Sahara-Geiseln: Protokoll der Tortur

Das Protokoll einer Entführungs-Tortur: 252 Tage Gefangenschaft in der Wüste

profil: Wie Freilassung in Nordafrika erkauft wurde

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Als am vergangenen Dienstagabend im Haus von Bernhard Ebner in Hallein das Telefon läutete, ahnte er noch nicht, dass damit die wohl schwersten Monate im Leben seiner Familie ein Ende finden würden. Ebner hob ab, am anderen Ende der Leitung meldete sich sein Vater aus einer mehr als 4000 Kilometer entfernten Gefangenschaft – Wolfgang Ebner, jener Salzburger, der gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Andrea Kloiber seit 22. Februar irgendwo in der Sahara als Geisel festgehalten wurde.

Es war nicht das erste Telefonat, das die beiden Männer seither mit Zustimmung der Kidnapper führen durften, aber diesmal handelte es sich um ein Signal. Als die Mitglieder des Krisenstabs im Wiener Außenministerium und in der malischen Hauptstadt Bamako, die zu diesem Zeitpunkt bereits acht Monate an der Freilassung der Entführten gearbeitet hatten, von der Kontaktaufnahme hörten, wussten sie: Diesmal waren sie ganz nahe dran, Ebner und Kloiber lebend aus der Gefangenschaft herauszubekommen.

Die österreichischen Behörden hatten das Telefonat von Tuareg-Anführern, die als Vermittler vorstellig geworden waren, verlangt. Ein direkter Anruf von Wolfgang Ebner sollte als Beweis dienen, dass sie tatsächlich in der Lage waren, Kontakt zu den Geiseln herzustellen. In der Vergangenheit waren potenzielle Unterhändler an diesem Kriterium gescheitert. Diesmal nicht. Offenbar bestand zwischen den Tuareg und den Entführern tatsächlich ein Vertrauensverhältnis. Plötzlich war das Ziel zum Greifen nahe.

Zwei Tage später wurden die Salzburger aus einer Hölle aus Hitze, Entbehrungen und vor allem Todesangst befreit, in die sie exakt 252 Tage zuvor hineingestoßen worden waren. Rückblende. Am Montag, 18. Februar, hat Wolfgang Ebner vorläufig zum letzten Mal als freier Mann mit seinem Sohn Bernhard telefoniert – aus der tunesischen Stadt Tataouine. Das Gespräch endet mit der Vereinbarung, Anfang der darauf folgenden Woche erneut Kontakt aufzunehmen.

Dazu kommt es nicht mehr: Am darauf folgenden Freitag, 22. Februar, geraten Kloiber und Ebner mit ihrem blauen Landrover Defender in einen Hinterhalt. Nach allem, was man bislang weiß, werden sie im Grenzgebiet zu Algerien verschleppt.

In der Gewalt der Al Kaida. Schlimmer hätten sie es kaum erwischen können. Die Kidnapper gehören zur „Al Kaida im Islamischen Maghreb“. Die Gruppe ist aus der für extreme Brutalität bekannten algerischen Salafisten-Gruppe für Predigt und Kampf (GSPC) hervorgegangen und durfte sich 2006 nach langen Bemühungen und Verhandlungen dem Terrornetzwerk Al Kaida unterwerfen. Der Führer der algerischen Al Kaida, Abdelmalek Droukdel, gelobte bei dieser Gelegenheit seinem neuen Führer Osama Bin Laden öffentlich „Gefolgschaft bis zum Märtyrertod“.

Direkt an der Entführung der Österreicher beteiligt ist Droukdel nicht, bei der ausführenden Gruppe dürfte es sich um die Männer des Kommandanten Hamadou Obeid alias Abdelhamid Abou Zaid handeln. Dessen Mutter Fatima Hamadou beschwört ihren Sohn bald nach der Entführung in einem in der algerischen Zeitung „Annahar“ veröffentlichten Aufruf, er möge die Geiseln freilassen. Doch die beiden Österreicher bleiben in der Gewalt der algerischen Al Kaida.

Eine bessere Nachricht als die von der Entführung ist für den 37-jährigen Droukdel zu diesem Zeitpunkt kaum denkbar. Er steht in Kreisen radikaler Islamisten stark unter Kritik: Bei einem der Anschläge der algerischen Al Kaida sind wenige Wochen zuvor dutzende unschuldige Moslems ums Leben gekommen. Zudem berichten algerische Zeitungen über eine veritable ­Finanzkrise bei den Islamisten: Gemäß einem UN-Embargo sind kurz zuvor sämtliche bekannte Konten Droukdels eingefroren worden.

