„Das ist ja alles zum Einschlafen!“

Regisseur Peter Zadek im profil-Interview

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profil: Herr Zadek, Sie wurden vergangene Woche 78 Jahre alt.
Zadek: Ja, schrecklich.
profil: Was interessiert Sie an einem so kindlichen Charakter wie Henrik Ibsens Peer Gynt, den Sie heuer zu den Festwochen nach Wien bringen?
Zadek: Peer Gynt ist nicht nur ein Kindskopf, sondern jemand, der das Leben genießt, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Das wollen die meisten deutschen Interpreten bloß nicht wahrhaben. Bei denen muss Gynt am Ende immer zu Kreuze kriechen. Das finde ich falsch. Gynt ist so genussfreudig und egoistisch wie wir alle.
profil: Sie nehmen sich selbst da nicht aus?
Zadek: Jeder ist für sich das zentrale Erlebnis und sieht zu, dass er ein gutes Leben hat. Manchen gelingt das mehr, manchen weniger. Ich war darin recht erfolgreich.
profil: Peer Gynt geht ziemlich weit: Er lässt jemand anderen sterben, damit er überleben kann.
Zadek: Gynt treibt mit einem anderen Schiffbrüchigen auf einem Brett im offenen Meer und weiß, dass nur einer von beiden überleben kann. Da denkt er sich: Tja, ich. Ich würde nicht anders handeln. Menschen sind ein bisschen wie Tiere.
profil: Was bedeutet Peer Gynts berühmtes Zwiebelgleichnis?
Zadek: Peer Gynt schält eine Zwiebel, zieht eine Schicht nach der anderen ab, sucht einen Kern, findet aber keinen. Er merkt, dass die ganze Tiefe des Lebens, die einem immer vorgelogen wird, nichts ist. Nachdem er die ganze Zwiebel aufgegessen hat, sagt er: „Die Natur ist witzig, oder?“ Das ist das Ende des Zwiebelgleichnisses. Man nennt das zynisch. Ich finde das nicht zynisch. Ich finde es realistisch.
profil: Warum interessieren Sie am Theater vor allem die großen Außenseiterfiguren wie etwa Peer Gynt oder Shylock in Shakespeares „Kaufmann von Venedig“, dem Sie sich viermal gewidmet haben?
Zadek: Weil ich mich auch nie als Teil von irgendeinem Land, irgendeiner Nation, irgendeiner Religion oder irgendeiner Partei gesehen habe. Ich identifiziere mich immer komplett mit den Figuren, die ich inszeniere. Sonst könnte ich wahrscheinlich gar nicht Regie führen.
profil: Sie mussten 1933 vor den Nazis nach England flüchten. Wie hat das Exil Ihr Leben beeinflusst?
Zadek: Ich war immer anders. Auf den Unis musste man Tennis spielen, schöne weiße Hosen tragen, wofür meine Eltern aber kein Geld hatten. Nach dem Krieg wiederum haben die englischen Studenten über ihre Fronterlebnisse geredet. Das hat mir überhaupt nicht gepasst. An der Theaterschule schließlich war ich ein Outsider, weil ich experimentieren wollte. Damals war das englische Theater sehr konventionell. Mit 21 Jahren habe ich meine erste Inszenierung in London gemacht: „Salome“. Es war ein Riesenflop.
profil: Ende der fünfziger Jahre sind Sie nach Deutschland zurückgekommen, wo Sie sich Ihre eigene Schauspielerfamilie erschaffen haben: Was verbindet Darsteller wie Gert Voss, Angela Winkler oder Uwe Bohm?
Zadek: Ihre Fantasie läuft auf einer ähnlichen Wellenlänge wie die meine. Die meisten von ihnen sind Unikate. Kuriose, zum Autismus tendierende Menschen, die in so einer komischen Blase wohnen und eher allein sind. Auf der Bühne jedoch verfügen sie über eine große Lebendigkeit, Vitalität und Courage.
profil: Als Sie 1999 „Hamlet“ probten, war Hauptdarstellerin Angela Winkler eines Tages spurlos verschwunden. Was war geschehen?
Zadek: Sie hatte Angst, sich den Text nicht merken zu können. Wir hatten erst ein paar Tage geprobt, als sie plötzlich verschwunden war. Wir haben sie drei Tage lang gesucht und schließlich in irgendeinem Bauernhof gefunden. Einen Tag später ist sie ein zweites Mal abgehauen. Diesmal war sie in Berlin. Luc Bondy verriet mir einen Trick, wie man Winkler die Angst nehmen könne: Wir steckten ihr einen kleinen Floh ins Ohr, durch den ihr die Souffleuse den Text vorsagte. Irgendwann hat Angela den Text dann gekonnt.
profil: Wie kompliziert dürfen Schauspieler sein?
