„Die Grenze Europas liegt in der Sahara“

David Kilcullen: „Die Grenze Europas liegt in der Sahara”

Interview. Antiterror-Stratege Kilcullen über Bedrohungen der Zukunft

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Das Szenario ist düster, aber alles andere als unrealistisch. Die Welt im Jahr 2050: Der Großteil der Menschheit lebt in Megastädten, die unkontrolliert an den Küsten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas wuchern – übervölkerten Agglomeratione, deren Infrastruktur und Versorgung ebenso wenig mit ihrem Wachstum Schritt halten können wie die Verwaltung. Die anarchischen Verhältnisse, die dort herrschen, führen unweigerlich zu Armut, sozialen Konflikten und Kriminalität. Und ihre Folgen können aufgrund der globalen Vernetzung überall auf dem Planeten spürbar werden.

Diese Vision stammt von David Kilcullen. Der Australier fungierte unter Präsident George W. Bush als Chefstratege des US-Außenministeriums für Terrorismusbekämpfung, beriet General David Petraeus im Irak und die NATO in Afghanistan. Trotzdem sieht er die Vorgangsweise des Westens an beiden Kriegsschauplätzen mit kritischer Distanz. Den Einsatz von Kampfdrohnen etwa, der in der Amtszeit von Barack Obama zur wichtigsten Taktik gegen die Al Kaida wurde, hält er letztlich für kontraproduktiv.

In seinem ersten Buch „The Accidental Guerrilla“ räumte er mit einigen Klischeevorstellungen über die Taliban auf. Die meisten Aufständischen in Afghanistan seien keineswegs religiöse Fundamentalisten, die Krieg gegen den Westen führen, sagt Kilcullen: „Wenn wir nicht dort wären, würden sie gar nicht auf die Idee kommen, gegen uns zu kämpfen.“

Sein aktuelles Buch „Out of the Mountains“ führt aus der Abgelegenheit der Berge heraus, in der die Brutstätten des Terrorismus bislang verortet wurden – und hinein in die Megastädte der Zukunft. Geändert hat sich aber nicht nur die Umgebung der Auseinandersetzung, sondern auf überraschende Weise auch die Herangehensweise, die Kilcullen vorschlägt.
Derzeit leitet Kilcullen das Strategieberatungsunternehmen Caerus Associates in Washington.

profil: Es gibt – abgesehen vom Klimawandel – derzeit nichts, was so viel Angst macht wie islamistischer Terror. Nach Lektüre Ihres Buches hat man allerdings den Eindruck, dass wir uns lieber über ganz andere Bedrohungen Sorgen machen sollten.
Kilcullen: Ich will den religiösen Radikalismus nicht kleinreden. Aber ich versuche, die Sichtweise von der ausschließlichen Fokussierung auf den Islamismus etwas zu erweitern. Terrorismus wird es auch in Zukunft geben, aber er ist nur ein Aspekt von vielen – und Islamismus wiederum ein Teilaspekt davon.

profil: Das heißt?
Kilcullen: Nehmen wir die jüngsten Ereignisse in Nairobi: Das liegt zwar nicht am Meer, ist aber ein gutes Beispiel. Bei einem Anschlag von somalischen Islamisten der al-Shabaab-Milizen auf ein Einkaufszentrum wurden vor Kurzem an die 60 Menschen getötet – eine Tat, von der die ganze Welt schockiert war. Wenn wir aber Nairobi als Stadt betrachten, verschiebt sich die Perspektive. Es gibt dort 46 bewaffnete kriminelle Banden. Eine davon, die Mungiki, kontrolliert den Slum Matari. Sie allein bringt in einem ganz normalen Monat so viele Menschen um, wie beim Attentat im Einkaufszentrum ums Leben gekommen sind. Das heißt: Die al-Shabaab mag aus Sicht der Terrorbekämpfung das wichtigste Problem sein – für einen Bewohner von Nairobi ist sie nur eines von vielen.

profil: Welche Städte werden Ihrer Einschätzung nach die größten Probleme verursachen?
Kilcullen: Von den bestehenden: Kairo in Ägypten, Lagos in Nigeria, Dhaka in Bangladesh – sicherlich auch Karachi in Pakistan und die großen indischen Metropolen. Aber paradoxerweise sind die meisten Hotspots jetzt noch nicht einmal Städte. Manche Prognosen gehen davon aus, dass die gesamte Westküste Indiens eine einzige gewaltige Agglomeration sein wird, die größtenteils aus Slums besteht. Die Bevölkerung an den Küsten Südostasiens dürfte in den nächsten 30 Jahren um 1,2 Milliarden wachsen, in Afrika rechnet man mit 800 Millionen neuen Stadtbewohnern.

