"Das ist nicht Indiens 11. September!"

"Das ist nicht Indiens 11. September!": Publizist Tariq Ali im Interview mit profil

Publizist Tariq Ali über die Attentate von Mumbai

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profil: Nach wie vor tappt Indien bei der Suche nach den Hintermännern des Terrorattentats von Mumbai im Dunkeln. Es wird behauptet, Pakistan stecke dahinter.
Ali: Wir brauchen mehr von Indien als bloße Anschuldigungen. Ich denke, Delhi weiß genau, dass weder die pakistanische Regierung noch irgendein Flügel wie das Militär dafür verantwortlich ist. Wenn es einen Beweis dafür gäbe, wäre man schon längst damit herausgerückt. Einer der Terroristen, die lebendig geschnappt wurden, sagte, er kommt aus einem pakistanischen Dorf namens Faridkot. So heißen drei kleine Dörfer in Pakistan. Heimische Qualitätszeitungen haben daraufhin Journalisten in alle drei Dörfer geschickt, um das zu prüfen. Das Resultat: Niemand in dem Dorf kannte den Namen des Terroristen oder dessen Familie und Verwandte. Wir sehen also: Alles ist nach wie vor unklar, auf die indischen Berichte können Sie sich nicht verlassen, denn die sind politisch motiviert.

profil: Sie schreiben in einer Analyse über den Terroranschlag von Mumbai, dass in der Berichterstattung die Bedeutung des Konflikts zwischen Hindus und der moslemischen Minderheit in Indien unterschätzt wird.
Ali: Genau, dieser Konflikt hat sich in den letzten Jahren verschärft. Nur ein Beispiel: Vor ein paar Monaten gab es in Kaschmir, der indisch-pakistanischen Grenzregion, die vom indischen Militär besetzt wird, eine friedliche Demonstration von Moslems, die vom Militär brutal niedergeschlagen wurde. Später stürmte das indische Militär das Spital, in dem die Verletzten behandelt wurden. Sie schlugen die Krankenschwestern und Ärzte und zerrten die Verwundeten wieder aus dem Krankenhaus heraus. Sie können sich vorstellen, was dieses Ereignis, über das in westlichen Medien nicht ­berichtet wurde, in der moslemischen ­Gesellschaft in Indien für Emotionen auslöste.

profil: In den letzten Jahren gab es zahlreiche Anschläge von radikalen Moslems in Indien. Warum unterschätzt die Regierung in Delhi dieses Problem nach wie vor?
Ali: Ein großer Teil der moslemischen Inder hat in den vergangenen zehn Jahren völlig das Vertrauen in die indische Regierung verloren. In den sechziger und siebziger Jahren wurden solche Menschen Maoisten, Trotzkisten oder Marxisten. Heute werden sie zu Islamisten, von denen es auch viele in Mumbai gibt. Der Gedanke, dass eine Generation frustrierter, radikalisierter Moslems heranwächst, wäre politisch ungünstig für die Machthaber in Delhi. Dann müsste sich die Regierung eingestehen, dass das eigene System versagt hat. So ist es doch viel bequemer, mit dem Finger auf Pakistan zu zeigen.

profil: Offensichtlich haben sich die Terroristen in Mumbai sehr gut ausgekannt …
Ali: Ja, und zwar viel besser als das Militär, das versuchte, die Stadt zu verteidigen! Wir wissen nach wie vor nicht, wie viele Attentäter es gab. Einmal heißt es weit über zwanzig, dann wieder zehn. Man muss sich das vorstellen: zehn Männer, und die indische Armee wird nicht mit ihnen fertig – das ist nicht vorstellbar. Es gibt viele Details, welche die indische Regierung der Öffentlichkeit nach wie vor verschweigen will. Fest steht: Die terroristische Anschlagsserie auf die Luxushotels in Mumbai war zwar gut geplant, erforderte aber kein Übermaß an logistischem Geschick: Es waren alles leichte Ziele. Die Absicht der Terroristen bestand offensichtlich darin, Chaos und Verwirrung zu stiften und den Blick auf Indien und die dortigen Probleme zu richten. Es gab schon in den vergangenen Jahren große Anschläge in Mumbai, und das hat mit dem politischen Klima dort zu tun: Extremistische hinduistische Gruppen schaffen ein Klima der Angst und der Unterdrückung gegenüber der moslemischen Minderheit.

profil: Wenn es tatsächlich moslemische Inder waren und keine Terroristen aus dem Ausland, warum hatten sie es dann auf westliche Touristen und Israelis abgesehen?
Ali: Weil alle radikalen Moslems – auch die indischen – Amerika und den Westen als Feinde sehen. Sie wissen um die Situation im Irak und in Afghanistan, die vom Westen angegriffen wurden. Sie wissen um die katastrophale Situation der Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten.