Dass sich die maghrebinische Al Kaida in finanziellen Nöten ­befindet, ist für Kloiber und Ebner ironischerweise sogar eine positive Nachricht. Ihr Wohlergehen, das in den Händen der Entführer liegt, gewinnt dadurch an Wert. Frühere Erfahrungen mit Entführungen haben die nordafrikanischen Islamisten ­gelehrt, dass Geiseln bares Geld wert sind. Die Salzburger werden den Umständen entsprechend gut behandelt. Dennoch: Die Gefangenschaft ist für sie eine Tortur, sowohl physisch wie auch psychisch. Unmittelbar nach der Entführung machen sich die Al-Kaida-Leute mit ihren Opfern auf eine rund 1500 Kilometer lange, strapaziöse Reise. Die Fahrt führt durch die algerische Sahara Richtung Süden, durch das Hoggar-Gebirge, in weitem Bogen vorbei an der Stadt Tamanrasset und über die Grenze in den Norden von Mali – in ein Gebiet, das unzugänglicher, unwirtlicher und gefährlicher kaum sein könnte.

Tagsüber erreicht die Temperatur dort bis zu 60 Grad, nachts fällt sie während der kalten Jahreszeit auf bis zu minus zehn Grad. Kloiber und Ebner werden in den Monaten Februar bis Oktober beide Ex­treme erleben. Zumindest auf die Hitze sind sie zum Zeitpunkt der Verschleppung, zwei Wochen nach ihrer Ankunft in Nordafrika, bereits halbwegs eingestellt. „Das geht relativ rasch“, erklärt der Tropenmediziner Heinrich Stemberger, als Honorarkonsul von Mali in Österreich mit dem Land bestens vertraut. „Der Körper reagiert binnen weniger Tage auf die Um­stellung und beginnt etwa, weitaus ef­fizienter zu schwitzen als in gemäßigten Breiten.“

Strapazen. Weitaus mehr als das Klima macht Kloiber und Ebner aber die Ernährung zu schaffen. Sie besteht im Wesentlichen aus Brot und Wasser – Letzteres von fragwürdiger Qualität. Die wenigen Brunnen, an denen sich die Entführer und ihre Opfer in der Wüste versorgen können, sind stark frequentiert und dadurch auch entsprechend verschmutzt. Gleichzeitig haben sie aber hohen Flüssigkeitsbedarf und nehmen dadurch auch hohe Mengen an Keimen zu sich. Das fordert bereits nach wenigen Tagen seinen Tribut: Kloiber und Ebner entwickeln schwere Magen-Darm-Infektionen, die sie die ganze Zeit ihrer Gefangenschaft nicht mehr loswerden. Damit geht es ihnen genauso wie allen Wüstenbewohnern. „Auch die Einheimischen in Mali werden nie völlig gegen diese Keime immun und leiden ständig an Durchfallerkrankungen“, sagt Tropenmediziner Stemberger.

Obst und Gemüse bekommen Kloiber und Ebner nur in absoluten Ausnahmefällen. Das weiß man, weil Helfer der Kidnapper einige Male beim Einkauf auf lokalen Märkten bei der Suche nach Lebensmitteln auffielen, die für die Ernährung in der Wüste einen ungewöhnlichen Luxus darstellen.
Die Folge der unfreiwilligen Diät: Die beiden Salzburger verlieren stark an Gewicht. In einem Telefonat, das die Entführer zulassen, wird Wolfgang Ebner später über Kreislaufprobleme und Ohnmachtsanfälle klagen.
Vorerst beschränkt sich der Kontakt mit der Außenwelt aber über Wochen hinweg darauf, dass die Islamisten in Video- und Audiobotschaften die Tat ihrer „Schwadron heldenhafter Mudschaheddin“ preisen.

