Das Blutbad von Beslan / Russland

Das Blutbad von Beslan

Putin steht vor den Trümmern seiner Politik

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Luda, eine Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern, hat vergangenen Mittwoch alle Hände voll damit zu tun, ihren Sohn und ihre Tochter rechtzeitig zur Schule zu bringen. Der Sohn verzichtet, aufgeregt wegen des ersten Schultags, auf sein Frühstück und rennt los. Die Tochter hingegen trödelt und kommt zu spät. Das rettet sie. Sie ist in Sicherheit, während Luda von Mittwochmorgen an bange wartet, ob ihr Sohn lebend nach Hause kommen wird.

Alle Schüler, Eltern und Lehrer haben sich bei strahlendem Sonnenschein im Hof der Mittelschule Nummer eins in der südrussischen Stadt Beslan versammelt, um den ersten Schultag feierlich mit einer Begrüßung sowie Geschenken und Blumen für die Lehrer zu begehen.
Plötzlich rast ein Armeelastwagen auf das Schulgelände, etwa zwei Dutzend Schwerbewaffnete springen von der Ladefläche: Die Schule von Beslan wird zum Schauplatz einer Terroraktion. Alle Anwesenden werden als Geiseln der Terrorbande in die Turnhalle getrieben.
Beslan, eine Kleinstadt mit 30.000 Einwohnern, liegt etwa 50 Kilometer von der Grenze zu Tschetschenien entfernt, und allein aufgrund der geografischen Nähe werden die Einwohner von Beslan nun plötzlich in den zehn Jahre währenden Konflikt zwischen aufständischen tschetschenischen Rebellen und der kompromisslosen russischen Regierung hineingezogen. Die Terroristen haben im benachbarten Inguschetien ein Armeefahrzeug gekapert und sind unbehelligt nach Beslan gefahren.

Einmal in der Schule, verschanzen sie sich, verminen das Gelände, schießen auf jeden, der dem Gebäude zu nahe kommt. Ihre Forderungen bleiben unklar. Man vermutet, dass sie einen Abzug der russischen Armee aus Tschetschenien und die Freilassung inhaftierter Rebellen erpressen wollen. Die Armee riegelt das Gelände ab. Verhandlungen werden aufgenommen. Am Donnerstag, dem zweiten Tag der Geiselnahme, werden 26 Frauen und kleine Kinder freigelassen. Niemand weiß, wie viele Geiseln sich tatsächlich in der Gewalt der Terroristen befinden. Anfangs ist die Rede von 350 Personen, später stellt sich heraus, dass es etwa 1200 waren.
Die Live-Bilder der TV-Kameras vermitteln Ungewissheit und Hilflosigkeit: eine Wiese, provisorisch mit Metallzäunen abgesperrt, in der Ferne eine Mauer, dahinter das Schulgelände – und von dort sind immer wieder Schüsse und mehrmals auch Explosionen von Granatwerfern zu hören.

Feuergefecht. Dann, Freitagvormittag, überschlagen sich die Ereignisse. Als die mit den Geiselnehmern ausgehandelte Bergung von Leichen beginnen soll, nutzen einige Geiseln die Chance zur Flucht. Die Terroristen schießen auf sie, daraufhin greifen russische Soldaten ein. Es kommt zu schweren Gefechten, das Dach der Schule stürzt ein. Geiseln fliehen, kaum bekleidet, viele auch verletzt. Erwachsene laufen mit Kindern an der Hand aus der Gefahrenzone. Die russischen Behörden erklären später, eine Stürmung der Schule sei zu diesem Zeitpunkt nicht geplant gewesen.

Stunden nachdem die Schule gestürmt worden ist, zeichnet sich eine erste Bilanz des Dramas von Beslan ab. Nach offiziellen Angaben wurden über 400 verletzte Geiseln aus dem Gebäude befreit, 60 sollen ums Leben gekommen sein. Doch die kolportierten Zahlen steigen Stunde um Stunde. Bei Redaktionsschluss Freitagnacht war bereits von mehr als 200 Toten und 646 Verletzten die Rede.
Die Tragödie zieht sich bis in die Abendstunden. Einige Geiselnehmer sind entkommen und haben sich erneut verschanzt. Sie haben immer noch Geiseln, darunter auch Kinder, in ihrer Gewalt. Erst am späten Abend wird der Einsatz in Beslan offiziell für beendet erklärt. Doch vier der Geiselnehmer sollen in Zivilkleidung untergetaucht sein.

Der russische Präsident Putin steht einmal mehr vor den Trümmern seiner Tschetschenien-Politik. Vorvergangene Woche waren zwei russische Passagierflugzeuge von zwei Selbstmordattentäterinnen in die Luft gesprengt worden. 90 Menschen kamen dabei ums Leben. Bei einem Selbstmordanschlag am Montag vergangener Woche vor der Moskauer Metrostation Rischskaja starben zehn Passanten. Schließlich die Geiselnahme von Beslan.
Putin versucht nun, das Terrornetzwerk al-Qa’ida für die jüngste Terrorwelle in Russland verantwortlich zu machen. Ein Regierungssprecher erklärte am Freitag, dass neun der Geiselnehmer in Beslan arabische Söldner gewesen seien. Putin selbst gibt bis Freitag spätabends keine Erklärung ab.
Doch die russische Presse entlässt den Präsidenten nicht aus seiner Verantwortung. Die Zeitung „Nowaja Gaseta“ etwa kommentiert bitter: „Putin muss die Schuldigen nicht weit weg suchen. Dieser Terrorismus findet nicht nur in Russland statt, er kommt auch aus Russland.“
Die „New York Times“ berichtet, ein Anruf in der besetzten Schule sei von einem Mann angenommen worden, der sich als Kämpfer der „Zweiten Gruppe der Salachin Rjadus Schachidi“ identifizierte. Salachin Rjadus Schachidi ist gewissermaßen die Selbstmord-Sektion der Kämpfer von Schamil Bassajew, Tschetscheniens berüchtigtem Terrorboss. Befehligt wurden die Geiselnehmer laut einem Bericht der russischen Agentur Itar-Tass vom tschetschenischen Rebellenführer Magomet Jewlojew, einem engen Vertrauten von Bassajew.
Bassajews Handschrift ist tatsächlich unverkennbar. Er sorgte schon mit ähnlichen Geiselnahmen für Aufsehen. 1995 kidnappte er ein ganzes Spital in der südrussischen Stadt Budjonnowsk, und im Oktober 2002 steckte er hinter der – ebenfalls blutig beendeten – Geiselnahme im Nord-Ost-Musical-Theater in Moskau.