Zadek: So kompliziert sie eben sind. Eine Person wie Angela Winkler, die ich ohne Abstriche für die beste deutsche Schauspielerin halte, ist wahnsinnig kompliziert. Irrsinnig kompliziert.
profil: Warum wollen Menschen Theater spielen?
Zadek: Einerseits, um zu sich selbst Distanz zu erhalten, andererseits, um sich kennen zu lernen. Das sind die tiefer liegenden Gründe. Die oberflächlichen Gründe sind, berühmt zu werden und viel Geld zu verdienen. Aber es macht vor allem Spaß. Das ist ein kindlicher Trieb. Als ich klein war, habe ich mir auch einen Bart angeklebt, eine Krone aufgesetzt und geglaubt, ich bin König Pópo.
profil: Stürzen Sie während Ihrer Arbeiten in Krisen?
Zadek: Ja, wahnsinnig, regelmäßig, bei jeder Inszenierung schlittere ich in eine Krisensituation. Wenn ich einen schlechten Assistenten habe, der die Technik nicht im Griff hat, werde ich krank. Da kriege ich Herzrhythmusstörungen. Als ich 1981 „Der Widerspenstigen Zähmung“ gemacht habe, hatte ich furchtbare Probleme mit den Schauspielern. Ich rief Rainer Werner Fassbinder an und habe ihn gefragt: Was würdest du jetzt machen? Er hat gesagt: Alle rausschmeißen. Das war ein guter Rat.
profil: Müssen die Schauspieler unter Ihnen viel ertragen?
Zadek: Man muss mich aushalten, ja. Aber auf eine gewisse Weise bin ich sehr leicht auszuhalten. Ich bin kein Schullehrer. Meistens sitze ich einfach da, höre zu und schaue genau hin. Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis und kann mich genau erinnern, was jemand vor fünf Tagen an einer bestimmten Stelle gemacht hat. Irgendwann sage ich dann, ob mir das gefällt oder nicht. Wenn ich sofort etwas sagen würde, würde das die Schauspieler in ihrer Kreativität nur bremsen. Dann fiele denen gar nichts mehr ein.
profil: Was tun Sie, wenn Ihnen einmal nichts einfällt?
Zadek: Dann warte ich ab.
profil: Das schreckt Sie nicht?
Zadek: Ich habe so tolle Schauspieler, da stürzen sofort vierzig gute oder schlechte Ideen auf mich ein. Die Angst, dass mir nichts einfällt, hatte ich früher. Da war ich der kleine Peter Zadek, den niemand kannte. Als ich einmal in den sechziger Jahren in Stuttgart zum Intendanten ging, weil ein Schauspieler meine Ideen für blöd hielt, und ihn vor die Wahl stellte: „Er oder ich“, antwortete der Intendant: „Er“. Das würde heute vielleicht nicht so passieren.
profil: Sie fordern Theaterhäuser wie kein anderer: Ihre Arbeiten sind teuer und großzügig in der Probenzeit. Warum verdient Theater so viel Aufwand?
Zadek: Ich finde meine Probenbedingungen nicht ausgefallen. Ich muss bloß in Ruhe gelassen werden. Bei „Hamlet“ waren die Schauspieler teuer, lauter Stars. „Peer Gynt“ war teuer, weil wir ein halbes Jahr geprobt haben.
profil: Ein halbes Jahr? Andere Regisseure erhalten höchstens drei Monate Probenzeit für eine Arbeit.
Zadek: Ich habe für dieses endlose Ding mit seinem komplizierten Text und diesem fast unspielbaren zweiten Teil einfach viel Zeit gebraucht. Intendant Claus Peymann hat mir am Berliner Ensemble die Zeit für diese extrem kuriose Arbeit gegeben. Das hätte wahrscheinlich kein anderer Intendant der Welt gemacht. Ich hoffe, dass es ihm nicht leid tut. Die Aufführung ist ja ein riesiger Erfolg.
profil: Die Kritik ist da anderer Meinung und hat die Aufführung zum Teil arg zerzaust. Nehmen Sie Kritik noch ernst?
Zadek: Es gibt nur zwei oder drei Kritiker, die ich ernst nehme, und die haben den „Peer Gynt“ alle ganz toll gefunden – im Gegensatz zu den provozierenden Berliner Kritikern, ähnlich wie die Wiener Kritiker. Es sind aber immer ein oder zwei darunter, die klug sind.
profil: Wie haben die Schauspieler darauf reagiert, fünf Monate intensiv „Peer Gynt“ zu proben?