Die erste davon wird am 10. März, fast drei Wochen nach dem Verschwinden der beiden Touristen, dem TV-Sender Al Jazeera übergeben. Einen Tag später folgt eine weitere, in der sich erstmals ein Beleg dafür findet, dass sie sich in den Händen von Al Kaida befinden: Darin werden ihre Passdaten verlesen. Gleichzeitig warnen die Kidnapper vor gewaltsamen Befreiungsaktionen. Diese würden nur das Leben der Geiseln gefährden. An einen Zugriff, etwa durch die Armee von Mali, ist aber vorerst ohnehin nicht zu denken. Die Wüste im Norden des Landes scheint unermesslich groß und leer – aber nur in den Augen von Landesunkundigen. In Wirklichkeit ist sie voll von Aktivität: Schmuggelrouten, über die Drogen, Waffen und Menschen transportiert werden, durchziehen die Ödnis, komplexe Konflikte zwischen Stämmen und Volksgruppen werden hier ausgetragen, und überdies wird die Region von einem Krieg zwischen der malischen Regierung und Tuareg-Rebellen zerrissen. Dazwischen tummeln sich Banditen, Terroristen und Geheimdienstler aus aller Herren Länder: „Das ist ein herrschaftsfreier Raum, in dem komplizierte Kraftfelder aktiv sind“, sagt ein ­Mitarbeiter jenes Krisenstabes im Wiener ­Außenministerium. Grenzen bedeuten hier wenig. Beziehungen alles.

Unter Druck. All das bringt es aber mit sich, dass nicht nur die Geiseln, sondern auch die Entführer unter starkem Druck stehen. Sie können sich an kaum einem Ort sicher fühlen und bangen immer wieder selbst um ihre Sicherheit. „Sie müssen um ihr eigenes Über­leben fürchten“, erklärt ein Kenner der Lage damals unter Zusicherung der Anonymität gegenüber profil.

Mitte März beginnt das, was man in der Wüste unter konstruktiven Verhandlungen versteht: Die Entführer stellen völlig unerfüllbare Forderungen – etwa die Freilassung aller in algerischen und tunesischen Gefängnissen inhaftierten Islamisten – und ein erstes, extrem knapp bemessenes Ultimatum, das noch vor Ablauf verlängert wird – der Auftakt für ein Spiel auf Zeit. Der österreichische Sonderbotschafter Anton Prohaska, vom Außenministerium zur Verhandlungsführung in die malische Hauptstadt Bamako entsandt, kennt die Regeln.

Eine Woche warten heißt hier gar nichts. Zumal sich gleichzeitig die Sicherheitslage in der Region dramatisch verschlechtert. Just im März flammt ein vermeintlich beigelegter Konflikt zwischen den Tuareg und der malischen Armee wieder auf, es kommt zu Kämpfen und zur Entführung von 30 Soldaten durch die Rebellen. Andrea Kloiber und Wolfgang Ebner erleben ihre Gefangenschaft als ständige Flucht. Ständig sind die Entführer mit ihnen in Bewegung, wechseln von Versteck zu Versteck, müssen dabei mit immer neuen Clans und Stämmen um Unterschlupf, Schutz oder sicheres Geleit verhandeln. Die Gruppe lebt zumeist in Zelten. Einmal reißt ein Sandsturm die Planen weg, die beiden Salzburger müssen daraufhin tagelang unter freiem Himmel nächtigen.

Rettungsaktion. Es wird April, Mai, Juni. Forderungen werden erhoben und offenbar nicht erfüllt, Ultimaten gestellt und ohne die angedrohten tödlichen Konsequenzen überschritten, Versuche von BZÖ-Chef Jörg Haider und SPÖ-Bundeskanzler Alfred Gusenbauer, über Kontakte nach Libyen zu einer Lösung des Geiseldramas zu kommen, erweisen sich als fruchtlos. Währenddessen harrt in der malischen Hauptstadt Bamako Sonderbotschafter Prohaska aus und knüpft an einem komplexen Netz von Beziehungen: feine Fäden, die immer wieder zu reißen drohen und nur quälend langsam ein haltbares Gewebe ergeben.

Auch einen Monat warten heißt hier noch gar nichts. Prohaska weiß, dass er so lange in Bamako bleiben muss, bis die beiden Österreicher frei sind. „Ich dachte anfangs auch nicht, dass es so lange dauern würde“, gesteht er einmal in einem Gespräch mit ­profil. Draußen in der Wüste stoßen Kloiber und Ebner inzwischen immer wieder an die Grenzen ihrer körperlichen und psychischen Belastbarkeit. Durch die ständige Anstrengung und Anspannung droht das, was Mediziner unter „tropischer Enteropathie“ verstehen: Die ständigen Darminfektionen führen dazu, dass die Betroffenen immer weniger Nährstoffe aufnehmen können, ihr Körper holt sich das fehlende Eiweiß aus der Muskelmasse und schwächt sich so selbst. Es gehört viel dazu, unter diesen Umständen den Lebenswillen nicht zu verlieren.