Wozu? Ist Bassajew nur von „Rachsucht an Russland“ getrieben, wie Anna Politkowskaja im profil-Interview vermutet (siehe Interview Seite 120)? Oder will er die Zivilbevölkerung so hart treffen, dass sie ihren Präsidenten zwingt, seine Tschetschenien-Politik zu ändern? Die Chancen dafür sind gering, meint der Politologe Boris Kagarlitski in einem Kommentar in der „Moscow Times“: „Wozu einem Volk eine Botschaft schicken, das in seinem Land kaum mitbestimmt?“
Zumal die fast gleichgeschalteten Medien der Bevölkerung kaum Möglichkeit geben, andere Sichtweisen als die offizielle der Machthaber überhaupt wahrzunehmen. „Der Kreml verbreitet dauernd Lügen über Tschetschenien und scheint inzwischen auch selbst diese Lügen zu glauben – das ist das Hauptproblem der heutigen Kreml-Politik“, meint die Soziologin Olga Kryschtanowskaja im profil-Gespräch. Eine andere Politik gegenüber den Tschetschenen hält sie aber auch deshalb für wenig wahrscheinlich, weil „eine große Mehrheit in den heutigen Machtstrukturen Russlands Ex-Offiziere des FSB, der Armee und der Polizei stellen“. Insofern sei der Kreml eine Geisel der „Obristen-Mentalität“ geworden. Kryschtanowskaja: „Keine Verhandlungen, und damit basta!“
Diese Politik der harten Hand hat die brutalsten Elemente in Tschetschenien zusehends in den Mittelpunkt gerückt. Da Moskau nicht verhandelt, bleibt Terror für sie das einzige Kommunikationsmedium.
Auch Politologe Georgi Satarow, ehemaliger Berater des früheren Präsidenten Boris Jelzin, gibt sich gegenüber profil pessimistisch: „Ich kann mir nicht vorstellen, was noch passieren muss, damit der Kreml seine Tschetschenien-Politik ändert. In den vergangenen Jahren hatten wir Hausexplosionen, die Geiselnahme im Musical-Theater, die Explosion in der
U-Bahn – nichts davon wurde vom Kreml als ein Zeichen des Fiaskos der Tschetschenien-Politik gewertet.“ Satarows Prognose: „Eher eine Verhärtung als eine Milderung des Kurses.“

Züchtigung. Der zu erwartenden weiteren Züchtigung der Tschetschenen wird in der russischen Öffentlichkeit wenig Widerstand entgegengesetzt werden. Die bis aufs Blut gereizten und verängstigten Russen hegten schon vor der jüngsten Terrorwelle keinerlei Sympathien für die Anliegen der Tschetschenen. 200 Jahre lang dauert der Versuch Russlands nun schon, Tschetschenien zu unterwerfen. Doch das rebellische Bergvolk im nördlichen Kaukasus leistete bereits dem russischen General Alexej Jermolow zu Beginn des 19. Jahrhunderts erbitterte Gegenwehr. Josef Stalin ließ 1944 kurzerhand das gesamte Volk der Tschetschenen nach Kasachstan deportieren, um Ruhe im Kaukasus zu schaffen.
Wladimir Putin hält diese gewalttätige Tradition wacker aufrecht: Von rund einer Million Tschetschenen sind in den vergangenen zehn Jahren Krieg etwa 300.000 geflohen oder umgekommen. Nun könnte Russlands Präsident zwar theoretisch von Gewalt zu Verhandlungen übergehen – er hat sich dafür allerdings in Grosny die falschen Partner ausgesucht.

Mit dem 27-jährigen Ramsan Kadyrow, dem Sohn des am 9. Mai ermordeten, von Moskau eingesetzten Präsidenten Ahmed Ka-dyrow, setzt Putin auf einen Schläger, der im Krieg groß geworden ist und außer Gewalt und Korruption keine machtpolitischen Ausdrucksformen kennt. Dass Ramsan seit dem 29. August einen Präsidenten namens Alu Alchanow an seiner Seite hat,
hält Tschetschenien-Experte Aleksander Tscherkassow für bloße „Dekoration“.
Vergangenen Freitagabend beklagten die Menschen von Beslan den Tod ihrer Angehörigen und Freunde, und über ganz Russland schwebte die Drohung, dass sich die Terroristen immer neue Ziele suchen werden, solange es im Tschetschenien-Konflikt zu keiner Lösung kommt. Die Mittelschule Nummer eins von Beslan kann überall in Russland stehen.