Der Abstand zur Apokalypse

Der Abstand zur Apokalypse

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In der „irakischen Apokalypse“, die ich vor vierzehn Tagen an dieser Stelle als pure Fantasie an die Wand gemalt habe, „weiten sich die in den vorangegangenen Wochen beobachteten Terroraktionen fundamentalistischer Gruppen im gesamten Mittleren Osten zu Aufständen … aus, wobei als Erstes das saudische Königshaus die rechtzeitige Flucht in die Schweiz der Lynchjustiz vorzieht. Natürlich besetzen die amerikanischen Truppen … die saudischen Ölfelder sofort bis zum letzten Bohrturm, aber … die Ölausfuhr aus diesem wichtigsten Ölland der Erde ist täglichen Raketenangriffen und Sabotageakten ausgesetzt. Damit steigt der Ölpreis ins Astronomische.“ Die Folge sei, skizzierte ich, eine „Weltwirtschaftskrise“ bislang ungeahnten Ausmaßes.

Die Realität ist vorerst noch ein gutes Stück von diesem Szenario entfernt – aber der Abstand schmilzt: Saudi-Arabien wurde nicht von „Aufständen“, sondern „nur“ von Terroraktionen heimgesucht; das Königshaus floh nicht, sondern intensivierte nur die polizeiliche Überwachung; die US-Armee braucht die Ölfelder nicht zu besetzen, weil das de facto längst der Fall ist: Es gibt einen massiven Sicherheitskordon rund um die Förderanlagen. Dementsprechend ist auch der Ölpreis nicht ins Astronomische gestiegen, sondern hat mit 42 Dollar „nur“ den höchsten Stand seit zwanzig Jahren erreicht.

Das stellt „noch“ keinerlei Gefährdung der Weltwirtschaft dar, sondern könnte lediglich den aktuellen Aufschwung bremsen.

Aber an der Reaktion der Börsen kann man die Nervosität ablesen. „Vorerst“, so meinte etwa der Kommentator von CNN, „waren die Anschläge nur gegen weiche Ziele gerichtet …, aber es gibt die Sorge, dass die Terroristen ihre Strategie ändern und Ölförderanlagen und Ölleitungen angreifen könnten. Dann könnte der Ölpreis auf 60 Dollar und mehr hochschnellen.“

Die Sorge ist berechtigt. Es wäre ein Wunder, wenn kein Führer des saudischen Untergrundes auf die Idee käme, anstelle von Ölarbeitern das nächste Mal Ölförderanlagen anzugreifen. Es bedarf dazu ja nur etwas größerer Rationalität im Irrationalen: zu begreifen, dass ein erfolgreicher Angriff auf die Ölversorgung aus Saudi-Arabien den „Westen“ nachhaltiger erschütterte, als ihn der Angriff auf das World Trade Center erschüttert hat.

Die Toten, die aus einer Weltwirtschaftskrise resultierten, ließen sich zwar schwerer zählen als die Toten unter den Trümmern der eingestürzten Türme – aber es wären ungleich mehr.

Alles, was zu einem erfolgreichen Angriff auf die Ölförderanlagen fehlt, sind genügend viele, ausreichend zielgenaue Raketen mit geeigneten Sprengköpfen. Es ist zumindest nicht abwegig, zu befürchten, dass die fundamentalistischen Kämpfer solche Raketen auftreiben und dass sie imstande sein könnten, damit das aktuelle Patriot-Abwehrsystem der Amerikaner zu überwinden.

Ich habe es in der Vergangenheit immer für absurd gehalten, einen Laser-Schild zu entwickeln, der New York vor den Raketenangriffen von „Schurkenstaaten“ schützen soll, aber es könnte überlebensnotwendig sein, die Ölförderanlagen Saudi-Arabiens durch solche Systeme vor den Attacken fundamentalistischer Guerilleros zu schützen.

Vor dreißig Jahren haben die Warnungen des Club of Rome uns eine Chance gegeben, ernsthaft über unseren Umgang mit den Energiereserven der Erde nachzudenken. Leider wurde diese Chance verspielt. Denn so richtig die Warnungen im Großen waren (und nach wie vor sind), so falsch waren sie im Kleinen: Für die im Bericht angesprochenen fünfzig bis hundert Jahre war und ist Öl im Überfluss vorhanden.
Aber das ist ein Wimpernschlag in der Weltgeschichte.

Wären wir – ich meine damit die Mitglieder jener „westlichen“ Gesellschaft, die die Fundamentalisten bekämpfen – wirklich so viel rationaler als sie, so hätten wir damals begriffen, dass wir im Umgang mit den Ölreserven der Erde tatsächlich die größte nur mögliche Sorgfalt aufwenden müssen. Zu dieser Sorgfalt aber hätten nicht nur Energiesteuern, Wärmedämmung oder die Subvention der Solarenergie gehört, sondern mindestens so sehr die Förderung stabiler politischer Verhälnisse in den Regionen, in denen die größten Ölreserven liegen.

Leider haben die USA dabei den gleichen Fehler gemacht wie in Lateinamerika: Sie haben auf autoritäre Regime gesetzt, die sich dem „Westen“ angebiedert haben. Wie beliebt sie bei der eigenen Bevölkerung waren, war Nebensache.

Der „westliche“ Druck in Richtung zu Reformen und einer gleichmäßigeren Verteilung des Wohlstands – wie sie etwa in Oman aus eigener Kraft gelangen – war dürftig.
Es zählt zur Ironie der Geschichte, dass der von den USA gestürzte Saddam Hussein den Interessen der eigenen Bevölkerung die meiste Zeit hindurch eher gerecht geworden ist als das von den USA gestützte saudische Königshaus, das sich Jahrzehnte hindurch vor allem durch abenteuerliche Korruption ausgezeichnet hat. Und dass ausgerechnet der gegenwärtige König, der endlich liberaler agiert und die Korruption einzudämmen sucht, der größten Gefährdung ausgesetzt ist.
Reformen, die zu spät einsetzen, machen leider selten sicherer, sondern erhöhen eher die Risiken einer erfolgreichen Revolution – siehe das Persien des letzten Schah.

So besitzt die Golfregion die Stabilität eines Pulverfasses. Dass wir dennoch so ruhig sind, liegt daran, dass sich auch auf Pulverfässern recht gut sitzen lässt, solange sie nicht explodieren.