Aber das gelingt ihnen. Anfang Juni erlauben die Kidnapper Wolfgang Ebner erstmals, mit seiner Familie in Salzburg zu telefonieren. Dabei erkundigt sich der Steuerberater bei seinem Sohn Bernhard detailliert nach einigen seiner Klienten und ihren Akten. Er hat den Glauben daran, aus seiner scheinbar hoffnungslosen Situation herauszukommen, nicht aufgegeben. Allerdings haben die beiden Geiseln fernab der Zivilisation das Gefühl, im Stich gelassen zu sein: „Niemand kümmert sich um uns“, klagt Ebner gegenüber seinem Sohn Bernhard. Was er nicht wissen kann: Wenige Tage zuvor ist Außenministerin Ursula Plassnik zu einer diskreten diplomatischen Reise nach Nordafrika aufgebrochen und trifft dort hochrangige Regierungsvertreter. Unter anderem führt sie dabei Gespräche mit Amadou Toumani Touré, dem Staatschef von Mali.

Was er ebenso wenig weiß: Nicht nur das Außenamt, auch das Innen- und das Verteidigungsministerium beteiligen sich an der Rettungsaktion. Nach Informationen von profil befanden sich die ganze Zeit über mehrere Mitarbeiter des österreichischen Geheimdienstes in Mali und arbeiteten dort mit französischen Agenten zusammen, denen die Region eng vertraut ist. Die Verhandlungen könnten komplexer kaum sein. Es stehen einander dabei nicht etwa nur zwei Seiten gegenüber. Mehrere Parteien, deren Interessen berücksichtigt werden müssen, sind involviert. Aufgrund der explosiven Sicherheitslage im Norden Malis müssen die Kontakte auch immer wieder unterbrochen werden.

Dennoch: Die österreichischen Behörden waren die ganze Zeit mehr oder weniger gut über den Zustand der Geiseln informiert. Dafür sorgte nicht zuletzt die Tatsache, dass Kloiber und Ebner immer wieder mit ihren Angehörigen telefonieren durften – sondern auch zahlreiche vom französischen Geheimdienst abgehörte Gespräche zwischen den Entführern, den Tuareg und anderen Beteiligten, die auch der österreichischen Regierung zugänglich gemacht wurden.

Frei. Am vergangenen Donnerstagabend schließlich ließ Malis Präsident Amadou Toumani Touré höchstpersönlich Sonderbotschafter Prohaska zu sich rufen. Und diesmal ging es in dem Gespräch nicht wie so oft zuvor darum, wie die weitere Strategie zur Geiselbefreiung aussehen könnte. Touré überbrachte Prohaska vielmehr eine Nachricht, auf die nicht nur der Di­plomat seit Monaten gewartet hatte: „Die beiden Österreicher sind frei.“ Wenige Stunden zuvor waren Ebner und Kloiber von einer Abordnung der Tuareg nahe der Stadt Bourem in der östlichen Provinz Gao den Emissären des Präsidenten übergeben worden.

Auch als am Ende der gordische Knoten durchschlagen ist, gibt es wohl niemanden, der alle Details des Deals kennt: weder die malische Regierung noch der öster­reichische Krisenstab oder die Tuareg-Vermittler, auch nicht die Entführer. Die brisante Frage, ob Lösegeld geflossen ist, ist damit schwer zu beantworten – und leicht zu verschleiern (siehe Kasten).
Für Andrea Kloiber und Wolfgang Ebner sind diese Fragen freilich nebensächlich. Als sie am Weg von Bourem in die Hauptstadt Bamako erstmals wieder als freie Menschen telefonieren konnten, sagten sie zu Botschafter Prohaska, sie würden sich schon darauf freuen, ihn endlich persönlich kennen zu lernen.

Wenige Stunden später fanden in Bamako alle zusammen. Ministerin Plassnik landete in einer Maschine aus Wien, Botschafter Prohaska ließ ein gesichertes Quartier in einem Gästehaus der malischen Regierung vorbereiten, und Kloiber und Ebner sahen aus dem Fenster des Geländefahrzeugs die Nacht hereinbrechen. Am nächsten Tag, Samstag vergangener Woche, sollten sie offiziell von Präsident Touré in die Obhut von Ministerin Plassnik übergeben werden. Und dann, endlich, heimfliegen.

Von Martin Staudinger und Robert Treichler
Mitarbeit: Otmar Lahodynsky, Michaela Pachler