Titten, Tiere, Tote und Kampagnen

Der Boulevard-Riese „Bild” wird 60

Medien. Der Boulevard-Riese „Bild” wird 60

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Chruschtschow will: ganz Berlin. Ganz Deutschland. Ganz Europa. / Pariser Modebombe: Das Haus Dior befiehlt: Knie bleibt frei! / Mitten im Fasching mahnt die Kirche mit dem 6. Gebot: Du sollst nicht ehebrechen! / Prinzessin Beatrix verkleidet in einer Hafenspelunke. / 49. Geburtstag: BB ging zum Sterben ins Wasser! / Niki Laudas Kampf mit dem Tod: „Mein Gott, wo ist sein Gesicht“ – Er friert entsetzlich – Todesahnung vor dem Rennen. / Der Mond ist jetzt ein Ami! / Baader-Meinhof isst Kaviar in der Zelle. / Deutscher Geheimplan: Kauft den Russen die Zone ab! / Hellseher erschoss sich, weil sein Tod nicht pünktlich kam. / Sex auf Video: Steeger (Anm.: Ingrid) schlief mit ganzer Kapelle. / 6:2, 6:3 Steffi Jaaa! Martina weinte. / Aids! Jetzt greift die neue Pest jeden an. / Hündin zog Kind groß: Der kleine Horst-Werner (jetzt vier Jahre) schnüffelt wie ein Hund, winselt wie ein Hund und isst rohe Hähnchen vom Fußboden. / Vom Dackel der Schwiegermutter entmannt! / Frei! Sie küssten die Erde – die größte Flucht seit dem Mauerbau. / Effe, du Liebesschuft! Jetzt weinen fünf Kinder. / Boris und das Baby: War es Samenraub? / Vogelgrippe: 1. Katze tot! / Hund erschießt deutschen Millionär. / Wahnsinnstat im Urlaub: Ganze Familie und Katze tot im Kofferraum. / Ostern: Riesiges Chaos, viele Tote, etwas Sonne. / Einer aß kein Menschenfleisch – er verhungerte. / Rettet Kuh Yvonne! – Sie versteckt sich seit elf Wochen im Wald. Sie hält sich für ein Reh. BILD will verhindern, dass sie erschossen oder überfahren wird. / Nehmt den Griechen den Euro weg! / Stephanie zu Guttenberg Wir finden die GUTT! Nörgler, Neider, Niederschreiber: Einfach mal die Klappe halten! / Bundesliga-Hammer: 1. Tor mit Penis geschossen! Nationalliga-Spieler Gomez: „Es tat sehr weh!“

Schlagzeilen aus dem Bauch Deutschlands, die den Weltenlauf der vergangenen 60 Jahre in knackiger Verkürzung widerspiegeln. „Bild“ ist ein Ort, an dem Emotionen, Ideologie, Patriotismus und Kampagnen jene Symbiose eingehen, die man Boulevard nennt. Bei „Bild“ herrscht die hohe Schule für niedrige Instinkte, hier wird die Volksseele sechs Tage die Woche zum Kochen gebracht. Am Sonntag gibt es, quasi als Methadonprogramm, die etwas weniger rabiate „BamS“ („Bild am Sonntag“). In „Bild“ werden Politiker mächtiggestreichelt, aber auch gnadenlos zum Abschuss freigegeben. Der ideale „Bild“-Promi definiert sich durch ein schillerndes Set an Funktionsstörungen und die Bereitschaft, diese medienträchtig ausbeuten zu lassen. „Die haben mich erst zur Schnecke gemacht, dann zum Titan“, erklärte Thomas Gottschalk in einer Werbekampagne des Blatts: „Wer in Deutschland was werden will, muss da durch.“