Zadek: Viele von denen sagten: Ich muss dazwischen einen Film machen, dies und jenes spielen. Ich habe gesagt: Nee, nicht bei mir. Zuerst haben wir alles ausprobiert. Nach den ersten Monaten begannen die Schauspieler, sich ein wenig zu langweilen, und manche wurden zickig. Da habe ich ein paar von ihnen ausgetauscht. Langeweile ist wichtig zwischen Menschen. Entweder trennt man sich in solchen Momenten, oder man erreicht eine tiefere Ebene.
profil: Warum ist Theater all diese Mühen wert?
Zadek: Weil Kunst die aufregendste Ausdrucksform des Menschen ist. Das Theater ist der Wissenschaft überlegen, weil es nicht nur Informationen liefert, sondern sich auf eine sehr emotionale, fantastische Weise auf Menschen überträgt. Die Menschen wollen immer etwas über sich erfahren: was ihre Träume sind, woraus ihr Versagen besteht, warum es Kriege gibt, warum es Mörder gibt, warum es Liebe gibt.
profil: Gehen Sie selbst oft ins Theater?
Zadek: Nein, immer weniger.
profil: Warum nicht?
Zadek: Weil ich mich ungern langweile. Das deutsche Theater ist in einem albernen Zustand. Statt Ideen sind nur noch Scheinexperimente zu sehen. Als wir in den sechziger und siebziger Jahren experimentierten, hatten wir den Vorteil, dass wir gegen ein starkes Establishment anrennen konnten. Und diese beiden Elemente gehören jederzeit zur Kunst: das Experiment und das Establishment.
profil: Ausgerechnet Ihnen, dem Revolutionär, fehlt das Establishment?
Zadek: Ein Theater, das keine Geschichten erzählen kann, finde ich furchtbar langweilig. Ich ziehe realistisches Theater einer Stilisierung im Grunde vor. Der Regisseur Thomas Ostermeier etwa ist absolut imstande, realistisches Theater zu machen. Bloß verhindert die heutige Theaterkultur genau das. Er muss dauernd so clevere kleine Späßchen machen.
profil: Werfen Sie das auch so großen Kollegen wie Frank Castorf vor?
Zadek: Castorfs Arbeiten sind von hoher Qualität, aber sie sind nicht nach meinem Geschmack. Sie sind mir zu laut, zu kalt, zu rotzig, zu ausgedacht. Da warte ich lieber, bis Klaus Michael Grüber oder Luc Bondy wieder etwas machen. Das ist wie bei Dirigaten von Nikolaus Harnoncourt. Ich finde ihn genial, gehe aber nicht in seine Konzerte, weil mich etwas anderes mehr interessiert.
profil: Frank Castorf lässt sich durch TV-Formate wie „Big Brother“ inspirieren.
Zadek: Ja, langweilig.
profil: Inspiriert Sie das Medium Fernsehen?
Zadek: Ich habe jahrelang Fernsehen gemacht. Heute inspiriert mich das Fernsehen nur dazu, es abzudrehen. Die Filme sehen aus wie kommerzielle Clips, die Krimis sind schlecht gemacht und schlecht gedacht, Schauspieler, von denen man weiß, dass sie gut sind, sind im Fernsehen miserabel. Herzlichen Dank.
profil: Sie sind restlos desillusioniert und enttäuscht?
Zadek: Enttäuscht bin ich überhaupt nicht. Das sind ja nicht meine persönlichen Probleme. Da bin ich egoistisch.
profil: Was erwarten Sie vom Theater noch?
Zadek: Es muss mindestens so unerwartet sein wie das Leben. Sie könnten mich jetzt plötzlich anspucken, mir um den Hals fallen, auf den Stuhl steigen oder sich schlafen legen. Ich kenne Sie ja nicht. Genauso muss am Theater immer alles möglich sein. Doch wenn ich „Emilia Galotti“ von Michael Thalheimer sehe, weiß ich nach den ersten zehn Minuten genau, wie der Rest der Inszenierung verlaufen wird. Das irritiert mich.
profil: Sie haben keinen Autor so oft inszeniert wie Shakespeare. Was fesselt Sie so an ihm?
