspricht.

Erstmals seit der großen Depression der dreißiger Jahre muss sich auch der Mittelstand immer stärker mit dem kränkenden Gefühl auseinandersetzen, nicht gebraucht zu werden. Die Arbeitslosenquote unter Akademikern stieg im zweiten Quartal von 1,9 Prozent im Vorjahr auf aktuell 2,4 Prozent. Verstärkten Zustrom aus höheren Bildungsschichten beobachtet auch Rudolf Wagner, Geschäftsführer des Vereins Pro Mente Wien: „In unseren Reha-Gruppen ist diese Gruppe derzeit viel stärker repräsentiert als noch im Vorjahr. Diese Entwicklung hat uns selbst doch einigermaßen überrascht, die Gründe sind uns noch unklar.“

Eine besondere Gefahrenzone stellt die mit der Krise verbundene Jugendarbeitslosigkeit dar. Melancholie, ­Resignation und das Gefühl der Perspektivenlosigkeit dominieren sämtliche österreichischen Jugendstudien und erklären zum Teil den Rechtsruck unter Jungwählern, der nicht immer als ideologische Stimmabgabe, sondern auch als Protest gegen die etablierten Großparteien zu werten ist. Sibylle Nagel, Ärztin im Wiener Kriseninterventionszentrum, ortet jedenfalls einen verstärkten Betreuungsbedarf unter Jugendlichen: „Bei jungen Menschen, die gerade eben mit Feuereifer in einen Job eingestiegen sind, ist die Gefahr des Burn-outs im Zuge der Krise gestiegen. Sie werden von ihren Arbeitgebern zum Teil richtiggehend verheizt. Auch die Mobbinggefahr steigt mit dem sich verschärfenden Wind.“

„Für das Selbstwertgefühl von Jugendlichen, die noch nicht im Berufsleben gestanden sind, ist es besonders schädlich, keinen Job zu finden. Da ist dringender Handlungsbedarf seitens des Sozialministeriums gegeben“, sagt Ulla Konrad, die Präsidentin des Berufsverbands Österreichischer Psycho­logInnen, der in Kooperation mit dem Motivforschungsinstitut Karmasin diese Woche eine Studie über die psychologischen Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die ­österreichische Bevölkerung (siehe auch ­Interview) präsentiert.

Die Untersuchung, für die 500 Österreicher im Alter von 14 bis 65 Jahren befragt wurden, setzte sich auch in Form von Tiefeninterviews mit den Befindlichkeitsveränderungen von Arbeitslosen und Kurzarbeitern auseinander. Die wichtigsten Ergebnisse der Studie, die als Basis für die Vortragsreihen anlässlich des Tags der Psychologie im Wiener Rathaus am kommenden Freitag (siehe Kasten „Der Kongress“) dient, im Überblick:

„Ängstliche“ und „Machtlose“. Stress (24 Prozent) und das Gefühl von Unzufriedenheit und Frustration (21 Prozent) machen sich auch in der nicht unmittelbar betroffenen Gesamtbevölkerung stärker bemerkbar als vor der Krise. Die Freizeitaktivitäten mit Freunden nahmen ab. Nur 41 Prozent der Österreicher ordnen sich dem Segment der durch die Krise „nicht Belasteten“ zu; der Großteil davon sind Angestellte und Beamte. 24 Prozent gaben an, „leicht betroffen“ zu sein.

Zwei neue soziologische Post-Crash-Typologien kristallisierten sich im Zuge der Umfrage heraus: die „Ängstlichen“ (17 Prozent) und die „Machtlosen“ (18 Prozent). Erstere sind vorrangig in der mittleren Altersklasse mit höherem Bildungsstatus zu finden. Am bedrohlichsten empfindet diese Gruppe den Gedanken, „ihren Lebensstandard nicht halten zu können“ (62 Prozent), gefolgt von den „Sorgen um die Familie“ (55 Prozent). Dass der Verlust des Lebensstandards in diesem Segment vor den Sorgen um die nächsten Angehörigen rangiert, lässt tief blicken. Innerhalb der Gesamtbevölkerung dominieren die „Sorgen um die Familie“ (24 Prozent), die Angst, „den Standard nicht mehr halten zu können“ (21 Prozent), gefolgt von Sorgen um die persön­liche Zukunft sowie das Gefühl der Machtlosigkeit (je 19 Prozent).

