Das Land Christi: Warum der Papst irrt

Das Land Christi: Österreich ist immer noch eines der christlichsten Länder Europas

Brave Messgeher, gläubig und gottesfürchtig

Drucken

Schriftgröße

Man darf sich das ungefähr so vorstellen: Draußen tost der Verkehr der Großstadt. Rom an einem normalen Arbeitstag. Dann öffnen sich die Pforten des Vatikans, und man betritt eine Oase der Ruhe. Mit herrlichen Grünflächen und uralten Bäumen. Ein Vatikandiener, mindestens ein Erzbischof, geleitet die Besucher. Vorbei geht es an den Werken von Dürer und El Greco, bis die Delegation in einem prachtvollen Raum Halt macht.

Hier treffen an diesem Montag Politik und Kirche aufeinander: Kanzler Wolfgang Schüssel und Papst Benedikt XVI.

Schließlich kann päpstlicher Rat bei weltlichen Missionen nicht schaden. In wenigen Wochen übernimmt Österreich den EU-Vorsitz. Die Privataudienz in Rom kommt also zur rechten Zeit. In diesem Vieraugengespräch will der Kanzler mit dem Pontifex einige brisante Themen erörtern. Ganz oben auf der Agenda: der EU-Beitritt der Türkei und der damit verbundene Dialog mit dem Islam. Außerdem will Schüssel die Gunst der Stunde für eine Klarstellung nützen: Das Konkordat werde, auch wenn ein Wiener Bezirksrat der Grünen kürzlich diese Forderung erhoben hat, nicht angetastet.

Eine Botschaft, die der Papst vermutlich mit Freude zur Kenntnis nehmen wird. Hatte sich der Heilige Vater am vorvergangenen Wochenende anlässlich des Ad-limina-Besuches der heimischen Bischöfe im Vatikan doch besorgt über den „immer noch signifikanten Säkularisierungsprozess“ geäußert und die „verstümmelte“ katholische Glaubensunterweisung in Österreich beklagt. Die Bischöfe forderte er auf, „Gottes Wort in aller Klarheit darzulegen“ und dafür nötigenfalls auch „Hohn und Spott“ zu riskieren.

Eine „Kopfwäsche“, die beträchtliches Echo hervorrief. Warum jetzt? Warum Österreich? „Es drängt sich der Eindruck auf, dass dem Papst die Errungenschaften der heimischen Kirche nicht nahe gebracht wurden“, vermutet der Wiener Pastoraltheologe Paul Zulehner.

Der Fachmann verweist auf die Zahlen: In Europa zählt Österreich immer noch zu den katholischen Hochburgen.

* Sieben von zehn Österreichern sind Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft, 87 Prozent davon römisch-katholisch.

* Die Österreicher gehen brav in die Kirche. Nur in noch stärker katholisch geprägten Ländern wie Spanien, Italien und Polen sind die Sonntagsmessen besser besucht.

* Der Zeitgeist konnte das religiöse Fundament nicht erschüttern: Überwältigende 87 Prozent der Bevölkerung erklären, an Gott zu glauben (siehe Grafiken).

* In der jüngsten Umfrage des OGM-Instituts für profil meinen 48 Prozent der Österreicher, die Kirche solle eine wichtige Rolle spielen. 55 Prozent räumen ihr einen großen bzw. durchschnittlichen Stellenwert ein.

Spirituelle Konkurrenz. Hinter dieser Frömmigkeit bahnt sich allerdings etwas an: Die Urbanisierung und eine seit Jahrzehnten andauernde moslemische Zuwanderung lassen den Einfluss der Kirche schrumpfen. Und die individualisierte Erlebnisgesellschaft bringt spirituelle Konkurrenz zum kirchlichen Angebot hervor. Darauf hat die katholische Glaubensgemeinschaft bis jetzt eher zögerlich reagiert. Experten warnen: Die Abkehr der Massen von der Amtskirche steht noch bevor.