Dafür verzeiht „Bild“ auch, leidet mit, gibt Ezzes, päppelt wieder hoch und steht lautstark Spalier bei Comeback-Versuchen. Ohne „Bild“ läuft Berühmtsein in Deutschland nicht. Trotz Internet und ­Privat-TV bilden noch immer zwölf Millionen Leser täglich eine voyeuristische Glaubensgemeinschaft, für die der Reality-Comic „Bild“ Grundnahrungsmittel und Fetisch zugleich ist. „Bild“ ist „ein frivoles Kunstwerk“, so der Ex-„Spiegel“-Chefredakteur Stefan Aust, das mit einer nahezu dadaistischen, von Verkürzungen, Superlativen und durchgeknallten Wortkreationen strotzenden Sprache vor allem Gefühle erzeugen will. Am 24. Juni feiert das Springer-Blatt sein 60-jähriges Bestehen; der Kölner Taschen Verlag würdigt dieses Jubiläum mit einem opulenten Bildband, in dem „Bild“-Kolumnist Franz Josef Wagner, in der Branche auch gerne „Gossen-Goethe“ genannt, folgende Geburtstagsgrüße an seine Zeitung schickt: „,Bild‘ ist Beat. Knallig wie eine Oper … laut wie Picasso … In einer Zeitung wie ‚Bild‘ ist der Notarzt gefragt … man darf nicht lange fackeln … „Bild“ ist die Fortsetzung von Dantes ,Göttlicher Komödie‘. ‚Bild‘ seufzt. ‚Bild‘ weint wie Jazz … Ich schreibe gern für ‚Bild‘. Weil ich schreien darf, mich aufregen darf …“

Wie alles begann. Warum „Bild“ noch immer der Linken liebster Klassenfeind ist. Blattmacher Kai Diekmann erzählt im Interview, warum Deutschland „Bild“-süchtig ist; Ex-„Spiegel“-Chef Stefan Aust schreibt über das Kampagnen-System „Bild“.

Pleite-Cäsar! Wie Springer kam, sah und erstmal verlor

Es sollte „Deutschlands modernste Zeitung“ werden, „eine unernste, besser gesagt, unkonventionelle Zeitung“, eine Antwort auf das neue Medium Fernsehen, was der Hamburger Verleger Axel Cäsar Springer („Hörzu“, „Hamburger Abendblatt“) am 24. Juni 1952 an den Kiosk brachte und was in seiner ersten Ausgabe (vier Seiten, Auflage: 455.000 Stück) tatsächlich ganz schön modern aussah: auf dem Titelblatt sechs großformatige Bilder, ganz oben Churchill („Ist er zu alt?“), darunter Ausschreitungen in Südafrika, rechts ein schmusender Eiskunstlauf-Olympiasieger, links als Fotomontage „Das Idealbild der heutigen Frau“, darunter jeweils ein paar Zeilen Text. Das Programm als Zeitungsname: „Bild“. Die Kosten überschaubar: zehn Pfennig. Der Erfolg zunächst allerdings auch. Schon im zweiten Jahr musste Springer die Ausrichtung ändern, „Bild“ wurde text- beziehungsweise schlagzeilenlastiger, meinungsstärker und wesentlich erfolgreicher: 1955 erreicht die Auflage bereits 1,8 Millionen Stück. Schon ein Jahr zuvor hatte das Blatt unter Chefredakteur Rudolf Michael den Reiz (und die Zugkraft) der politischen Kampagne entdeckt: In einer Serie von Beiträgen protestierte „Bild“ Anfang 1954 gegen die damals offenbar noch weitverbreitete und gesetzlich nicht ausdrücklich untersagte Praxis des Hunde-Essens: „Schrecklich! Wie kann man seinen Kameraden, der einen beschützt, aufessen?“ Die „Hunde-Debatte“ erreichte den Bundestag, „Bild“ erkämpfte eine Gesetzesänderung und erkannte im „Tierversuch“ (Stefan Aust) erstmals seine politische Macht. Kein Wunder: Eine gewisse Nähe zum besten Freund des Menschen war dem Blatt in die Wiege gelegt. Seit der zweiten Ausgabe warb „Redaktionsdackel Rübezahl“ als Maskottchen für die Zeitung – neben der Comic-Blondine „Bild-Lilli“, die übrigens bald auch als Plastikpuppe erhältlich war und als solche zum Vorbild der Barbiepuppe avancierte. Modern? Na ja. Unernst und unkonventionell? Auf jeden Fall.