Das Grundgefühl der Ängstlichkeit manifestiert sich in Schlafstörungen, Gereiztheit, Niedergeschlagenheit, Stimmungswechseln und Ruhelosigkeit. Das Arbeitsklima wird innerhalb dieser Gruppe als belastend, der Konkurrenzdruck am Arbeitsplatz als steigend empfunden. Die zweite Gruppe ist durch ein Gefühl der Ohnmacht charakterisiert, den wirtschaftlichen Turbulenzen etwas entgegensetzen zu können. Ihr soziologisches Profil weist häufig geringe Schulbildung und ein Durchschnittsalter über 50 auf. Häufig sind darunter Frauen, die berufliche Ausstiegsszenarien durch jahrelange Kinderbetreuung schon hinter sich gebracht haben. In allen abgefragten Aspekten wiesen Arbeitslose und Kurzarbeiter eine drastisch schlechtere Lebensqualität als die Durchschnittsbevölkerung auf. So gaben etwa 66 Prozent der Betroffenen an, dass ihr Selbstvertrauen seit Beginn der Krise gesunken ist; bei der Durchschnittsbevölkerung liegt der Wert bei neun Prozent. Für 42 Prozent stieg der subjektiv empfundene Stress; 53 Prozent fühlen sich frustriert.

„Es ist dieses Gefühl der Unsicherheit, das einen so fertigmacht“, erzählt ein 33-jähriger Familienvater und Projektleiter in der Automobilindustrie, der im März auf Kurzarbeit gesetzt wurde und dessen Team bereits drei Leute verlassen mussten. „Das Misstrauen unter der Kollegenschaft, die ständige Angespanntheit, alles extrem belastend. Ich kann mich zurzeit an nichts freuen, schlafe schlecht, kann nicht abschalten und bin ständig gereizt. Meine Frau, die unsere noch nicht schulpflichtigen Kinder betreut, war auch in einer Branche tätig, in der zurzeit kaum Jobchancen bestehen.“

Erwin K., der für den Job vor einigen Jahren sogar in eine andere Stadt übersiedelt ist, muss inzwischen „einen freiwilligen Gehaltsverzicht“ von etwa 300 Euro pro Monat in Kauf nehmen. Strategisch entschied er sich für „Abwarten, wie die Dinge sich entwickeln“. Auf den Lebensstandard seiner Familie hat sich die neue Situation vehement niedergeschlagen: „Den Sommerurlaub hatten wir schon gebucht, ansonsten hätte ich ihn wahrscheinlich gestrichen. Eingekauft wird nur das Notwendigste, Autofahrten sind drastisch gekürzt.“ Rund ein Drittel der für die Studie befragten Arbeitslosen und Kurzzeitarbeiter gaben an, dass sich ihr Freizeitverhalten geändert hat und sie weit weniger mit Freunden unternehmen. Der soziale Rückzug ist jedoch nicht nur auf Sparmaßnahmen zurückzuführen, sondern auch auf ein Schamgefühl, in diesem Zustand seinen Freunden nicht begegnen zu wollen. „Ich habe mich über Wochen total zurückgezogen und bin in die soziale Isolation abgedriftet“, beschreibt Marianne M. die ersten Monate ihrer Arbeitslosigkeit. „In der Einsamkeit tritt natürlich auch die gedankliche Negativspirale weit mehr in Kraft.“

„Krisengewinnler“ unter den psychischen Erkrankungen sind Angststörungen und depressive Verstimmungen; Burn-out, das Phänomen des Ausgebranntseins, das vor allem beruflich besonders Engagierte häufig über Monate in die Arbeitsunfähigkeit treibt, könnte im Zuge des verschärften Stress- und Mobbingklimas zum Massenphänomen werden. „Es gibt Schätzungen, dass eine Million Österreicher zurzeit Gefahr läuft, von Burn-out betroffen zu werden“, so Ulla Konrad. „Innerhalb unserer Studie konnten wir jedoch diesbezüglich noch keine Zahlen erheben.“

Dass dringend Präventionsmaßnahmen gefragt sind – schließlich verschrieben die Krankenkassen zuletzt Psychopharmaka im Wert von über 225 Millionen Euro –, steht außer Zweifel. 37 Prozent der Befragten gaben in der Studie an, dass die Inanspruchnahme von „psychologischer Hilfe zur Bewältigung der Krise durchaus vorstellbar wäre“. Die interviewten Arbeitslosen und Kurzarbeiter gestanden jedoch, vor allem mit „Medikamenten aus der Apotheke“ (20 Prozent) ihre Beschwerden zu lindern, gefolgt von „rezeptpflichtigen Medikamenten vom Arzt“ (17 Prozent); nur neun Prozent bekannten, „psychologische Betreuung“ als Hilfsmaßnahme zu benutzen.

„Ich bin derzeit gefragt wie nie“, berichtet der Managementberater Othmar Hill, ebenfalls Teilnehmer am Tag der Psychologie. „Die Unternehmensberater sind mit ihren rationalen Erklärungsansätzen am Ende, und die Unternehmen selbst wissen zwar, dass Burn-out, Mobbing und Existenzkämpfe ein Problem sind, tun aber nichts dagegen. Dabei stünde der Aufwand in keinem Verhältnis zum Erfolg, das lässt sich auch in betriebswirtschaftlichen Zahlen messen.“ Hills Krisenprognose: „Existenzängste werden die nächsten zwanzig Jahren ein Thema bleiben. Allerdings klagen wir auf sehr hohem Niveau.“

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.