profil: Warum konzentriert sich alles an den Küsten?
Kilcullen: Das ist keine Entwicklung der Gegenwart. Schon immer waren schwere Frachten über den Seeweg am einfachsten zu transportieren, rund um die Warenumschlagplätze am Meer oder in den großen Flussdeltas begannen Städte zu wachsen. Heute geschieht das allerdings mit einer Geschwindigkeit, die es unmöglich macht, den Zuzug zu absorbieren. Und das führt zu Symptomen der urbanen Überlastung. Neu hinzugekommen ist auch die globale Vernetzung. Nicht alle Konflikte werden an der Küste stattfinden, nicht alle in Städten. Aber angesichts der Tatsache, dass ein großer Teil der Menschheit in Küstenstädten leben wird und die meisten Konflikte dort ausgetragen werden, wo die Leute leben, müssen wir uns auf diese Umgebung einstellen.

profil: Was bedeutet das für den Mittelmeerraum und damit für Europa?
Kilcullen: Der britische Geograf Halford Mackinda hat schon vor Jahrzehnten herausgearbeitet, dass die südliche Grenze Europas nicht das Mittelmeer ist, sondern die Sahara. Es gibt also ein mediterranes Becken und die Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens, die genauso Teil dieses Systems sind wie Südeuropa. Zwischen diesen Regionen herrscht eine Systemdynamik, das heißt: Probleme werden wechselseitig reflektiert, das ist unausweichlich.

profil: Sie meinen: Soziale Unruhen in Nordafrika führen zu Auswanderung …
Kilcullen: … und die bringt als Zuwanderung in Europa wiederum soziale Unruhen mit sich. Man hat das beispielsweise in Frankreich erlebt. Die Herausforderung besteht darin, diese Probleme in einer legitimen politischen Auseinandersetzung zu kanalisieren, statt mit Straßenkämpfen abzuhandeln. Die Urbanisierung der Küsten Nordafrikas belegt anschaulich: Einige der Städte mit dem größten Bevölkerungszuwachs waren auch jene, in denen der Arabische Frühling mit den schwersten Auseinandersetzungen einherging.

profil: Sie sprechen von den libyschen Großstädten Benghazi und Tripolis.
Kilcullen: Zum Beispiel. Aber andere Länder wie Marokko, Algerien, teilweise auch die Türkei, haben ähnliche Probleme. Izmir zum Beispiel, das frühere Smyrna, hatte 1920 noch 200.000 Einwohner, heute sind es mehrere Millionen – und die Stadt wächst immer weiter.

profil: In Europa gab es nach der Flüchtlingstragödie von Lampedusa eine kurze Debatte darüber, wie so etwas zu verhindern wäre. Sie endete damit, die Grenzkontrollen zu verschärfen. Reicht das, um die Probleme in den Griff zu bekommen?
Kilcullen: Nein, man müsste tiefer gehen. Erstens kann man versuchen, die Infrastruktur der afrikanischen Städte zu verbessern, damit sie den Zuzug besser bewältigen. Und man kann etwas tun, damit weniger Menschen in den ländlichen Regionen die Notwendigkeit sehen, in die Städte zu ziehen: ihnen WIFI geben.

profil: Wie bitte – drahtlosen Internetzugang?
Kilcullen: Tatsächlich ist ein wichtiger Grund für Landflucht, dass es keine anderen Möglichkeiten gibt, Zugang zur vernetzten Wirtschaft zu bekommen. Dafür muss man sich in elektronische Systeme einklinken können, etwa um Geldüberweisungen durchzuführen, Bestellungen aufzugeben oder aufzunehmen.

profil: Das wird der Armutsmigration aber auch kein Ende bereiten.
Kilcullen: Nein. Aber der Westen sollte auch aufhören, Immigranten nur als Bedrohung zu betrachten. Sie können auch ein Fenster zu den Gesellschaften in ihren Heimatländern sein und es somit ermöglichen, die dortigen Entwicklungen zu beeinflussen.

profil: Bislang geschieht das nicht sehr erfolgreich vor allem durch Entwicklungshilfe.
Kilcullen: Es muss ja nicht immer staatliche Entwicklungs- und Finanzhilfe sein: Man kann durchaus das ganze Budget von Österreich oder Deutschland dafür ausgeben und trotzdem nichts erreichen. Wenn man es den Immigranten aber erleichtern würde, das Geld, das sie hier verdienen, in ihrer Heimat zu reinvestieren, hätte das durchaus Einfluss. Jedes westliche Land sollte sich überlegen, welche Diaspora-Bevölkerungen, die es beherbergt, die wichtigsten sind – und was es mit ihnen machen kann.

