Oskar Lafontaine im Interview

„Das ist untragbar“

Der Ex-SPD-Chef über seine Hoffnungen

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profil: Sie haben soeben ein neues Buch präsentiert. Darin plädieren Sie für grundlegende Veränderungen in der Arbeitslosenversicherung und im Steuersystem. Über Ihre konkreten Vorschläge wurde in den Medien danach kaum berichtet, aber alle deutschen Blätter haben geschrieben: „Lafontaine ist wieder da. Gründet Lafontaine jetzt eine neue Linkspartei?“ Wie erklären Sie sich diese Reaktion?
Lafontaine: In den letzten Jahren ist eine Entwicklung zu beobachten, wonach sich die Politik immer mehr boulevardisiert. Personen oder oberflächliche Erörterungen interessieren mehr als Sachthemen. Ich hoffe natürlich, dass nach und nach auch eine inhaltliche Diskussion über meine Vorschläge einsetzt. In Deutschland steigt die Arbeitslosigkeit, die Einkommen verteilen sich immer mehr von unten nach oben, und die einzige Antwort der Politik lautet „Löhne runter, Sozialleistungen runter, Steuern für Unternehmen und Wohlhabende runter“. So läuft das nun schon seit vielen Jahren. Es wird Zeit, dass dem neoliberalen Irrweg konstruktive Konzepte gegenübergestellt werden.
profil: Ein Kapitel Ihres Buches widmen Sie der Sprache, mittels deren die Politik die Bürger Ihrer Meinung nach in die Irre zu führen sucht. Wenn man Ihre eigene Sprache und deren politische Wirkung analysiert, so vermitteln Sie fast ausschließlich negative Botschaften und verpacken sie in negativ anmutende Sprachbilder. Ist das nicht ein klares Misserfolgsrezept?
Lafontaine: Albert Camus schreibt, wer die Dinge nicht richtig benennt, trägt zum Unglück der Welt bei. Ich setze auf Fakten. Die Zahlen, welche die Fehlentwicklung belegen, sind nicht zu leugnen. Die Sprache muss verständlich sein. Natürlich muss sich die Sprache auch dem Positiven zuwenden. Deshalb unterbreite ich ja konstruktive Vorschläge zur sachlich-inhaltlichen Reform.
profil: Sie wenden sich mit Ihren Vorschlägen an die Arbeitslosen, an die Verlierer der Gesellschaft, die sich Ihre Argumente politisch zu Eigen machen sollen. Bei diesen Leuten handelt es sich aber nicht um eine gesellschaftliche Klasse, die sich politisch formieren wollte oder könnte. Sind Ihre Adressaten nicht mehrheitlich schlicht Individuen, die eher vor dem Fernsehschirm in private Lethargie versinken, als Lafontaine-Bücher zu studieren und auf dieser Basis eine politische Gegenbewegung aufzuziehen?
Lafontaine: Ich setze bei den Nichtwählern in Deutschland an. Die sind mittlerweile die größte Gruppe. Im deutschen Osten sprechen die beiden großen Volksparteien zusammen nur noch dreißig Prozent der Wahlberechtigten an. Die Mehrheit des Volkes merkt, dass es nicht mehr sozial gerecht zugeht, und aus dieser Erkenntnis entwickelt sich der Gegenentwurf. Man kann, um ein Beispiel zu nennen, älteren Arbeitnehmern, die in ihrem Leben 60.000 Euro in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt haben, einfach nicht unterm Strich 50.000 Euro davon stehlen, indem man ihnen das Arbeitslosengeld nur noch für ein Jahr bezahlt. Das ist untragbar. Im Übrigen ist Ihr Bild des in Lethargie versinkenden Arbeitslosen falsch. Ich erlebe jetzt täglich Leute, die mich darauf ansprechen, dass sie sich zum hundertsten Mal erfolglos um einen Job beworben hätten. Diese Leute bemühen sich, sie sind aktiv, finden aber keine Türe, um wieder ins Arbeitsleben einzutreten.
profil: In den USA ist die Wahlbeteiligung noch viel niedriger als in Deutschland, aber man weiß, dass die Mehrheit jedenfalls der weißen Angehörigen der Unterschicht George W. Bush irgendwie toll findet. Spricht das nicht gegen Ihre These, dass die gesellschaftlichen Verlierer unter den Nichtwählern ihre Lage beziehungsweise Interessenlage erkennen und in diesem Sinn politisch aktivierbar sind?
Lafontaine: Das glaube ich nicht. Der Historiker Fritz Stern sagt, Amerika sei auf dem Weg zu einer christlich-fundamentalistisch verbrämten Plutokratie, und ich teile diese Analyse. Die große Wahlenthaltung in Amerika ist aus einer Resignation zu erklären. Die Leute denken: Es ändert sich ja doch nichts, auch wenn ich zur Wahl gehe.