Steine, Bomben, Niedertracht! Wann ist endlich Schluss?

Im Leben gibt es bekanntlich nichts geschenkt, außer natürlich, es dient der Werbung. Am 23. Juni will die Axel Springer AG unter dem Motto „Bild für alle“ jedem deutschen Haushalt ein Gratisexemplar ihres publizistischen Flaggschiffs zukommen lassen – 41 Millionen Stück, insgesamt 4400 Tonnen Papier. Nicht alle Adressaten freuen sich über die Zwangsbeglückung: Bis dato haben sich knapp 230.000 Deutsche per Online-Einspruch („Alle gegen Bild“) gegen die Zustellung verwahrt, sie wollen Springers Krawallpostille nicht einmal geschenkt. Merke: „Bild“ regt auf. Noch immer.

Dabei ist die Zeitung längst nicht mehr das gesellschaftspolitische Kampfblatt, das es einmal war, ganz besonders in den späten 1960er-Jahren, als der Wirtschaftswunderkonsens zu bröckeln begann und die linke Kritik am „Meinungsmonopol“ der Springer-Presse wuchs. Die Antipathie war eine wechselseitige: „Bild“ berichtete lustvoll von „langhaarigen Affen“ und „akademischen Gammlern“ und spürte die schweigende Masse hinter sich. Nach dem 11. April 1968 eskalierte die Auseinandersetzung: An diesem Tag wurde Rudi Dutschke in Berlin von dem Anstreicher Josef Bachmann angeschossen, die Studentenbewegung sah die Springer-Presse als ideologischen Anstifter, es kam zu schweren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei, „Bild“-Lkws gingen in Flammen auf, Verlagsgebäude in Berlin, München und Hamburg wurden attackiert. Seinen tragischen Höhepunkt erreichte der Konflikt am 9. Mai 1972, als im Hamburger Axel-Springer-Haus mehrere Bomben detonierten. Bei dem Anschlag, zu dem sich das RAF-Kommando 2. Juni bekannte, wurden 17 Personen verletzt. Dass das Haus trotz mehrerer Bombendrohungen nicht geräumt worden war, verleitete die Terroristen zu einer scheinheilig empörten Reaktion: „Springer ging lieber das Risiko ein, dass seine Arbeiter und Angestellten durch Bomben verletzt werden, als das Risiko, ein paar Stunden Arbeitszeit, also Profit, durch Fehlalarm zu verlieren.“
Die innerdeutschen Konflikte haben sich seither bekanntlich verharmlost, und auch „Bild“ hat sich entradikalisiert. Ein gewisses Restkonfliktpotenzial blieb dennoch erhalten, Privatsphäre ist für „Bild“ nach wie vor ein Fremd-, journalistische Sorgfalt ein Lehnwort. Der mehrfach preisgekrönte, von den Medienjournalisten Stefan Niggemeier und Christoph Schultheis begründete bildblog.de, mit gut 50.000 täglichen Lesern inzwischen der meistbesuchte Weblog Deutschlands, dokumentiert seit 2004 die kleinen Frechheiten und großen Schweinereien, Irrtümer und Verfälschungen des Springer-Blatts, zu denen insbesondere und immer wieder auch aufsehenerregende Untergriffe gegen Prominente und Politiker wie Charlotte Roche, Sibel Kekilli, Jürgen Trittin oder Ottfried Fischer zählen. Springer-Vorstand Mathias Döpfner formulierte die Arbeitsgrundlage der Zeitung einmal so: „Wer mit der ,Bild‘ im Aufzug nach oben fährt, fährt mit ihr auch wieder runter.“ Für alle, die auf solche Lift-Berühmtheit gut verzichten können, erklärte der Autor Max Goldt schon im Jahr 2001: „Diese Zeitung ist ein Organ der Niedertracht. Es ist falsch, sie zu lesen. Jemand, der zu dieser Zeitung beiträgt, ist gesellschaftlich absolut inakzeptabel. Es wäre verfehlt, zu einem ihrer Redakteure freundlich oder auch nur höflich zu sein. Man muss so unfreundlich zu ihnen sein, wie es das Gesetz gerade noch zulässt. Es sind schlechte Menschen, die Falsches tun.“ Und allen „ironischen“, es eh besser wissenden, auf Trash und Grusel abzielenden „Bild“-Lesern schrieb die Sängerin Judith Holofernes Folgendes ins Stammbuch beziehungsweise in den „Bildblog“: „Die ‚Bild‘ ist und bleibt kein Lifestyleaccessoire, sondern, für alle Zeiten, das perfideste Werkzeug des Blöden.“