Die päpstliche Ermahnung könnte eine erste Warnung sein. Doch um echte Wirkung zu entfalten, hätte der Papst präziser formulieren müssen, kritisiert Pastoraltheologe Zulehner: „Die Schwäche der päpstlichen Äußerungen ist, dass sie liebenswürdig unkonkret geblieben sind.“

Nun fragen sich Theologen, kirchliche Würdenträger, katholische Laienvertreter und einfache Schäfchen, was ihr Pontifex gemeint haben könnte. „Rätseln ist nicht notwendig“, meint der Grazer Bischof Egon Kapellari im profil-Interview. „Auch wenn der Papst keine Details angeführt hat, ist jedem klar, was gemeint ist: angefangen von bestimmten Aspekten der kirchlichen Sexual-, aber auch der Sozialmoral über die kompromisslose Verteidigung des Grundrechts auf Leben bis zur Bestreitung der christlichen Wurzeln Europas.“

Als Schelte seien die Papst-Worte jedenfalls nicht zu verstehen, versucht Erich Leitenberger, Pressesprecher der Erzdiözese Wien, zu beruhigen. Doch das sieht nicht jeder so. „Das ist sehr wohl ein Versuch, den Bischöfen auf die Finger zu klopfen“, ärgert sich der Theologe Adolf Holl. „Noch dazu ist die Kritik völlig verfehlt.“

Der Papst griff mit dem Begriff „Säkularisierung“ zu einer Formulierung, die die Bischofskonferenz seit Mitte der achtziger Jahre meidet. Ursprünglich benutzt, um das Auseinanderentwickeln von Kirche und Staat zu beschreiben, sei das Wort heute ein „politischer Kampfbegriff“, so der Wiener Historiker Emil Brix. In Umlauf wird er immer dann gesetzt, wenn schwindender Einfluss der Kirche auf Staat und Gesellschaft beklagt werden soll.

Als „völlig überholt“ empfindet Gertraud Knoll, ehemalige evangelische Superintendentin und heute SPÖ-Bundesrätin, nicht nur den Begriff, sondern auch den päpstlichen Befund: „Die Kirche will es nicht wahrhaben: Es gibt eine einzige Wirklichkeit, und die ist pluralistisch.“

Noch schärfere Worte findet Holl: „Wenn Rom zurückwill zum politischen Katholizismus von Dollfuß und Seipel, soll man es sagen. Und wenn man das nicht will: Was will man dann?“

Gute Frage. Gesellschaftlich und politisch hat die Kirche in den vergangenen Jahrzehnten auch in Österreich an Einfluss verloren. Aber im Vergleich mit anderen Ländern haben die Würdenträger hierzulande eine gewichtige Stimme. Und in einigen durch das Konkordat geregelten Belangen ist die Kirche bestimmende Macht.

Konkordat. Dieses Vertragswerk, welches das Zusammenspiel zwischen anerkannten Glaubensgemeinschaften und Staat regelt, ist ein „europäisches Unikat, das der Kirche immer noch größeren Einfluss auf die Politik zugesteht als anderswo“, erklärt der Innsbrucker Soziologe Hermann Denz.

Schon in der Monarchie saßen katholische Priester im Reichsrat. 1874 stutzte Kaiser Franz Joseph die Macht der geistlichen Würdenträger, indem er Schule, Eherecht und die Besetzung kirchlicher Ämter in die staatliche Sphäre zog. Trotzdem erreichte die Vermischung von Staat und Kirche in der Ersten Republik einen weiteren Höhepunkt: 1922 übernahm mit Prälat Ignaz Seipel ein hochrangiger Kirchenvertreter die Regierungsgeschäfte, 1929 wurde der spätere Wiener Erzbischof und Kardinal Theodor Innitzer Sozialminister. Der christlich-soziale Kanzler Engelbert Dollfuß gab der Kirche mit dem dritten Konkordat gleich im ersten Jahr des Ständestaates 1934 viel von der seit der Monarchie eingebüßten Macht zurück.

1938 wurde das Konkordat außer Kraft gesetzt, obwohl sich die Bischofskonferenz offiziell für einen Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland ausgesprochen hatte. Nach 1945 entspannen sich langwierige juristische Streitereien, ob das „von der Ideologie des Ständestaates geprägte, grund- sätzlich antidemokratische und autoritäre Konkordat“ (Verfassungsjurist Bernd-Christian Funk) wieder gelte oder nicht. 1957 schließlich setzte ÖVP-Kanzler Julius Raab mit Zustimmung der SPÖ das Vertragswerk von 1934 wieder in Kraft.

