Philosophie

Das ganz Andere von Wahrheit

Das ganz Andere von Wahrheit

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Kein Anderes von Wahrheit vermag das moralische Empfinden so sehr zu mobilisieren wie die Lüge. Weder das Falsche noch die Fälschung, schon gar nicht der Irrtum oder das Ungenaue, auch nicht die Täuschung gehen so nah wie die Lüge. Man mag den Menschen manche Untaten verzeihen oder gar zubilligen, man mag theoretisch die Lüge verteidigen, man mag selbst nicht nur hin und wieder, sondern immer, wenn es einem geboten erscheint, lügen: Trotzdem erachten nicht nur Belogene die Lüge oft für ein schlimmeres Übel als die durch diese Lüge kaschierten Vergehen oder Verbrechen. Es genügt, in diesem Zusammenhang an die Debatten um Kurt Waldheim und Bill Clinton zu erinnern: dass in beiden Fällen die Öffentlichkeit angeblich oder wirklich belogen worden war, machte die Brisanz dieser Affären aus. Nicht das, was durch diese Lügen hätte vertuscht werden sollen – denn das glaubte ohnehin jeder zu wissen. Man kann es auch anders formulieren: Nirgendwo ist das Problem der Wahrheit im Prozess einer Kommunikation so unmittelbar greifbar wie im Fall einer Lüge – denn diese signalisiert, dass eine Wahrheit verschwiegen oder vorenthalten wird, die mehr bedeutet als nur eine falsche Aussage über einen Sachverhalt. Das beeinflusst nicht nur das Verhältnis von Sätzen und Tatsachen, sondern vor allem das zwischen Menschen. Deshalb spielt die Lüge in erkenntnistheoretischen Diskursen interessanterweise auch kaum eine Rolle. Ihr philosophischer Ort ist, wenn überhaupt, in der Moralphilosophie zu suchen. Das hat gute Gründe, kommt aber einer Abwehr der Lüge gleich – so, als ob nicht nur die Lüge, sondern auch die Reflexion über die Lüge zum Verbotenen gehörte. Friedrich Nietzsches früher Ansatz, Wahrheit und Lüge in einem außermoralischen Sinn zu betrachten, kann so auch als Versuch gelesen werden, die Lüge als Gegenspielerin der Wahrheit überhaupt erst einmal ins Spiel zu bringen. Der Philosophie, sofern sie sich mit dem Problem der Lüge beschäftigte, war es allerdings weniger um die Lüge als erkenntnistheoretisches Problem gegangen – wohl aber um den Lügner und seinen prekären moralischen Status.

Nicht zuletzt Nietzsches Selbstverständigung „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, sein Versuch, das Problem der Unwahrheit aus der moralischen Perspektive zu befreien, verfestigte allerdings ein Begriffspaar, dessen logische Binnenbeziehung eigentlich schief ist: Wahrheit und Lüge. Auch wenn wir im alltäglichen Sprachgebrauch die Lüge als Gegenbegriff zur Wahrheit sehen, ist dies höchst ungenau. Das negative Gegenüber zur Wahrheit, sofern diese Resultat einer rationalen Erkenntnisleistung ist, kann immer nur die Falschheit sein, nicht die Lüge. (…) Etwas Falsches zu behaupten ist keine, genauer: noch keine Lüge. Eine falsche Behauptung kann Resultat schlechter Recherche, ungenauer Informationen, getrübter Beobachtung, kann Ergebnis einer Wahrnehmungstäuschung, eines Denkfehlers oder schlicht ein Irrtum sein.

Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie und Kulturpublizist. Zuletzt veröffentlichte er „Kitsch oder warum der schlechte Geschmack der eigentlich gute ist“ (2002) und „Günter Anders“