Wirtschaftskrise: Der Club der Egoisten

'Der Club der Egoisten': Protektionismus könnte Europa zum Kollaps führen

Protektionismus könnte zum Kollaps führen

Drucken

Schriftgröße

Von Eva Linsinger und Andrea Rexer

Für die Wochenenden haben die Kanzler Europas neuerdings einen Fixtermin: den Gipfel. Vor zwei Wochen trafen sich acht EU-Regierungschefs in Berlin zur Vorbereitung des Weltwirtschaftsgipfels, diesen Sonntag beging man in Brüssel einen EU-Sondergipfel, um sich drei Wochen später zum EU-Frühjahrsgipfel wiederzusehen. Den NATO-Gipfel und den Weltfinanzgipfel lassen manche aus, beim EU-Jobgipfel im Mai und dem regulären EU-Gipfel im Juni sind aber wieder alle versammelt.

Die Gipfelitis greift um sich, so viele Treffen in so schneller Abfolge wie in der ersten Jahreshälfte 2009 waren noch nie angesetzt. Dieser neue EU-Aktionismus ist auch ein Kampf gegen die drohende eigene Bedeutungslosigkeit. Denn die viel beschworene Kooperation endet nach den Abendessen, an einer gemeinsamen Strategie gegen die Krise scheitert Europa hochkant. Die EU-Kommission muss hilflos ­zusehen, wie in der ersten großen Be­währungsprobe der Wirtschaftskrise die Nationalstaaten den gemeinsamen Markt über Bord werfen. Egoismus statt Europa ist das neue Motto: Die nationalen Rettungspläne für Banken werden kaum koordiniert, jede Regierung macht ihre eigene Konjunktur- und Industriepolitik. Als Folge der Subventionswettläufe sieht der britische Historiker Harold James „Handelskriege“ heraufdräuen.

Erste Anzeichen dafür sind sichtbar: In Großbritannien demonstrierten Raffineriearbeiter für „britische Jobs für britische Arbeiter“, mit Erfolg. Der spanische Indus­trieminister Miguel Sebastián appelliert an seine Landsleute, spanische Produkte zu kaufen. Und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy will französische Autobauer nur in Frankreich fördern, nicht aber in ihren Fabriken in Tschechien. Die EU-Kommission rügte Sarkozy zwar – ob das den hyperaktiven Franzosen von protektionistischen Ideen abhält, darf bezweifelt werden.

Die Folgen einer derartigen Entwicklung könnten genauso drastisch ausfallen wie in der Weltwirtschaftskrise 1929: Im verzweifelten Versuch, ihre eigene Haut zu retten, ließen die Nationalstaaten Handelsbarrieren emporschießen, die längst überwunden geglaubt waren. „1914 war der Grad der Globalisierung höher als heute“, sagt Kurt Bayer, österreichischer Wirtschaftsforscher und früherer Mitarbeiter der Weltbank. In der Folge brach zwischen 1928 und 1932 der Welthandel um 60 Prozent ein.

Abwärtsspirale. Der aufkeimende Protektionismus könnte bald wieder seine Spuren hinterlassen: Die Weltbank geht davon aus, dass der Welthandel 2009 erstmals seit 1982 wieder schrumpfen wird. Kommen nun protektionistische Maßnahmen hinzu, würde der Rückgang weit drastischer ausfallen. „Wenn eine Spirale wie 1929 losgetreten wird, dann können wir in Europa zusperren“, sagt Fritz Breuss, Leiter des Europainstituts an der Wirtschaftsuni Wien.

