Der Betonwellenreiter

Der Betonwellenreiter: Zum Tod von Oscar Niemeyer

Architektur. Zum Tod des Visionärs Oscar Niemeyer

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Von Alexander Bartl

Eisenspangen umklammerten die halb fertige Brücke, die sich über eine mehrspurige Schnellstraße schwang und so das neue Sportzentrum mit Rocinha verband, der größten Favela von Rio de Janeiro. Die Betonpassage entwarf der brasilianische Architekt Oscar Niemeyer kostenlos für seine Heimatstadt. Mit dem Spätwerk wollte er den Ärmsten der Armen den Zugang zu Turnhallen und Basketballkörben erleichtern. Anderswo mochten eingerüstete Bauten so aussehen, als würden sie ohne das Metallkorsett auseinanderfallen. Niemeyers Konstruktion hingegen schien schon in der Bauphase alle Fesseln und Krücken loswerden zu wollen, damit sie aus der Doppelkurve der Zugangsrampe hinausbeschleunigen konnte wie ein futuristischer Beton-Bolide.

Jüngste Schöpfung
Oben am Himmel glühte die Sonne, unten auf der Straße toste der Verkehr – und dazwischen war ein Bauwerk im Werden, das es scheinbar gar nicht mehr erwarten konnte, dem Armenviertel Grazie und Esprit zu verleihen, wie sie sonst dem Lebensstil an der Copacabana vorbehalten blieben, der ­repräsentativen Postkartenseite der Stadt. Das war vor gut zwei Jahren, als uns ein Streifzug durch die brasilianische Metropole weg von den Stränden führte, rein in die Favela, um die allerjüngste Schöpfung des mit 102 Jahren damals schon steinalten Niemeyer zu besichtigen. Im Vorjahr wurde die Brücke endlich aus dem Gerüst geschält. Am Mittwoch vergangener Woche starb deren Schöpfer im Alter von 104 Jahren, ein Mann, der zeitlebens viel zu genial war, um sich von irgendeinem Normenkorsett einengen zu lassen.

Der Architekt, dessen Schaffen in der Moderne wurzelte, über deren Ideale er sich aber schon bald energisch hinwegsetzte, wurde am 15. Dezember 1907 als Sohn deutschstämmiger Eltern in Rio geboren. Er lernte bei Le Corbusier, machte sich vertraut mit dem, was auf der anderen Seite des Atlantiks unter dem Form-folgt-Funktion-Banner in die Städte gepflanzt wurde. Und er befand, dass das nicht genug war, um den Menschen Würde, Hoffnung und Schönheit zu geben. Der bekennende Kommunist teilte mit den Architekten der Alten Welt zwar die Leidenschaft für neue Lebensentwürfe. Das hieß aber noch lange nicht, dass er deren in seinem Vorwärtsdrang zuweilen etwas seelenlos geratenes Design nach Südamerika importieren wollte. Denn inmitten der üppig wuchernden Flora hätte es vermutlich gefremdelt wie ein Tourist mit Tropenhelm. Deshalb schwebte ihm Architektur vor, die für ihre Zeit zwar revolutionär war, sich dennoch einfügte in die Samba-Folklore. Während in Europa dem Baustoff Beton gehuldigt wurde, weil er so vielseitig war und am fertigen Objekt so unprätentiös aussah, legte Niemeyer dessen Schönheit offen; indem er ihn streckte und bog, indem er Häusern respektable Kurven und schlanke Taillen verlieh. So gewannen Gäste aus Europa den Eindruck, der Architekturmoderne mit ihren rechten Winkeln wären unter der Sonne Brasiliens nicht nur die Ecken weggeschmolzen, sondern auch alle überzogene Disziplin abhandengekommen.

Beton-Poet
Einmal besuchte Walter Gropius den Brasilianer in seiner Villa in Canoas: Der Bauhaus-Maestro betrat ein Gebäude, dessen Dachkante im wilden Slalom oberhalb der gebogenen Glaswände verlief. Er gestand, das Domizil schon schön zu finden, allerdings missfiel ihm, dass sich so ein Haus schwerlich industriell fertigen ließ. Als hätte es Niemeyer jemals darauf angelegt, so praktisch und quadratisch zu bauen, dass man seine Kreationen dutzendweise in die Landschaft würfeln konnte.

