Das wahre Ausmaß der Arbeitslosigkeit

Das wahre Ausmaß der Arbeitslosigkeit

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Österreich glaubt, 202.787 bzw. 5,9 Prozent Arbeitslose zu haben. In Deutschland lauten die offiziellen Zahlen: 4,2 Millionen bzw. 10,2 Prozent Arbeitslose. Die „WirtschaftsWoche“ hat sich die Mühe gemacht, die deutsche Statistik mit der Realität zu vergleichen. Dann kommen zu den 4.230.000 offiziellen Arbeitslosen folgende Gruppen arbeitsfähiger, aber jobloser Deutscher hinzu: 390.000 Männer und Frauen, die sich staatlichen Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Qualifikation – Umschulungen, Trainingskursen und dergleichen – unterziehen und aus der Statistik ausgegliedert sind. 1.077.000 Arbeitslose im Vorruhestand – bei uns „Frühpensionisten“. 75.000 Kurzarbeiter (wenn man die Anzahl der Teilzeitstellen auf Vollzeitarbeitsstellen umrechnet.) Und rund zwei Millionen Deutsche, die deshalb nicht mehr in der Statistik aufscheinen, weil sie es aufgegeben haben, weiter nach Arbeit zu suchen.

Summiert man diese De-facto-Arbeitslosen zu den offiziellen Arbeitslosen, so sind in Deutschland 8,6 Millionen Menschen, das sind 18,8 Prozent der Erwerbstätigen, ohne Arbeit. Oder: Fast jeder fünfte Deutsche ist arbeitslos.

In Österreich sieht es etwas besser aus, denn wir hatten keine Ostgebiete zu übernehmen, und damit ist die offizielle Arbeitslosigkeit deutlich geringer. Dafür ist das Mittel der Frühpensionierung bei uns noch massiver eingesetzt worden, und natürlich verstecken auch wir Arbeitslose hinter „Umschulungen“. Wieweit es auch bei uns Menschen gibt, die es aufgegeben haben, nach Arbeit zu suchen, und so aus der Statistik fallen, weiß ich nicht. Aber wenn man in Summe 50 Prozent auf die offiziellen Arbeitslosenzahlen aufschlägt, liegt man sicher nicht zu hoch.

Um es profil-Lesern, die vermutlich selten von Arbeitslosigkeit heimgesucht werden, etwas näher zu bringen: Seit ich vor zwei Wochen in einem Inserat im Samstag-„Kurier“ eine „erfahrene Sekretärin zwischen 40 und 50“ für 20 Wochenstunden gesucht habe, haben sich rund 60 Frauen gemeldet, und es rufen täglich weitere an.

Fast durchwegs Frauen, die etwas können. Fast alle bereit, länger als die angebotenen 20 Stunden zu arbeiten. Viele seit Jahren arbeitslos. 500 Euro brutto für 38,5 Stunden wollte eine der Bewerberinnen – „wenn ich endlich Arbeit kriege“.

Auch wenn es unschön klingt: Es gibt unter den über 40-jährigen Frauen etwas, das an „Massenarbeitslosigkeit“ grenzt. Und das vor dem Hintergrund der Forderung nach einer längeren Wochenarbeitszeit und einer längeren Lebensarbeitszeit. Wenn wir das wirklich machen – wenn jeder, der Arbeit hat, jede Woche noch länger arbeitet und weitere Arbeitsjahre dranhängt –, dann werden die echten Arbeitslosenzahlen demnächst die 20 Prozent hinter sich lassen.

Während ein Land wie Deutschland auf eine Arbeitslosigkeit zusteuert, wie es sie rein zahlenmäßig nicht einmal vor dem Krieg gegeben hat, herrscht in den USA Vollbeschäftigung. Das hat drei Gründe:

Deregulierung der Löhne – und damit eine große Zahl von Niedriglohn-Arbeitsplätzen. Niedrige Produktivität: Man braucht in den USA angesichts älterer Maschinen mehr menschliche Arbeitskraft. Massives Defizit-Spending aller US-Regierungen seit Ronald Reagan.

Die Nation, deren Ökonomen uns predigen, dass der Staat die Ausgaben gering zu halten habe, gibt ununterbrochen mit vollen Händen aus. Sie tut es zwar zu einem problematischen Zweck – um zu rüsten –, aber es entfaltet nichtsdestotrotz die von Keynes propagierte Wirkung: Die Wirtschaft wird angekurbelt, wächst und schafft angesichts niedriger Produktivität und niedriger Löhne ausreichend Arbeitsplätze.

Ich will mich auf die Diskussion, ob der Weg der USA ein guter ist, nicht einlassen. Ich glaube nur, dass unserer nicht gut ist. Konkurrenzfähig sind wir – trotz des ständigen Jammerns der Industrie. Sollten wir tatsächlich Gefahr laufen, es demnächst nicht mehr zu sein, so müssen die Löhne herunter – aber nicht die Arbeitszeiten hinauf.

Das benötigte Volumen an menschlicher Arbeit – wie groß immer es ist – muss zu konkurrenzfähigen Preisen geleistet werden. Aber über die Aufteilung dieses Volumens – über seine Stückelung – sollte diskutiert werden. Die zu lösende politische Frage lautet: Sollen immer weniger Leute immer länger zu relativ hohen Gehältern arbeiten, oder sollen möglichst viele Leute immer kürzer zu relativ niedrigen Löhnen arbeiten. Beides ist ökonomisch möglich. Die zweite Variante hat in meinen Augen folgende Vorteile:

Die Beteiligten haben weniger Existenzängste. Das lässt sie mehr konsumieren und kurbelt somit die Wirtschaft an. Das System ist gerechter: Man bekommt Geld vornehmlich für Arbeit statt auch für Arbeitslosigkeit. (Für Nullarbeit ist das Arbeitslosenentgelt ein hoher Lohn.) Und es gibt weniger Menschen, die sich unnütz vorkommen – und darauf mit Depressionen reagieren.

Aber natürlich bin ich ein Narr, der keine Ahnung von Wirtschaft hat, wie mir erst neulich wieder von einem Leser bescheinigt wurde.