profil: Dennoch ist eine Verwicklung Pakis­tans nicht ausgeschlossen. Immer wieder wird im Zusammenhang mit den Anschlägen in Mumbai der mächtige und undurchsichtige pakistanische Geheimdienst ISI genannt, über den die Regierung in Islamabad keine Kontrolle hat.
Ali: Natürlich kann man das nicht ausschließen. Der ISI errang seine große Bedeutung in den achtziger Jahren, als der Westen gegen Russland in Afghanistan Krieg führte. In dieser Zeit wurde der ISI quasi unabhängig, weil er von den USA finanziell unterstützt wurde und viele hochrangige Mitarbeiter in den USA ausgebildet wurden, um gegen den Kommunismus zu kämpfen. Als Pervez Musharraf pakistanischer Präsident wurde und drei Anschläge auf sein Leben durch Islamisten verübt wurden, begann er den Geheimdienst und das Militär von islamischen Kräften säubern zu lassen. Den Auftrag dazu hatte General Parvaz Kayani, ein Mann, der sehr eng mit den USA zusammenarbeitet. Er wurde von Musharraf zum Chef des ISI ernannt. Kayani ist heute Chef des pakistanischen Militärs. Der Mann, den Kayani an die Spitze des ISI setzte, ist sein General Pasha, der ebenso ein enger Verbündeter Amerikas ist.

profil: Das heißt, eine Verwicklung des ISI ist für Sie ausgeschlossen?
Ali: Nein, aber es ist auf jeden Fall viel zu kurz gegriffen, wenn man jetzt den ISI für Terroranschläge in Indien verantwortlich macht. Wenn der ISI tatsächlich seine Finger im Spiel hat, dann war es nicht nur er allein, dann hat das pakistanische Militär diese Entscheidung getroffen. Natürlich gibt es im ISI auch Verbrecher: Als vor ein paar Jahren die indische Botschaft in Kabul bombardiert wurde, kam die Anordnung dafür von einem hochrangigen ISI-Beamten. Der ISI hat diesen Mann gefeuert und ins Gefängnis gesteckt. Das war ein klares Signal an die USA: Wir unternehmen alles, um islamische Kräfte innerhalb unseres Apparats zu zerstören. Ich denke, wenn tatsächlich der ISI hinter den Anschlägen von Mumbai steckt, dann war das eine Anordnung von viel mächtigeren Kräften innerhalb des Landes.

profil: Geht von der nächsten, der jüngeren Generation innerhalb des ISI eine islamische Gefahr aus?
Ali: Das ist eine viel diskutierte Frage in ­Pakistan. Musharraf sagt, dass er den ISI von islamischen Kräften gesäubert hat. Das wirkliche Problem ist der verheerende Krieg in Afghanistan. Viele junge Soldaten und ISI-Mitarbeiter werden dort radikalisiert. Zahlreiche pakistanische Soldaten, die den Befehl hatten, auf die Taliban zu schießen, haben diesen Befehl verweigert. Sie sind freiwillig aus dem Militär ausgetreten, weil sie in den Taliban keinen wirklichen Feind sehen.

profil: Wie wird sich dieser Anschlag auf die Beziehungen zwischen den beiden Ländern aus­wirken?
Ali: Die Beziehungen zwischen Pakistan und Indien haben sich in den letzten Monaten deutlich verbessert. In der pakistanischen Bevölkerung gab es in den letzten Jahren eine erstaunliche Entwicklung. Eine landesweite Meinungsumfrage in Pakistan durch das New-American-Foundation-Institut war faszinierend: Auf die Frage, wer in ihren Augen der größte Feind Pakistans sei, gaben 65 Prozent die USA an. Auf die Frage, ob Indien der größte Feind des Landes sei, antworteten nur elf Prozent mit Ja. Das ist eine Revolution: Jahrelang galt Indien als der mit Abstand größte Feind Pakistans. Seit Kurzem wird sogar öffentlich über eine Wirtschaftsunion zwischen Delhi und Islamabad nach dem Vorbild der EU nachgedacht: zwei souveräne Staaten, die wirtschaftlich eng zusammenarbeiten.

profil: Und ausgerechnet jetzt kommt es zu diesen verheerenden Anschlägen in Mumbai. Das Verhältnis zwischen Delhi und Islamabad ist dadurch stark abgekühlt.
Ali: Ja, das ist aber nur ein vorübergehendes Phänomen. Das pakistanische Militär hat seine volle Kooperation bei der Suche nach den Hintermännern des Anschlags und eine bessere Zusammenarbeit im Kampf gegen islamische Terroristen angeboten. Wir müssen abwarten, was in den nächsten Wochen passiert, die werden entscheidend sein. Auf jeden Fall sollten die rechtsextremen hinduistischen Kräfte endlich damit aufhören zu kolportieren, bei den Anschlägen von Mumbai handle es sich um einen Anschlag wie 2001 in New York auf das World Trade Center. Das hier ist nicht Indiens 11. September! Nur die Amerikaner haben das Recht, über das Trauma des 11. September zu sprechen.

Interview: Georg Hoffmann-Ostenhof, Gunther Müller