Zadek: Mit Shakespeare habe ich eine neue Freiheit in meiner Arbeit erreicht. Das unerwartete Detail. Zum ersten Mal 1965 mit „Maß für Maߓ. Ich hatte eine ganz normale Regie geplant. Nach drei Wochen sagte ich mir: Schluss, ich mag nicht mehr, ich mache das jetzt genau so, wie ich es mir vorstelle. Die Schauspieler habe ich gebeten, mich nicht zu fragen, warum sie jetzt dieses oder jenes tun sollten. Für jemanden, der das Stück nicht auswendig kannte, war der Abend komplett unverständlich. Das Verhältnis zum Text war sehr differenziert, unlogisch und fast surreal.
profil: Für Ihren „Othello“ ließen Sie sich 1976 von einem italienischen Comic beeinflussen. Was reizt Sie an den Bildergeschichten?
Zadek: In den sechziger und siebziger Jahren fand ich die Vereinfachung der Comics hilfreich. Denn im Prinzip erzählt Shakespeare sehr simple Geschichten. Es gibt eine Frühfassung von „Hamlet“, die völlig unpsychologisch ist. Da ist Hamlet kein Intellektueller, sondern ein junger Mann, der einfach nicht verkraftet, dass seine Mutter seinen Onkel heiratet, und deshalb ein Riesentrara veranstaltet. Man muss die einfachen Geschichten erzählen, und das konnte ich eigentlich immer.
profil: Warum haben Sie Ihr Leben lang um Goethe einen großen Bogen gemacht?
Zadek: Ich habe nichts von Goethe inszeniert, weil er ein schlechter Bühnenautor ist. Der hat kein einziges gutes Stück geschrieben. Wer kann „Faust I“ nacherzählen, ohne einen Lachkrampf zu kriegen? Das Gretchen geht mir auf die Nerven, und Knittelverse halte ich auch nicht aus. „Faust II“ verstehe ich nicht, darüber brauchen wir also erst gar nicht sprechen.
profil: Haben Sie Peter Steins „Faust“-Projekt gesehen?
Zadek: Einen Teil davon.
profil: Wie hat es Ihnen gefallen?
Zadek: Wenn man sich für den „Faust“ interessiert ...
profil: Regisseur Peter Stein war jahrzehntelang Ihr großer Antipode. Haben Sie inzwischen Frieden geschlossen?
Zadek: Wir haben keinen Frieden geschlossen, weil das nicht nötig ist. Es gab im deutschen Theater immer diese zwei Pole: ein intellektuelles Theater wie bei Stein und ein subjektiv-emotionales wie bei mir. Viele Arbeiten Steins finde ich ganz wunderbar, nur ist das halt nicht meine Art, Theater zu machen – oder überhaupt etwas zu machen. Das ist mir alles zu deutsch. Peter Stein ist in seiner Gründlichkeit, Pingeligkeit und Genauigkeit sehr deutsch.
profil: Sie haben immer wieder Musicals inszeniert. Verstehen Sie sich als Entertainer?
Zadek: Sicher will ich unterhalten. Bevor ich anfing, gab es Musicals in Deutschland überhaupt nicht. Damals galt das Theater als moralische Anstalt. Dagegen habe ich mich immer gewehrt: mit Pop Art, mit Revuen wie „Kleiner Mann, was nun?“ oder eben mit „Music Man“. In England hat mich irritiert, dass man die Leute nie dazu kriegt, über ein Thema länger als drei Minuten ernsthaft zu diskutieren, ohne dass jemand einen Witz machen muss. In Deutschland ist es genau umgekehrt. Die Mischung aus deutschen und englischen Einflüssen, aus E und U, ist sehr präsent in meiner Arbeit.
profil: Ihren ersten Skandal in England provozierten Sie 1957, als Jean Genet Sie mit einer Pistole bedrohte, weil er mit Ihrer Inszenierung seines Stücks „Der Balkon“ nicht einverstanden war. Kann ein Regisseur dem Autor gegenüber im Recht sein?
Zadek: Natürlich kann er das sein. Der
Autor kann etwa Dinge verlangen, die nicht realisierbar sind. Genet wollte eine stilisierte Inszenierung, ich habe eine naturalistische gemacht. Das ist mir auch bei Sarah Kane passiert, als ich „Gesäubert“ 1998 in Hamburg gemacht habe.
„I am devestated“, hat sie gesagt. Der Abend war ein großer Erfolg. Warum schreibt sie aber auch lauter realistische Regieanweisungen in ihren Text, wenn sie eine stilisierte Aufführung will?
profil: Was denken Sie, wenn Sie Mist gebaut haben?
Zadek: Na ja: sorry, so sorry. Ich tue mein Bestes.
profil: Sie inszenieren immer seltener zeitgenössische Stücke. Sind Sie von den Gegenwartsautoren enttäuscht?
