Vom Kriegsende zum Staatsvertrag

Das Politische an der Geschichte

1945-1955: Das Politische an der Geschichte

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Der bisher verblüffendste Beitrag zum angeblichen Gedankenjahr 2005 kam – eh klar – von Jörg Haider. Ex Cathedra Carinthiae verkündete der einstige Lobredner für das NS-Jobwunder und dessen SS-Bewacher das Diktum: Politiker haben sich nicht in Diskussionen über Geschichte einzumischen. Und fügte aus eigener Erfahrung sinngemäß hinzu: Das tue ohnehin selten gut.

Zuvor hatte ein BZÖ-Kampl aus dem Gurktal zeitgeschichtliche Absonderungen der muffigen Art beigesteuert. Das war dem neuen Parteiführer in seinem Bemühen um Reputierlichkeit verständlicherweise nicht recht gewesen. Also: Politiker raus aus der Geschichte!

Einer Reihe von unsäglichen Äußerungen zum Thema jüngere Geschichte fügt Haider damit eine besonders alberne hinzu: Denn natürlich müssen sich Politiker mit Zeithistorie beschäftigen und über sie diskutieren, klarerweise sind Politik und Geschichte zwei Seiten derselben Medaille. Alle politischen Weltanschauungen der Neuzeit sind als Reflex auf historische Umwälzungen entstanden und ohne deren Kenntnis nicht zu verstehen. Das betrifft auch den Deutschnationalismus, dem Jörg Haider seit Bubentagen mit roten Ohren nachgelaufen war.

„Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alb auf den Gehirnen der Lebenden“, schrieb Karl Marx 1852 in seiner wichtigsten „zeithistorischen“ Arbeit „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“. Es ist dies übrigens jenes Buch, in dessen Vorwort er den Hegel-Sager von der zwangsläufigen Wiederholung der Geschichte ergänzte: „Er hat vergessen hinzuzufügen: Einmal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“
Dabei hat Marx das BZÖ gar nicht gekannt.

Größere Politiker als Jörg Haider bezogen ihre Faszination nicht zuletzt aus ihrer historischen Standfestigkeit. Winston Churchill wurde für seine grandiose Arbeit über die Geschichte des Zweiten Weltkriegs 1953 mit dem Literatur-nobelpreis ausgezeichnet. Journalisten, die Bruno Kreisky zwecks Interviews aufsuchten, kehrten oft mit gehaltvollen Analysen über die Koalitionsfrage 1930/31 oder die Geschichte des finnischen Winterkriegs heim.

Auch in der jüngeren Politikergeneration gibt es einige historisch bewusste Verantwortungsträger. Der ehemalige Bankdirektor Franz Vranitzky etwa wurde durch die Auseinandersetzungen in den Waldheim-Jahren und die Konfrontation mit dem frühen Haider zu einem zeitgeschichtlich hellwachen Politiker. Erhard Busek ist seit vielen Jahren eine international geachtete Koryphäe auf dem Gebiet ost- und südosteuropäischer Geschichte. Andreas Khol vertritt in seiner Analyse des Ständestaats oft irritierende Positionen – aber er kennt sich aus. Und auch Alfred Gusenbauer ist historisch überaus sattelfest.

Umso überraschender mutet die Temperamentlosigkeit an, mit der die Politiker bisher den Parcours durch das Jubiläumsjahr absolvierten. Allein der Bundespräsident setzte durch seine bemerkenswerte TV-Ansprache und die Einladung der Geburtstagskinder aus dem 45er-Jahr eigene Akzente.

Viel mehr war da nicht. Die einst so geschichtsbewusste SPÖ beließ es bei einer Gedenkveranstaltung am Tag der Wiederbegründung der Partei. Profundere Beiträge in schriftlicher Form gab es von den einst so publikationsfreudigen Sozialdemokraten kaum.

Die ÖVP tat – abgesehen von Huldigungen für die hingegangenen Gründerväter Figl & Raab – bisher nicht viel mehr. Die offiziellen Festakte wurden würdig, aber überroutiniert begangen. Der Bundeskanzler beschwor gebetsmühlenartig den Optimismus der Gründergeneration, was so viel heißen sollte wie: Hörts doch endlich auf, an meiner Regierung herumzumäkeln, es geht euch doch eh gold.

Das dritte Lager war zu sehr mit seiner Selbstauflösung beschäftigt, als dass es zu Äußerungen fähig gewesen wäre, die über jene der Herren Kampl und Gudenus hinausgingen. Vielleicht ist das ein Segen.

Die diesbezügliche Lustlosigkeit verwundert angesichts der Chancen, die just dieses Jubiläumsjahr bietet. Die Wissenschaft demonstrierte, was drinnen wäre: Die in den vergangenen Wochen erschienenen zeithistorischen Beiträge zählen ohne Zweifel zu den wichtigsten Arbeiten der Nachkriegszeit. Die gelungenen Ausstellungen auf der Schallaburg, in der Nationalbibliothek, im Technischen Museum und in den Archiven der Bundesländer lassen hoffen, dass die große Schau im Belvedere nach den etwas peinlichen Anlaufproblemen den Reigen würdig abrundet. Und Hugo Portisch hat auch wieder neue Bilder aufgetrieben.

Mag sein, dass all dies den Geist schuf, in dem geradezu Unerhörtes geschah: Die neue Alt-FPÖ setzte den Gaskammern-Zweifler John Gudenus binnen Stunden vor die Tür, Herr Kampl darf sich jetzt ganz seinem Bürgermeisteramt in Gurk hingeben, und Andreas Mölzer sagte seine Rede beim „Heldengedenken“ der rechtesten Burschenschaften kurzfristig ab.
Da sage noch jemand, solche Jubiläen hätten keinen Sinn.

Leitartikel: Herbert Lackner