Das Erzählte hinterfragt

Das Erzählte hinterfragt

Drucken

Schriftgröße

Es war im Herbst 1974, ich hatte gerade maturiert, als ich meine Mutter in Venedig besuchte. Sie hatte dort mit ihrem zweiten Mann eine kleine Wohnung am Canale Grande gemietet, wo die beiden die Hälfte des Jahres verbrachten. Eines Nachmittags hieß es, sie seien bei guten Freunden eingeladen, und zwar beim alten Fürstenpaar Clary-Aldringen. Ich wurde gefragt, ob ich nicht Interesse hätte mitzukommen, da der Fürst eine beeindruckende, gedächtnisstarke Persönlichkeit sei, der aus der Geschichte erzählen könne wie kaum ein anderer.

So ging ich also mit in den schon etwas angejahrten Clary’schen Palazzo an der Giudecca und lauschte den Worten des greisen, aber dennoch stattlichen Fürsten, der aus der Tiefe seiner Erinnerung schöpfte, in leichter Rede und mit einer Präzision, die sehr beeindruckend war.

Auf dem Weg zurück erzählte mir dann meine Mutter eine Geschichte über die Fürstin Clary-Aldringen, die mein damaliges Weltbild einigermaßen durcheinander brachte. Die Fürstin sei nämlich eine überzeugte „Nazisse“ gewesen, was sich auch am Amulett an ihrer Halskette gezeigt habe: auf der einen Seite ein Kruzifix, auf der anderen ein Bildnis von Adolf Hitler.

Bis dahin hatte ich in der märchenhaften Vorstellung gelebt, dass der altösterreichische Adel anders als der deutsche vom Nazi-Virus weitestgehend verschont gewesen war. Ich war aufgewachsen mit den Geschichten eines Willy Thurn und Taxis, der sich offenbar immer antinazistisch betätigt hatte, oder jenen des Ferdinand Trauttmannsdorff, der in der Hitler-Jugend statt des Hitler-Grußes so lange „Grüß Gott“ sagte, bis er aus der HJ hinausgeworfen wurde.

Solche G’schichterln hörte ich immer wieder, und weil daraus ein fest gerahmtes Bild entstand, dauerte es Jahre, bis ich begann, das Erzählte zu hinterfragen. Das Bild fiel dann rasch aus seinem Rahmen.

Der ehemalige österreichische Adel, der mit wenigen Ausnahmen immer zum katholischen Lager gezählt hat und von der katholischen Gegenreformation unter den Habsburgern auch wirtschaftlich in hohem Maß profitiert hatte, war für den Nationalsozialismus ebenso leicht zu gewinnen wie andere Gesellschaftsschichten. Er war um nichts besser, er lebte die gleichen rassistischen Vorurteile wie Bauern, konservative Bürger und Gewerbetreibende, er beteiligte sich an „Arisierungen“ so wie viele andere auch, er diskreditierte und denunzierte, wenn er sich davon persönliche Vorteile erwartete.

Selbstverständlich gab es auch andere, widerständige Geister in der alten österreichischen Aristokratie, es gab auch eine Hand voll Helden, und es gab auch Opfer der Gewaltherrschaft, aber die Mehrheit ließ die Nationalsozialisten gewähren, sie ließ sich begeistern und machte mit, ohne dadurch offenbar in ernsthafte Konflikte mit der eigenen Religion zu geraten. Noch Jahrzehnte nach Kriegsende konnte man Repräsentanten des alten Adels treffen, die launige Geschichten von Tischrunden mit dem „Führer“ zum Besten gaben, ehemalige SS-Mitglieder mit Adelsprädikaten, die wie frühere Reichswehr-Offiziere nach wie vor von der jüdischen Weltverschwörung schwadronierten und sich an antisemitischen Witzen delektierten.

Es genügt ein Blick in die Listen der illegalen SA- und SS-Standarten – ein Dokument übrigens, das mir vor rund einem Vierteljahrhundert der damalige FPÖ-Bezirksfunktionär John Gudenus überreichte, um mich davon zu überzeugen, dass der Nationalsozialismus doch nicht so schrecklich gewesen sein könne, wenn so viele aus der alten Aristokratie bereits illegal dabei gewesen waren. Da waren Namen zu lesen wie Rohan, Bachofen-Echt, Gudenus und Offermann, aber auch jene von Mitgliedern meiner eigenen Familie. Der „Anschluss“ wurde auch von Vertretern des Großgrundbesitzes öffentlich begrüßt, nahezu ausnahmslos Mitglieder der Aristokratie. Die große Mehrheit war bis 1938 bei der – nicht zufällig von einem Aristokraten wie dem Fürsten Starhemberg geführten – Heimwehr und in der Vaterländischen Front, voller Hoffnung auf die Wiederherstellung der Monarchie. Als das gescheitert war, unterwarf sich diese Mehrheit dem barbarischen System von „Führer und Vaterland“ und legte ihren Eid auf Hitler ab.

Sehr oft gingen die politischen Haltungen quer durch die Familien. In meiner eigenen gab es jene, die bereits nach dem Untergang der Monarchie tschechisch optiert hatten und deswegen im Dritten Reich verfolgt wurden. Unter den vielen Cousins meines Vaters waren mehrere Brüder – einer war bei der SS und im engsten Umfeld Odilo Globocniks (und nach 1945 entsprechend lang in Glasenbach); ein zweiter trat nach jahrelanger Mitgliedschaft aus der SS aus, während der dritte Bruder, Ferdinand Czernin, im New Yorker Exil intensiv daran mitarbeitete, ein demokratisch-republikanisches Österreich vorzubereiten.

Einen Aspekt sollte man bei jener Minderheit, die tatsächlich antinazistisch war, nicht außer Acht lassen: Die meisten waren als Legitimisten Antidemokraten, die gemeinsam mit Otto Habsburg von der Restauration der Habsburger träumten. Andere standen den Nazis nur deswegen fern, weil diese ihnen zu „proletenhaft“ waren.

Liberale, rechtsstaatliche Ideen gab es zwei Jahrzehnte nach der Auflösung der Monarchie nur bei den wenigsten. Sie verachteten die Demokratie, die ihn plebejisch erschien, sie glaubten felsenfest an das kaiserliche Gottesgnadentum – und pflegten ansonsten ihre Vorurteile.

Bei manchen hat sich das bis heute nicht geändert.