Warum schadet Protektionismus der Wirtschaft so nachhaltig? „Eine solche Entwicklung würde all die Dinge, von denen wir laufend profitieren, zerschlagen“, sagt Markus Beyrer, Generalsekretär der Industriellenvereinigung. Österreich profitierte vom Beitritt zur EU und von der Öffnung der Märkte im Osten so stark wie kaum ein anderes europäisches Land. Selbst durch Auslagerung von Unternehmensteilen seien in Österreich je nach Branche zwei oder drei höherwertige Arbeitsplätze entstanden, rechnet Beyrer vor. Gerade eine kleine Volkswirtschaft wie Österreich würde unter Handelskriegen besonders leiden: Während die USA Handelspartner aufgrund ihres bloßen Marktgewichts in die Knie zwingen könnten, würde auf Österreich wohl kaum jemand hören. Außerdem ist der Binnenmarkt zu klein, um die wegfallenden Exporte auffangen zu können. Heute hängt hierzulande jeder zweite Arbeitsplatz direkt oder indirekt am Export. Mit steigender Tendenz.

Von der anderen Seite des politischen Spektrums, aus der Arbeiterkammer, kommen idente Töne. „Protektionismus führt nicht zum Schutz, sondern zum Verlust von Arbeitsplätzen“, sagt deren Europareferent, Ex-Kanzler Alfred Gusenbauer. Er fordert die EU-Kommission dringend auf, den versuchten Dammbrüchen von Einzelstaaten Riegel vorzuschieben: „Bei kleinen Verletzungen des Binnenmarkts ist die Kommission sofort zur Stelle. Wenn sie es jetzt nicht schafft, energisch einzuschreiten, dann ist der Binnenmarkt erledigt.“

In der Theorie können sich die meisten EU-Staaten einig werden, dass der gemeinsame Markt ein schützenswertes Gut ist. In der Praxis aber bleibt von den Bekenntnissen zur Gemeinsamkeit wenig übrig: Erst am Montag der vergangenen Woche düpierten die 27 EU-Staaten die EU-Kommission und ließen sie mit dem Vorschlag für ein fünf Milliarden Euro schweres Konjunkturpaket abblitzen. Gas- und Stromleitungen, Windenergieparks und Kohlekraftwerke hätten damit gebaut werden sollen – vor allem in östlichen Staaten. Die Liste sei „geografisch unausgewogen“, kritisierte Österreich, auch Spanien, Portugal und Griechenland forderten ungeniert mehr Projekte in ihren Ländern. Große Nettozahler wie Deutschland oder die Niederlande sahen nicht ein, warum sie konjunkturbelebende Bauten in anderen Staaten mitfinanzieren sollten.

Für Daniel Gros, den Leiter des Zen­trums für Europäische Studien in Brüssel, ist der Weg in den Protektionismus seit Herbst vorgezeichnet: „Wenn man damals die Banken über eine europäische Institution gerettet hätte, wäre der Zug jetzt auf einer anderen Schiene. Der Protektionismus ist nur die logische Folge dieser nationalen Bankenpakete.“ Für gemeinsames Vorgehen sei „der Leidensdruck noch nicht groß genug“, konstatiert Gros.

Außerdem sind die EU-Institutionen quasi erpressbar: EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso möchte im Sommer von den 27 Staatschefs wiederbestellt werden und es sich vorher mit keinem von ihnen verscherzen, auch die Kommissare werden im Sommer von ihren Regierungen wiederaufgestellt – oder nicht.

Patt. Obwohl Länder protektionistische Maßnahmen verhängen, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen, schaden sie sich damit unter dem Strich immer selbst. Bestenfalls kurzfristig lässt sich ein Vorteil erreichen. Ein gängiges Beispiel beschreibt das anhand von Besuchern im Theater: Sobald einer aufsteht, um besser zu sehen, verstellt er anderen die Sicht. Wenn diese sich auch von ihren Plätzen erheben, steht am Ende der ganze Saal. Das Ergebnis ist ernüchternd: Alle sehen gleich gut wie vorher – müssen aber die gesamte Vorstellung im Stehen ansehen. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Welthandel: Erlässt ein Land Zölle, ziehen die anderen rasch mit Gegenmaßnahmen nach. Am Ende erreichen sie ein Patt – bei weniger Handel. „Protektionistische Maßnahmen helfen nur, wenn niemand anderer sie ergreift. Das trifft aber nie zu“, warnt der Doyen der österreichischen Ökonomie, Erich Streissler.