profil: Wo aber liegt dann der Unterschied zwischen einem amerikanischen und einem deutschen Nichtwähler – was nämlich die Bereitschaft angeht, sich mit komplizierten Sachinhalten auseinander zu setzen und im Sinn seiner Interessen politisch aktiv zu werden?
Lafontaine: Deutschland hat eine sozialstaatliche Tradition, die ungleich stärker ist als die amerikanische. Daher gibt es mehr Anknüpfungspunkte, die negative Entwicklung bei den Einkommen und Vermögen zu stoppen. Die Menschen sind hier eher interessiert, sich mit den Fragen aktiv auseinander zu setzen.
profil: Sie glauben also nicht, dass sich durch die Globalisierung auch in Europa schon jene US-Form der Demokratie in den Köpfen festgesetzt hat, die viel weniger basisaktiv ist, als es die europäische Demokratie früher war? Eine Art demokratisch kaschiertes, relativ autoritäres System mit kapitalistischem Unterbau, wie Peter Sloterdijk es nennt?
Lafontaine: Ja, es ist wohl so, Geld regiert die Welt, und auch in Deutschland bestimmt zurzeit die Wirtschaft die Politik. Das ist eine ungute Entwicklung. Ich berufe mich in meinem Buch ausdrücklich auf Adam Smith, der gesagt hat, Kapitalismus sei zwar notwendig, aber man müsse sich bewusst sein, dass die Kapitalisten ihre eigenen Interessen verfolgen und versuchen, die Öffentlichkeit zu täuschen. Wer eine demokratische Politik machen will, kann sich nicht nur von den Interessenverbänden der Wirtschaft leiten lassen.
profil: Womit wir aber wieder an dem Punkt wären, dass in der Demokratie nur Erfolg hat, wer seine Interessen zu artikulieren und sich politisch zu organisieren vermag. Bisher blieb Ihre Klientel in Deutschland diesen Beweis schuldig.
Lafontaine: Deshalb bemühe ich mich. Deshalb arbeite ich daran.
profil: Hat nicht die Sozialdemokratie in der Zeit, als sie in der Mehrzahl der EU-Staaten noch die Regierungen stellte, viel verabsäumt? Indem sie weder die Unternehmenssteuern europaweit harmonisiert noch in der EU einen einheitlichen sozialen Boden eingezogen hat?
Lafontaine: Das ist richtig. Aber das fiel zeitlich bereits in den Beginn der neoliberalen Ära, und Europas Sozialdemokraten – von England über Österreich bis Deutschland – waren stark von neoliberalen Ideen beeinflusst. Wobei ich im Übrigen nicht der Auffassung bin, dass Änderungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik heute nur noch auf europäischer Ebene stattfinden könnten und dass die einzelnen Staaten diesbezüglich keinen Handlungsspielraum mehr hätten. Die skandinavischen Staaten zeigen, dass es auch anders geht. Sie sind damit erfolgreich.
profil: Was antworten Sie jenen, die meinen, das deutsche Wirtschafts- und Sozialsystem müsse erst auf dem harten Boden einer wirklich elementaren Krise aufschlagen, dass ein grundlegender Wandel – in welcher Richtung auch immer – möglich würde?
Lafontaine: Das ist ein zweischneidiges Schwert. Der Aufschlag auf dem Boden kann auch dazu führen, dass die Radikalen zu stark werden. Deshalb bevorzuge ich eine Umkehr, bevor wir uns eine blutige Nase holen.
profil: In dem Augenblick, in dem die NPD in eine Position politischer Verantwortung käme, wäre die Enttäuschung für die Klientel dieser Partei programmiert, und sie wäre blitzartig wieder weg vom Fenster. Oder ist dieses Drachentöter-Argument für Deutschland aus historischen Gründen nicht verwendbar?
Lafontaine: Ja, das sehe ich wohl so. Wir haben im Osten den Einzug der Rechtsradikalen in den Landtag erlebt. Das kann uns nicht gleichgültig sein. Es sind nicht überzeugte NPD-Anhänger, die im Osten rechts gewählt haben, sondern Arbeitslose. Wir müssen einfach eine rechtzeitige Umkehr schaffen.
profil: Gründet Oskar Lafontaine nun eine neue Linkspartei?
Lafontaine: Ich habe schon mehr Lebensjahre in öffentlichen Ämtern zugebracht als Gerhard Schröder und Joschka Fischer zusammen.

Interview: Liselotte Palme