Das Aeneis-Prinzip

Das Aeneis-Prinzip

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In einem langen Interview entwickelte Peter Sloterdijk, der scharfzüngige und populäre deutsche Philosoph, kürzlich einen für seine Begriffe ungewöhnlich robusten europäischen Optimismus. Nach langen Zeiten pathologischen Zweifelns des Kontinents an sich selbst entstehe „jetzt eine neue europäische Affirmation“. Nunmehr gelte es, den europäischen Mythos wieder zu erzählen, damit die Hörer dieser Geschichte begreifen: „Es handelt sich um etwas Großartiges, an dem teilzuhaben uns mit Stolz erfüllt.“ Welchen Mythos meint Sloterdijk? Etwa jenen von Göttervater Zeus, der in Stiergestalt die schöne Europa besteigt? Nein, er will den EU-Bürgern Vergils „Aeneis“ nahe bringen.

Aus dem Dunkel des versunkenen Gymnasialwissens taucht die Geschichte auf: von einem Mann, der aus dem zerstörten Troja, der Stadt in Kleinasien, flüchtet, um nach langen und gefährlichen Irrfahrten (bekanntlich bleibt er in Nordafrika eine Zeit lang bei der lasziven Dido hängen) in Europa zu landen, wo er schließlich zum Gründungsvater des Römischen Reiches wird. Wer die Geschichte höre, so Sloterdijk, verstehe sofort, „wo Europa liegt: Europa, das ist ein Ort der Hoffnung, wo besiegte Menschen eine zweite Chance bekommen, wo besiegte Menschen wieder auf die Beine kommen“.

Diese Story, bedauert der Philosoph, „haben die Amerikaner uns mit genialer Instinktsicherheit entführt“, nun sei es jedoch Zeit, dass sich die Europäer ihren Mythos zurückholten. Andernfalls würden sie zu muffigen Kollektiv-Nationalisten und könnten das Problem der zahllosen Neu-Bürger nicht lösen, ohne die sie nicht überleben werden. Europa müsse sich mit Freude dazu bekennen, ein offener Ort für Einwanderer zu sein. „Wir brauchen eine neue Formel für europäische Gastfreundschaft und Integration, und Vergil hat sie im Voraus geliefert.“

Natürlich erscheint die Forderung, sich auf den Aeneas-Mythos zu besinnen, zunächst ein wenig weit hergeholt: die verschrobene Idee eines weltfremden, von humanistischem Bildungsgut beseelten Denkers. Sloterdijks Optimismus freilich liegt inzwischen ganz im Trend der Zeit.

Zwar wird immer wieder über die europäische Krise und die Allmacht des amerikanischen Imperiums geklagt, allmählich aber werden jene Gegenstimmen immer lauter, die Europa eine große Zukunft voraussagen, wie etwa jene des britischen Essayisten Mark Leonard, dessen neues Buch den schlichten Titel trägt: „Why Europe Will Run the 21st Century“ („Warum Europa das 21. Jahrhundert dominieren wird“, siehe profil 10, Seite 81).

Europa, so argumentiert der Autor, sei jetzt schon eine einzige Erfolgsgeschichte. So blicken nicht nur die Millionen und Abermillionen Erniedrigten, Besiegten, Bedrängten im Osten und Süden nach Europa, wo das bessere und freiere Leben winkt. Nicht nur Menschen, sondern ganze Länder drängen nach Europa. Und sie werden erfolgreich integriert.

Leonard singt einen Hymnus auf das Genie Europas. Im Unterschied zu den Journalisten, die dauernd von der Krise schrieben, erzählten die Historiker eine ganz andere europäische Geschichte: „Sie erzählen uns, dass Europa jedes Mal stärker aus seinen Krisen hervorgegangen ist: Der Binnenmarkt wurde nach langen Jahren der Eurosklerose etabliert, die gemeinsame Währung nach dem Maastricht-Debakel, die europäische Verteidigung wurde nach den Balkankriegen gestärkt, und eine neue Sicherheitsstrategie der EU zeichnet sich nach den Ereignissen im Irak ab.“ Nun gebe sich die Union eine Verfassung. Europa habe die USA wirtschaftlich eingeholt. Vor allem aber sei es gelungen, in sukzessiven Wellen Länder aus der Diktatur herauszuholen und ihnen die Demokratie zu bringen.

Und das alles, ohne einen einzigen Soldaten zu schicken, ohne Regimewechsel gewaltsam zu erzwingen – einfach mit der bloßen Kraft der Verführung zum „European Way of Life“. Die Europäer hätten im Unterschied zu den Amerikanern erkannt, dass politisches und ökonomisches Engagement ein viel effektiveres Mittel als militärische Intervention darstelle, um nachhaltigen Wandel zu erreichen.

Die USA haben in den vergangenen 50 Jahren 15-mal Truppen in andere Länder geschickt. Aber was haben sie erreicht?, fragt Leonard. In Afghanistan ist Washington ein Regimewechsel gelungen. Die EU dagegen hat die gesamte polnische Gesellschaft von Grund auf umgewälzt. Und das allein dadurch, dass man den Polen gesagt hat, sie müssten die 80.000 Seiten der europäischen Gesetze, den so genannten „acqis communautaire“, akzeptieren und umsetzen, wenn sie Mitglied im Club werden wollen.

Mit dieser Methode, so Leonard, habe sich die europäische Friedenszone wie ein Ölfleck ausgebreitet – von der Westküste Irlands zum Osten des Mittelmeers, von den arktischen Regionen bis zur Meerenge von Gibraltar: „Die Geheimwaffe der Europäischen Union ist das Gesetz.“

Und dieses basiert bekanntlich auf dem römischen Recht der Antike. So gesehen, wirken Sloterdijks Aeneis-Reminiszenzen, die Europa beflügeln sollen, gar nicht mehr so weltfremd. Eine neue Renaissance täte Europa tatsächlich gut.

Wenn nun der Streit um einen EU-Beitritt der Türkei tobt, dann möge man sich doch erinnern, dass Vergils Held Aeneas von der kleinasiatischen Küste der heutigen Türkei aufgebrochen ist, um schließlich der mythische Gründer des Römischen Reichs, der Urfassung Europas, zu werden.