Nein, der brasilianische Beton-Poet hatte anderes im Sinn. Wie Architektur aussehen sollte, die seinen Idealen entsprach, das durfte er in den Fünfzigern im allergrößten Maßstab vorführen: Da war Brasilien gerade dabei, sich neu zu erfinden, zumindest architektonisch. Eine neue Hauptstadt musste her, mitten im unbesiedelten Hinterland, wo keinerlei Altbauten dem Zukunftsdrang im Weg standen. Dass die künstliche Metropole namens Brasília mit Höchstgeschwindigkeit in eine neue Design-Ära vorstoßen sollte, verriet allein die vom Stadtplaner Lúcio Costa erdachte Form der Stadt. In den Umrissen eines ins Vielfache vergrößerten Flugzeugs sollte sie entstehen. Niemeyer war für die Gebäude zuständig. Er schuf eine Kathedrale, deren Rippenkonstruktion sich elegant zum Himmel öffnete, er baute den Nationalkongress, zwei Scheibenhochhäuser, neben denen er schalenförmige Bauten drapierte. Dennoch ist Brasília nach heutigem Verständnis kein sonderlich geglücktes Beispiel für eine Metropole – nicht wegen Niemeyers Kreationen natürlich, sondern weil Costa, dem Faible der Moderne für offene Strukturen folgend, zu große Lücken zwischen den Häusern ließ. Über die vielspurige Hauptstraße kann man natürlich von einem Haus zum nächsten fahren, aber in einer Zeit, in der Städte alles daransetzen, den Verkehr zu zügeln, steht ein solcher als Autostadt konzipierter Skulpturenpark auf verlorenem Posten. Doch auch Niemeyer lebte und arbeitete lieber in Rio.

Kurvenswing
Bis ins höchste Alter ging er regelmäßig in sein Büro an der Copacabana, untergebracht in einem schönen Art-déco-Bau. Mehr als 600 Projekte, die er in aller Welt umsetzte, kamen im Lauf des Jahrhunderts zusammen. Im italienischen Ravello entstand 2010 das Oscar-Niemeyer-Auditorium, dessen Glasfassade wie ein Auge die Bucht überblickt. Im spanischen Avilés wurde 2011 das Oscar-Niemeyer-Kulturzentrum eröffnet, eingeweiht mit einem Woody-Allen-Konzert. Die Musik des Hobby-Saxofonisten und Niemeyers gebauter Kurven-Swing harmonierten vorzüglich. Leider geriet die Institution schon kurz darauf auch wirtschaftlich ins Schlingern.
Doch wer von Rios Strandpromenade aus hinaufblickte zu dem Hochhaus, in dem Niemeyer seine Projekte ersann, der war zuversichtlich, dass der Mann einfach immer weitermachen würde, schon allein wegen des inspirierenden Panoramablicks auf das Meer. Vor der Scheibe fand der Architekt alles, was er benötigte: Wellen bis zum Horizont, mal so sanft, wie er sie in der gekurvten Parteizentrale der französischen Kommunisten in Paris verewigte, mal so hoch und steil, wie sie der brasilianische Präsidentenpalast zur Schau trägt. Doch einer wie Niemeyer konnte Kurven auch zu Silhouetten fügen, die wie von einem anderen Stern wirkten: Sein 1996 vollendetes Kunstmuseum in der Stadt Niterói erinnert an ein UFO, das freundlicherweise auf einer Klippe gelandet ist. Das umlaufende Fensterband ist nicht nur deshalb wichtig, weil man so die ausgestellte Kunst bei Tageslicht besser zu würdigen weiß; obendrein kann sich der Besucher auch jederzeit mit einem Blick nach draußen versichern, dass er immer noch in Brasilien ist – und nicht schon unterwegs zu einem anderen Stern.

Beobachtete man in Rio lange genug die Fenster von Niemeyers Büro, dann meinte man, ihn sogar zu erkennen, wie er dort stand und schaute und vermutlich schon an die nächste Welle dachte, nicht an eine aus Wasser, sondern an eine aus Beton. Doch wer immer sich dort oben gezeigt hatte, Niemeyer konnte es nicht gewesen sein. Ihm gehe es schlecht, erfuhren wir abends im Hotel, er sei im Spital – wieder einmal. Die Aufenthalte in der Klinik häuften sich, aber kaum hatte er sich erholt, zeichnete er wieder Entwürfe für eine schönere Welt. Die Freiheit, die er sich bei seiner Arbeit nahm, forderte er auch im Alltag ein, nicht nur für sich, sondern für alle. Zwei Jahre nachdem sich in Brasilien 1964 das Militär an die Macht geputscht hatte, ging er ins Exil nach Paris, kehrte schließlich zurück und widmete sich dem nächsten Auftrag. Inzwischen arbeitete er mit jedem weiteren Projekt längst auch am eigenen Mythos. Angesichts der Größe des Universums sei der Mensch viel zu unbedeutend, um sich wichtig zu nehmen, sagte er einmal. Trends kamen und gingen, Moden in der Architektur eroberten die Städte und verschwanden oft schneller, als sie aufgetaucht waren. Niemeyer blieb – und plante, bis es ihm Alter und Gesundheit endgültig verwehrten. Zuletzt lag der Gigant, der keiner sein wollte, im künstlichen Koma. Am 15. Dezember, diese Woche noch, wäre Oscar Niemeyer 105 Jahre alt geworden.