Defensivtaktik für Verlierer

Defensivtaktik für Verlierer

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Vor fünfundzwanzig Jahren habe ich mir (zusammen mit meinem verstorbenen Kollegen Franz G. Hanke) den Ruf eines Narren eingehandelt, weil ich in dutzenden profil-Kommentaren für eine Arbeitszeitverkürzung auf 35 Wochenstunden eingetreten bin.

Jetzt diskutieren wir über das Siemens-CDU-Modell einer Arbeitszeitverlängerung auf 40 Wochenstunden.

Meine Meinung dazu ist unverändert: Ich glaube, dass eine Verkürzung der Wochen-(nicht der Lebens-)Arbeitszeit selbst heute sinnvoll wäre, und halte eine Verlängerung für absurd. Ich bin also mittlerweile ein Narr zum Quadrat.
Aber noch nicht senil: Selbstverständlich muss in einer Volkswirtschaft immer so viel Arbeitszeit aufgewendet werden, wie gebraucht wird. Wenn derzeit tatsächlich mehr menschliche Arbeitskraft gebraucht werden sollte – ich kann es mir zwar schwer vorstellen –, dann müsste man den auf Arbeit verwendeten Zeitraum tatsächlich vergrößern.

Aber doch nicht, indem man die Beschäftigten länger arbeiten lässt, sondern indem mehr Leute in den Arbeitsprozess eingegliedert werden.

Es ging auch denen, die für Arbeitszeitverkürzung eingetreten sind, nie um eine Verringerung des jeweils benötigten Arbeitsvolumens, sondern ausschließlich um dessen sinnvollste Verteilung. Hohe Arbeitslosigkeit, wie wir sie in Europa nach wie vor haben, ist die unsinnigste Verteilung: Besonders viele haben die Arbeitzeit auf null verkürzt.

Lange Arbeitszeiten für immer weniger Beschäftigte scheint mir nicht viel klüger.

Ich weiß schon: Jetzt kommt das Argument der höheren Kosten einer größeren Zahl von Arbeitsplätzen, vermehrt um das Argument des Mangels an Fachkräften. Aber das Letztere ist durch bessere Ausbildung zu beheben. Und den höheren Kosten vermehrter Arbeitsplätze muss man die Kosten erhöhter Arbeitslosigkeit gegenüberstellen: Denn auch die Arbeitslosenentgelte werden ja keineswegs vom Staat, sondern letztlich von der Wirtschaft bezahlt.

Gemeinsam machen Arbeitslosenentgelte und Löhne einen gewissen Prozentsatz dessen aus, was die Wirtschaft an Werten schafft und von dem niemand weiß, wie groß er im Idealfall sein soll: Ist er übertrieben groß, so geht er zulasten notwendiger Investitionen, ist er übertrieben klein, so geht er zulasten des notwendigen Konsums. Irgendwie pendelt er sich in allen großen Volkswirtschaften auf einem Niveau ein, mit dem die Betriebe jedenfalls leben können, weil sie ausreichend konkurrenzfähig sind.

Auch für die Aufteilung der so zustande gekommenen Lohnvolumina gibt es kein Idealrezept: In den USA sind die Löhne trotz längerer Arbeitszeiten niedriger, was viele Beschäftigte zulässt, aber den technologischen Fortschritt verlangsamt. In Europa sind die Löhne trotz kürzerer Arbeitszeit höher – das hat die Rationalisierung durch technologischen Fortschritt vorangetrieben und mehr Arbeitslose geschaffen, aber selbst die verdienen noch so viel wie „Beschäftigte“ in den USA.

Beides geht. Es ist eine Frage des gesellschaftlichen Konsenses, was man vorzieht.
Aus vielen komplexen Motiven – darunter auch Mode – genießt das US-Modell derzeit nicht nur unter Unternehmern, sondern auch unter Wissenschaftern und Politikern das höhere Ansehen, und manches daran ist auch tatsächlich überlegenswert.

Das Argument, das am häufigsten gebraucht wird, hat indessen die kürzesten Beine: dass Europas Unternehmen durch die relativ hohen Kosten für ihre Arbeitnehmer (und Arbeitslosen) bereits überfordert sind. Denn dank überlegener Produktivität sind europäische Produkte am Weltmarkt (und insbesondere in den USA) unvermindert konkurrenzfähig. Das deutsche Problem besteht schon gar nicht darin, dass deutsche Produkte wegen zu hoher Lohnkosten zu teuer wären, sondern darin, dass deutsche Konsumenten Kaufzurückhaltung üben. Das aber hängt vor allem mit der Angst zusammen, keine Arbeit zu bekommen bzw. sie demnächst zu verlieren.

Arbeitszeitverlängerung mag auf kurze Sicht gefährdete Siemens-Arbeitsplätze sichern – auf lange Sicht bedeutet es die Verteilung der Arbeit auf weniger Personen und damit höhere Arbeitslosigkeit. Das löst das deutsche Problem nicht, sondern verschärft es.

Natürlich muss der einzelne Betrieb alles daran setzen, Arbeitskosten zu verringern. Wenn er die Chance hat, das durch Verlagerung der Produktion ins Ausland zu tun, muss er sie wahrnehmen. Die kürzlich abgeführte „Patriotismusdebatte“ ist nicht nur wirtschaftsfremd, sondern auch ohne moralische Berechtigung: Warum soll ein Tscheche oder Ungar einen Job nicht bekommen, wenn er billiger arbeitet?
Wettbewerb ist die einzig halbwegs gerechte Regelung des Arbeitsmarktes.

Diesem Wettbewerb kann man nicht ausweichen, man kann sich ihm nur stellen. Wenn deutsche Löhne tatsächlich am Limit sein sollten, muss man Lohnzurückhaltung üben. Aber der Siemens-Versuch, die Konkurrenzfähigkeit seiner deutschen Standorte dadurch zu erhalten, dass man die Arbeitszeit verlängert, erinnert mich an jene Fußballteams, die bei den Europameisterschaften ein 1:0 durch Verteidigung halten wollten – sie haben allesamt gegen offensivere Gegner verloren.

Die österreichische oder deutsche Reaktion kann doch nur eine offensive sein: besser sein – durch die besseren Schulen, besseren Universitäten, größere Innovation.

Wenn Siemens wirklich auf Arbeitszeitverlängerung angewiesen ist (und nicht bloß geblufft hat), würde ich keine Siemens-Aktien mehr kaufen.