Häufig entsteht der Nachteil sogar schon durch die Maßnahme an sich. Wenn die USA etwa Importzölle auf ausländischen Stahl erheben, erreichen sie damit eine Besserstellung der eigenen Stahlindustrie, weil der Preis für Stahl im Inland steigt. Doch gleichzeitig müssen alle Stahlabnehmer in den USA höhere Kosten in Kauf nehmen. In der Folge schrumpfen deren Gewinne, sie verlieren an Wettbewerbsfähigkeit und müssen vielleicht sogar mehr Arbeitsplätze abbauen, als in der Stahlindustrie erhalten wurden. Unter Umständen könnten die staatlichen Zolleinnahmen diesen Effekt ausgleichen, doch in der Praxis findet diese Umverteilung nur selten statt. Dass protektionistische Maßnahmen der eigenen Volkswirtschaft schaden, ist weder eine neue Erkenntnis noch schwer nachzuvollziehen. Warum tappen Politiker dennoch immer wieder in die Protektionismus-Falle?

„Politiker machen sehenden Auges das Falsche, weil protektionistisches Verhalten für sie rational ist“, sagt Hanjo Allinger, Professor für Internationale Wirtschaft an der Cologne Business School. Das Kalkül dahinter: Während etwa beim Zoll die kleine Gruppe der Profiteure im Inland einen deutlichen positiven Effekt spürt und deshalb Druck macht, splittet sich der negative Effekt der höheren Preise auf eine große Anzahl auf, deren Verlust jeweils so gering ist, dass Lobby-Aktivitäten unterbleiben. Außerdem sind protektionistische Maßnahmen gut sichtbar und helfen möglicherweise kurzfristig – nämlich genau so lange, bis die anderen auch aufgestanden sind. „Dass die Maßnahmen in späteren Legislaturperioden dem Land schaden, spielt für die Politik keine große Rolle“, so Allinger.

Gegen derart kurzfristiges Denken hat der schwerfällige Apparat der EU wenig Chancen. Die EU kann zwar eine lang­fristige Protektionismus-Spirale verhindern, glaubt Wirtschaftsprofessor Breuss: „Ohne die EU hätten wir schon jetzt Handelskriege in Europa.“ Manche der Maßnahmen greifen aber zu spät, um Subventionswettläufe zu untersagen: Die EU-Kommission ist im Ernstfall aufgrund der Verträge dazu gezwungen, einen Staat wegen Verletzung der Binnenmarktregeln zu klagen – aber ein solches Verfahren kann Jahre dauern.

Populisten in der Opposition wie FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache müssen sich um die Umsetzbarkeit der eigenen Forderungen ohnehin nicht kümmern: „Natürlich muss österreichisches Steuergeld in heimische Arbeitsplätze fließen, egal was die Zentralisten in der EU sagen.“ Auch Gewerkschaftspräsident Erich Foglar will, bevor er gegen Protektionismus wettert, die Grenze genau ziehen: „Ich finde es noch nicht protektionistisch, wenn nationale Konjunkturpakete sich vor allem an Beschäftigte im eigenen Land richten.“

In der Krise ist sich eben jeder selbst der Nächste. Das gilt nicht nur für die weite Welt der 27 EU-Staaten, sondern auch für die kleine Welt der neun österreichischen Bundesländer. Von Warschau bis Lissabon beschließen alle eigene Konjunkturpakete – und von Wien bis Bregenz auch. Jede Landesregierung verordnet in der Krise hektisch Wohn- oder Straßenbauprogramme und koordiniert sich nicht mit den Nachbarn, wie Ober­österreichs Landesrat Hermann Kepplinger kritisiert: „Jedes Bundesland macht, was es will.“ Nicht einmal eine Konferenz zur Abstimmung der Bundesländer-Konjunkturprogramme gab es bisher.
Da ist ja sogar die EU einen kleinen Schritt weiter.