An den Bestimmungen wurde immer wieder gerüttelt, Ruhe kehrte erst ein, als sich die Kirche in den sechziger Jahren auf die Seelsorge zurückzog. Vergangene Woche flammte die Diskussion wieder auf, als auf dem Parteitag der Wiener Grünen ein Bezirksrat als Vorleistung für eine schwarz-grüne Koalition die Kündigung des Konkordats durch die ÖVP forderte. Die Zurechtweisung folgte prompt. Nicht nur die ÖVP-Spitze zeigte sich „entsetzt“, auch Grünen-Bundessprecher Alexander van der Bellen ging vom Gaspedal: „Das Konkordat brennt uns nicht unter den Nägeln.“

Den Österreichern auch nicht, glaubt Theologe Holl: „Die Menschen wollen den Status quo beibehalten.“ Die Kindstaufe, die Erstkommunion, die Fronleichnams-Prozession und ein schönes Begräbnis mit Pfarrer und Leichenschmaus gehören zur Volkskultur. „Die Bindung an die Kirche ist eher emotional als inhaltlich“, konstatiert Denz. Nicht immer richte sich die Glaubenslehre nach dem Katechismus. Denz: „Wir halten uns an das, was uns angenehm ist, die bösen Sachen lassen wir weg.“ So glauben laut „Europäischer Wertestudie 1999“ zwar über 40 Prozent an den Himmel, aber nur 18 Prozent an die Hölle (siehe Grafik).

Doch selbst die Volksfrömmigkeit droht brüchig zu werden. Zwar besuchen noch 95 Prozent der katholisch getauften Kinder den Religionsunterricht. Doch wenn sie die Schule verlassen, kehren sie immer häufiger auch der Kirche den Rücken. Signifikante Unterschiede in der Entwicklung waren in den vergangenen Jahrzehnten zwischen Stadt und Land zu konstatieren: Während sich etwa die Tiroler mit 83 Prozent noch nahezu geschlossen zum Katholizismus bekennen, ist nicht einmal mehr jeder zweite Wiener bekennender und zahlender Katholik.

„Wer in Wien die Kirche besucht, ist wirklich überzeugt“, erzählt der Hernalser Pfarrer Karl Engelmann. Doch dass sein Gotteshaus am Sonntag zumindest halb gefüllt ist, musste er sich schwer erarbeiten: „Wir sind in Einkaufszentren gestanden, haben Fragebögen verschickt und die Leute auf der Straße angeredet“, sagt er. Alles getreu seinem Credo: „Wir müssen Gott zu den Menschen bringen.“ Was erschwerend hinzukommt: Elf Prozent der Hernalser sind orthodox, weitere elf Prozent muslimisch. Der interreligiöse Dialog, oftmals eingefordert, ist in Bezirken mit hohem Zuwandereranteil gelebte Praxis.

In der Stadt entscheiden sich die Menschen freiwillig für die Religion. Am Land ist das nach wie vor eine „Frage des Schicksals“ (Zulehner). Innerliche Zweifel werden vom sozialen Druck überdeckt. „Wer nicht in die Kirche geht, ist am Land out“, erzählt der Schwechater Pfarrer Gerald Gump. Doch diese Geschlossenheit ist nicht mit Gläubigkeit gleichzusetzen: der Frühschoppen nach der Sonntagmorgenmesse, Männergesangsvereine, Kaffeekränzchen der Frauen, Weihnachtsmärkte, jugendliches Ministrieren und Jungschargruppen für die Kinder sind Bestandteile jener ruralen Kultur, in der Politik und Kirche ineinander fließen.

Bei diesen traditionellen Kirchgängern fährt die ÖVP noch immer Wahlergebnisse an die 70 Prozent ein.

Offiziell gibt es diese Vermischung nicht. Denn die kirchlichen Würdenträger halten sich aus der Tagespolitik tunlichst heraus. Schon aus historischen Gründen. Eingedenk der Rolle, welche die Kirche in der jüngeren Geschichte spielte, sei diese Zurückhaltung verständlich, meint der Historiker Karl Vocelka: „Immerhin hat die Kirche Österreichs Weg in den Austrofaschismus und in die Nazi-Diktatur gestützt. Das hat bis heute ihren politischen Aktionismus eingeschränkt.“

Anfang der siebziger Jahre verabschiedete sich die Kirche vom aggressiven Katholizismus. Kämpferisch wurde sie nur noch sporadisch, etwa wenn es um ethische Fragen ging: Als sich 1991 der fachlich unbestrittene ÖVP-Gesundheitssprecher Erwin Rasinger für die Abtreibungspille RU486 aussprach, setzte die Kirche die ÖVP so lange unter Druck, bis der damalige Parteichef Josef Riegler den Parteifreund absetzte. Damals wertete er seinen Rauswurf „als Erfolg erzkonservativer Kreise in der Kirche“. Seit 1994 ist Rasinger wieder Parlamentarier.