Zadek: Ja, entweder sind sie uninteressant oder so pur wie Peter Handke, der für mich unverständlich ist. Ich hatte schon immer das Problem, dass es journalistisches Theater in Deutschland nicht gibt. Die wollen alle immer für die Ewigkeit schreiben. Warum schreibt niemand ein Stück etwa über Renten? Das ist doch ein brennendes Thema. Stattdessen setzt sich jemand wie Herr Fosse hin und dichtet dann so ein kleines feines Ding über zwei alte Rentner, die sich auf einer Bank unterhalten und ein Huhn verzehren.
profil: Denken Sie oft an Ihre großen Erfolge und großen Skandale zurück?
Zadek: Doch, die fallen mir gelegentlich wieder ein. Ich habe hunderte Inszenierungen gemacht. „Die Geisel“ habe ich Anfang der sechziger Jahre inszeniert, als die Mauer gebaut wurde. Da wurde stundenlang im Theater für unsere Aufführung demonstriert, weil wir genau den Puls der Zeit getroffen hatten. Als ich Jahre später den „Pott“ in Berlin gemacht habe, haben wir die ganze Nacht auf der Bühne gestanden, um uns gegen Studenten zu verteidigen, die mich als Faschisten beschimpften.
profil: Wie haben Sie die Buh-Orkane erlebt, die Ihre Karriere begleitet haben?
Zadek: Das gehörte einfach zu einer Zadek-Inszenierung und hat mich nie sonderlich berührt. Als ich 1976 den „Othello“ machte, haben die Leute im Zuschauerraum einander richtig geprügelt. Die zweite Hälfte des Stücks hat kein Mensch mehr gehört, weil die Kämpfe so laut waren. Das war toll.
profil: Fehlt Ihnen das heute?
Zadek: Und wie mir das fehlt – das ist ja alles zum Einschlafen! Ich weiß nicht, was man tun muss, damit das Theater wieder eine Reaktion hervorruft.
profil: Als Michael Thalheimer 2003 Büchners „Woyzeck“ bei den Salzburger Festspielen inszenierte, brüllten Zuschauer in die Aufführung hinein.
Zadek: Da steigt Thalheimer schon in meiner Achtung.
profil: In „Der Jude von Malta“ ließen Sie Gert Voss „Ludo-Fick“ kalauern, in „Peer Gynt“ ein Schwein auf die Bühne pissen. Wollten Sie damit provozieren?
Zadek: Aber nein, das ist doch lustig. Als ich „Lulu“ machte, konnte man den ganzen Abend den nackten Körper von Susanne Lothar sehen. Ein wunderbarer, schöner Körper.
profil: Braucht Theater Eros?
Zadek: Wir verbringen höchstens die Hälfte unseres Lebens angezogen. Warum sollte das am Theater anders sein? Das muss nicht sofort mit Sex zu tun haben, kann es aber. Sex ist doch schön. Besonders Sex im Zusammenhang mit Humor. Das hat man so wenig.
profil: In „Gesäubert“ brachten Sie exzessive Gewaltszenen auf die Bühne. Wie viel Schock verträgt das Theater?
Zadek: Das ist eine Frage von Qualität. Wenn Gewalt aus oberflächlichen Gründen gezeigt wird, wie in Mel Gibsons Kinofilm „Die Passion Christi“, ist das dumm. Es geht immer um den Impuls, aus dem heraus Gewalt inszeniert wird. Schock aus Witz kann auch lustig sein. Als ich „Die Herzogin von Malfi“ machte, war die ganze Zeit Blut auf der Bühne. Es gehörte zum Stück.
profil: Der Tod wird in Ihren Inszenierungen nie verklärt. Ganz anders etwa als in Verdis Opern, wo Tod als Erlösung besungen wird.
Zadek: Der Tod ist unnötig und unlogisch. Man erreicht endlich einen Punkt, an dem man mehr weiß, als man je gewusst hat, mehr kann, als man je gekonnt hat, und dann stirbt man. Das ist Verschwendung. Dazu habe ich noch nie ein anderes Verhältnis gehabt.
profil: Sie verachten das Alter?
Zadek: Das Alter ist ekelhaft. Man müsste älter werden, ohne dass der Körper älter wird. Man hat Wehwehchen und ist dauernd müde. Ich bin ja noch ganz gut beieinander, aber man weiß nie. Mit 78 kann morgen alles vorbei sein. Oder man hat kein Gedächtnis mehr. Grausam. Aber ein Weilchen hoffentlich werde ich Sie alle noch ein bisschen ärgern.