Eingeschlichen! Wallraff-Wahnsinn in Hannover

„Bild“ mag milder geworden sein, Günter Wallraff findet trotzdem bis heute kein gutes Wort für die Zeitung – dafür umso mehr schlechte: „Vernichtungsmaschinerie“, „Journalismus als Menschenjagd“, „Junkfood fürs Hirn“. Immerhin: „Die lügen nicht mehr so dreist wie früher.“ Dass das so ist, schreibt sich Wallraff gern selbst zu, seinem jahrzehntelangen Kampf gegen die Unter- und Übergriffe des Blatts. Es begann am 7. März 1977, als sich der Undercover-Journalist als Hans Esser in der Hannoveraner „Bild“-Redaktion bewarb und als Reporter eingestellt wurde. Schon nach dem ersten Tag in der Redaktion war klar: „Ich glaube, es ist die schwierigste Rolle, die ich überhaupt jemals gemacht habe. Eine Schwerstarbeit, Drecksarbeit in einer Fabrik am Fließband ist dagegen also fast eine Erholung.“ In „Der Aufmacher“, dem Dokument seiner viermonatigen „Bild“-Recherche, berichtete Wallraff vom täglichen Druck der Redaktion, Geschichten „Bild“-tauglich zu machen, sei es mit verdrehten Tatsachen, verfälschten Zitaten oder schlichter Erfindung. Was nicht passte, wurde passend gemacht. Eine Taekwondo-Sportlerin wurde da im Handumdrehen (und ganz unabhängig von ihren eigenen Aussagen) zur Kampfmaschine: „Jung, blond und gefährlich. Angela Hoffmann kann mit einem Tritt ihrer kleinen Füße (Schuhgröße 36) jeden Räuber oder Rocker auf der Stelle töten.“ Wallraffs 1977 veröffentlichter Insiderbericht wurde zum Bestseller und Skandalbuch, es folgte eine Prozesslawine gegen den Aufdecker, „Bild“-Redakteure stellten Wallraff nach und kampagnisierten gegen ihn, hörten sein Telefon ab und schnüffelten in seinem Privatleben nach belastenden Details. Erst im Herbst 2011 gab der heutige Springer-Vorstandsvorsitzende Mathias Döpfner in einer WDR-Dokumentation zu, dass „damals Dinge in unserem Haus gelaufen sind, die sich mit unseren Vorstellungen, mit unseren Werten und im Rahmen unseres Handelns nicht vertragen“, und kündigte eine minutiöse Aufklärung an. Wallraff blieb skeptisch (und verglich „Bild“ mit einem „therapieverweigernden Triebtäter, von dem man weiß: Der kann nicht anders, der ist gemeingefährlich“), aber immerhin: „Es gibt Anzeichen dafür, dass das nicht nur Lippenbekenntnisse sind.“ Es gibt allerdings auch Anzeichen für das Gegenteil: Ende April begann „Bild“ – im Verbund mit anderen Springer-Medien – seine jüngste Kampagne gegen Wallraff: „Schrieb die Stasi an Wallraffs erfolgreichstem Buch mit?“

Lesen Sie außerdem im profil 25/2012: „Bild“-Macher Kai Diekmann über die Affären Wulff, Guttenberg und das großartige Gefühl, umstritten zu sein.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.