profil: Wenn man Ihnen zuhört, kommt man eigentlich zum Schluss, dass in den vergangenen Jahren Milliarden und Abermilliarden für Militäroperationen zur Terrorbekämpfung falsch eingesetzt wurden.
Kilcullen: In meinem ersten Buch, „The Accidental Guerilla“, führe ich aus, dass 98 oder 99 Prozent der Menschen, die dort Krieg führen, nicht in erster Linie Feinde des Westens sind. Zum kleinen Rest gehört die Al Kaida. All die anderen kämpfen letztlich nur gegen uns, weil wir in ihren Ländern sind, um dort Leute zu jagen, die tatsächlich Feinde des Westens sind. Das heißt: Wenn wir nicht dort wären, würden sie gar nicht auf die Idee kommen, gegen uns zu kämpfen. Das Gleiche gilt für den Irak. So betrachtet ist es also tatsächlich wenig sinnvoll, in einem Land einzumarschieren, um einige wenige Terroristen zu bekämpfen. Das Paradoxe ist: Die Politik schickt gern die Armee in solche Länder, die muss dann damit klarkommen. Dabei sollte sich die Politik nicht überlegen, wie sie das Militär dort hinschickt, sondern wie sie verhindern kann, dass das notwendig wird.

profil: Aber das ist dem Westen in der Praxis bislang noch nicht eingefallen.
Kilcullen: Doch, nehmen wir Indonesien: Dort hat die internationale Gemeinschaft nicht damit begonnen, Truppen zu schicken oder Menschen mit Drohnen zu töten. Sie hat vielmehr sehr eng mit der Justiz, der Polizei und zum Teil auch mit dem Militär zusammengearbeitet, um die einheimischen Sicherheitskräfte in die Lage zu versetzen, die Probleme selbst in den Griff zu bekommen. Was wir dort sehen, ist ein radikaler Rückgang der Unterstützung für Al Kaida.

profil: Aber gerade Drohnenangriffe werden von der Obama-Administration dafür verantwortlich gemacht, dass Al Kaida als extrem geschwächt gilt.
Kilcullen: Drohnen sind ein extrem nützliches Instrument und taktisch höchst effektiv – wenn es darum geht, auf einem Schlachtfeld die bösen Jungs umzubringen. Aber sie nützen nicht viel, wenn man keine Strategie hat. Und eine solche sehe ich bei der Obama-Administration nicht. Nur Menschen zu töten, macht die Sache nicht besser, sondern letztlich schlimmer, weil man damit die ganze Gesellschaft attackiert. Ich kann auch nicht erkennen, dass Al Kaida geschwächt worden wäre. Ich sehe vielmehr, wie sich ihre Ideologie in anderen Ländern ausbreitet: Syrien, Mali – ganz besonders im Jemen, wo das Drohnenprogramm zur politischen Radikalisierung beigetragen hat. In diesem Sinne dürfte Al Kaida sogar hoffen, dass wir noch mehr Leute mit Drohnen angreifen.

profil: Kommendes Jahr will die NATO den Großteil ihrer Truppen aus Afghanistan abziehen. Siege sehen anders aus. Was ist dort schiefgelaufen?
Kilcullen: Die militärische Situation in Afghanistan ist besser, als sie im Westen wahrgenommen wird. Die afghanische Armee hat ihren Job in der diesjährigen „fighting season“ weitgehend eigenständig und durchaus erfolgreich erfüllt. Sie hat zwar nicht jede Schlacht gewonnen, aber sie hat gekämpft und es geschafft, die Taliban hintanzuhalten. Die Polizei war nicht ganz so gut, aber auch besser als ihr Ruf.

profil: Dennoch ist das Land weiterhin weit von Stabilität entfernt.
Kilcullen: Das Problem ist die politische Situation. Wenn wir es nicht in den nächsten ein, zwei Wochen schaffen, mit Präsident Hamid Karzai ein bilaterales Sicherheitsabkommen auszuhandeln, wird das von der Stammesversammlung Loja Jirga im November entschieden – möglicherweise abschlägig. Und dann kann es sehr schnell passieren, dass tatsächlich alle NATO-Soldaten das Land verlassen müssen.

profil: Also auch diejenigen, die für die Ausbildung und das Training der afghanischen Sicherheitskräfte vorgesehen sind. Kommen dann die Taliban zurück?
Kilcullen: Es ist nicht davon auszugehen, dass die Taliban militärisch wieder die Macht übernehmen werden – auch Al Kaida oder andere Terrorgruppen werden nicht mehr Fuß fassen, wie sie es vor 9/11 konnten. Aber es ist denkbar, dass bei den Wahlen im April Taliban-Kandidaten antreten, die sich zwar nicht so nennen, es de facto aber sind. Wir haben den Fehler gemacht, die Taliban vom politischen Prozess auszuschließen – seither kämpfen sie gegen uns, weil sie keine andere Möglichkeit haben, mit uns zu kommunizieren. Jetzt muss man mit ihnen eine Machtverteilung aushandeln, so wie es in Nordirland mit der IRA geschehen ist oder mit den Bumsern in Südtirol. Anders ist ein dauerhafter Frieden unmöglich.