Das böse Kapital

Das böse Kapital

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Sensationell war die Kapitalismus-Schelte, die der deutsche Sozialdemokraten-Chef Franz Müntefering vor nunmehr über zwei Wochen vom Stapel ließ, gewiss nicht. Und so wurde sie zunächst auch interpretiert: als vordergründiger Wahlkampfschmäh, mit dem Müntefering die frustrierten linken SPD-Stammwähler doch noch zu den Urnen bei der wichtigen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai treiben will.

Jetzt zeigt sich: Das war zu kurz gegriffen. Franz Müntefering ist inzwischen zum deutschen Superstar avanciert. Und das ist sensationell. Denn „Münte“, wie er allgemein genannt wird, ist das absolute Gegenteil eines charismatischen Politikers. Eher ein Mann mit dem Habitus eines Apparatschiks, mit legendär grauenhafter Frisur, schmalen Lippen und einer unsinnlichen Kurzsatz-Rhetorik – insgesamt ein nach landläufigen Begriffen höchst uncooler Typ.

Und die Attacke auf die „Macht des Kapitals“, auf die internationalen Investoren, die „wie Heuschrecken über die Unternehmen herfallen“, auf die „kurzatmige“ Profitorientierung, die sich um Arbeitsplätze nicht schert, und überhaupt auf jene Kräfte, „die den Staat aushungern wollen“ und so „die Demokratie gefährden“ – solche Attacken sind andere schon vor ihm und viel eleganter geritten.

Dennoch fliegen dem Obersozi dieser Tage die deutschen Herzen zu. An die zwei Drittel der Bundesbürger in Ost und West stimmen in allen Punkten mit seiner Kapitalismuskritik überein, sagen die Umfrageinstitute.

Auch Kanzler Schröder, ob seiner unternehmerfreundlichen Politik der Genosse der Bosse genannt, hält seinem Parteichef die Stange. Nicht nur der linke, auch der rechte Flügel der SPD nickt beifällig. Die Kirchen stehen nahezu geschlossen auf der Seite des Roten im Kampf gegen die „Ökonomisierung“ von allem und jedem. Ein Bischof hat im Fernsehen Müntes harschen Ton sogar mit Berufung auf Jesus verteidigt: Der wäre auch nicht gehört worden, hätte er allzu weich formuliert.

Und das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, zwar noch immer wie in den vergangenen Monaten voll der Häme gegenüber der in der Krise steckenden rot-grünen Regierung, versäumte es vergangene Woche aber, den ersten deutschen Papst seit Jahrhunderten aufs Cover zu knallen, und beförderte stattdessen mit der Schlagzeile „Kapitalismus total global“ das Müntefering-Thema zum Aufmacher.

Auf den Punkt gebracht hat die deutsche Stimmung kürzlich die prominente Publizistin Wibke Bruhns, als sie in einer Talkshow erleichtert rief: „Endlich spricht einer aus, was alle denken!“

Was ist da passiert?
Ein Politologe hat einmal paradox formuliert: Der Kommunismus war eine einzige Katastrophe für den Osten. Für den Westen – vor allem in Westeuropa – aber ein Segen. Die Angst vor dem Kommunismus hat dort, wo er nicht an der Macht war, wesentlich dazu beigetragen, den Wohlfahrtsstaat, wie wir ihn kennen, also das europäische Modell des sozialstaatlich gezähmten Kapitalismus, zu schaffen. Mit dem Untergang des Kommunismus hat sich – um es einmal münteferisch auszudrücken – das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit zugunsten von Ersterem verschoben. Und das Benennen jener Missstände, die zum Entstehen des Kommunismus geführt hatten und die beseitigen zu wollen er vorgab – wie Ungerechtigkeit und Ungleichheit, Ausbeutung und Armut –, war vollends diskreditiert.

In den neunziger Jahren sah man alt aus, wenn man über diese Themen redete. Alles, was mit „sozial“ zusammenhing, bekam plötzlich einen schlechten Geruch. Gewerkschaften wurden zu „ewiggestrigen Besitzstandswahrern“. Und der europäische Wohlfahrtsstaat erschien vielen wie ein zu beseitigendes Fossil aus einer längst untergegangenen, vom Bolschewismus geprägten Zeit.

Reformen waren tatsächlich notwendig. Aber das, was der SPD-Chef holzschnittartig konstatiert und wortreich beklagt, hat sich seit den achtziger Jahren rasant entwickelt. Bloß fand sich angesichts der neuen Tabus niemand Relevanter, der sie adäquat beschreiben und bekämpfen wollte. Die ideologische Hegemonie hatte auch in der europäischen Linken das, was die Franzosen das „neoliberale Einheitsdenken“ nennen.

Unzufriedenheit mit den Verhältnissen war wohl da, vor allem bei den Unterschichten. Aber die drückte sich im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts zunächst in Rassismus und Xenophobie aus. Erst an der Jahrhundertwende entstand in Seattle, Davos und Genua die so genannte Antiglobalisierungsbewegung: Eine in ihrer Mehrheit engagierte Jugend aus bürgerlichen Verhältnissen begann wieder, Systemkritik zu üben. Spektakulär, aber vielfach widersprüchlich und teilweise verwirrt. Da fiel es nicht schwer, sie zu einer spinnerten und marginalen Kraft zu erklären. Auch die postkommunistische PDS oder den dissidenten Narziss Oskar Lafontaine konnte man als außenseiterisch abtun.

Mit Müntefering ist die Kapitalismus-Kritik aber ins Zentrum der deutschen Gesellschaft und Politik zurückgekehrt. Und plötzlich erklingt das, was sich noch bis vor Kurzem wie ein eingefrorener Posthornton anhörte, in vielen Ohren wie eine frische, kräftige Fanfare.

Ob es der im Moment höchst ungeliebten SPD wahltaktisch nützt, ist ungewiss. Und dass aus der Kritik noch keine konkrete Strategie und Politik entwickelt wurde – die ja nur europaweit machbar wäre –, ist evident.

Einige Tabus sind aber gebrochen. Ein Paradigmenwechsel zeichnet sich ab. Eine neue Debatte ist eröffnet. Wahrscheinlich nicht nur in Deutschland.