Den Druck kirchlicher Kreise spürte auch ÖVP-Wirtschaftsminister Johannes Fahrnleitner. Als er 1997 die Aufhebung der Sonntagsruhe im Lebensmittelhandel andachte, drohte der St. Pöltner Bischof Kurt Krenn unverhohlen mit einer Wahlempfehlung gegen die ÖVP: „Wir dürfen auch einmal sagen, wählt den oder den, weil der ist für die Option des freien Sonntags.“

Machtlos. Irgendwann musste die Kirche zur Kenntnis nehmen: Sie konnte zwar Wellen schlagen, aber ihre Macht reicht nicht immer aus, Gesetze zu beeinflussen. Schon 1975 war die Kampagne gegen die Fristenlösung erfolglos geblieben.

Diskreter, vielleicht aber effektiver sind die Kontakte katholischer Würdenträger zur politischen und wirtschaftlichen Elite des Landes. Einmal im Jahr wallfahrtet auf Einladung von Raiffeisen-Generalanwalt Christian Konrad eine hochkarätige Delegation von Spitzenpolitikern und Wirtschaftsgrößen nach Mariazell. Die katholische Kirche hält Beteiligungen an heimischen Medienunternehmen, an Banken und – indirekt – sogar an den Casinos Austria. Öffentlich-rechtliches Fernsehen und Radio übertragen Sonntagsmessen. Sogar die SPÖ glaubt, dass die Kirche zur Stimmenmaximierung taugt. Als die Zweidrittelmehrheit für die Schulgesetze in Diskussion war, eilte Alfred Gusenbauer ins Erzbischöfliche Palais, um den Kardinal seines Beistands zu versichern: Die SPÖ werde den im Konkordat verankerten Religionsunterricht nicht infrage stellen.

Aus der Sicht der Jugendforscher gleichen die engen Kontakte zwischen Kirche und Parteien der Umarmung von Dinosauriern. Denn seit Jahrzehnten nimmt die Bindung der Kids an traditionelle Institutionen ab. „Parteien und Kirchen haben ihren Sexappeal verloren“, befindet der Wiener Trendforscher Andreas Reiter. Die Internet-Generation pfeift auf Ideologien. Laut einer Studie aus dem Jahr 2002 basteln sich die Jugendlichen von heute ihr „individuelles Wertekonzept nach einem persönlichen Nutzenkalkül zusammen“. Die Folge dieser werteflexiblen Konstruktionsarbeiten: Der christliche Glaube verliert an Zuspruch. Nur 14 Prozent besuchen den Gottesdienst. 1984 war der Anteil noch doppelt so hoch. Gleichzeitig sagen, eher überraschend, zwei von drei Jugendlichen, „an etwas zu glauben“ sei „in“.

Anhand solcher Befunde wollen Religionsforscher einen Trend zur „Respiritualisierung“ erkennen, von dem die Kirche profitieren könne. Dementsprechend versucht sie die nächste Generation mit Disco-Kirchen, Jugendmessen und Weltjugendtag bei der Stange zu halten.

Das „katholische Herzland“, wie Bischof Kapellari Österreich nennt, bewegt sich nach Ansicht des Historikers Emil Brix von einem Untertanenstaat in Richtung moderner Zivilgesellschaft: „Sie besteht vor allem aus Nichtregierungsorganisationen. Von ihnen muss sich die Kirche Strategien abschauen, wenn sie in Zukunft bedeutsam bleiben will.“

Ob das den Exodus der Kirchenmitglieder stoppt? Das Rad des gesellschaftlichen Wandels ist nicht zurückzudrehen. Holl geht davon aus, dass die Zahl der Katholiken dramatisch schrumpfen wird: „Es gibt Studien, wonach der Anteil der Katholiken von derzeit über 70 Prozent auf unter 40 Prozent fallen könnte.“ Eine Perspektive, die dem Wiener Pfarrer Engelmann nicht abwegig erscheint: „Ich glaube, dass die Talsohle in der Stadt erreicht ist, aber am Land steht der Abwärtstrend noch bevor.“

Von Martina Lettner, Edith Meinhart und Ulla Schmid