Biermann: "Da kann ich nur böse lächeln"

'Der Drachentöter': DDR-Dissident und Liedermacher Wolf Biermann im Interview

Über 20 Jahre deutsche Wiedervereinigung

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Interview: Gunther Müller

profil: Deutschland feiert heuer das 20-jährige Jubiläum der Wiedervereinigung. Ist Wolf Biermann heuer ein viel gebuchter Redner?
Biermann: Das weiß ich nicht. Ich kümmere mich in meiner Ehe um die großen Dinge: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Alles darunter, wie das Jubiläum zur Wiedervereinigung, regelt meine Frau Pamela.

profil: Ist das nicht ein wichtiges Jahr für Sie? Immerhin haben Sie Ihr Leben lang als Liedermacher und Dichter für die Befreiung der DDR gekämpft.
Biermann: Für mein kleines Menschenleben ist das natürlich ein riesiger Tag. Ich erinnere mich daran mit einem lachenden und einem traurigen Auge. Ich saß am 9. November 1989 vor dem Fernseher in meiner Wohnung in Hamburg und sah, wie mein Schicksal sich vollendete.

profil: Warum waren Sie traurig?
Biermann: Ich dachte: Die Leute da im Fernsehen holen die Ernte ein, die ich gesät habe. Übertrieben gesehen war es ja meine Sache, die Befreiung der DDR. Ich fühlte eine interessante Mischung aus Freude, Genugtuung und Neid.

profil: Neid?
Biermann: Neid, weil man bei der eigenen Angelegenheit nicht dabei ist. Meine Sache wurde da verhandelt und zu meinen Gunsten entschieden. Und ich war nicht dabei. Ich gehörte nicht mehr dazu. Es war eine Art Enteignung.

profil: War Ihnen das erreichte Ziel nicht wichtiger als Ihr Ego?
Biermann: Na klar, tausendmal. Ich sage das mit einem Augenzwinkern, weil ich über mich nicht lachen, aber doch lächeln muss. Ich erlebte etwas, was so alt ist wie die Menschheit: Man kommt aus dem Exil zurück – das ist wie bei den Höhlenmenschen, wo man aus der Affenhorde verjagt wird –, man kommt also zurück, weil der Oberboss von einem anderen Oberaffen vertrieben wurde, und merkt plötzlich: Man gehört nicht mehr dazu. Man ist gar nicht mehr so wichtig. Die klauen einem die Show. Das ist der Grund, warum viele Menschen Angst davor haben, aus dem Gefängnis zu kommen, weil sie dann erkennen: Die Freunde sind nicht mehr die Freunde, und die ­vertrauten Feinde sind verdorben. Die ge­wohnte Rolle, die man spielte und mochte, gibt es nicht mehr.

profil: Sie haben den Mauerfall in Berlin nicht miterlebt, weil Sie 1976 aus der DDR in den Westen reisten, um in Köln ein Konzert zu geben. Die DDR-Regierung unter Erich Honecker bürgerte Sie daraufhin aus. Manche Historiker sagen, dass dieses Konzert der Anfang vom Ende der DDR war.
Biermann: Das ist richtig, trotzdem ist es falsch. Niemals kann eine so starke, etablierte Diktatur zusammenbrechen, weil ein junger Mann mit Gitarre ein paar Lieder spielt. Das sind inkommensurable Größen. Wenn man das glaubt, wird man größenwahnsinnig.

profil: Trotzdem war Ihre Ausbürgerung der Anlass für eine große Protestbewegung in der DDR.
Biermann: Ja, das war im Vergleich mit anderen historischen Situationen geradezu grotesk. Beim Einmarsch in die CSSR 1968, wo fünf russische Armeen den Prager Frühling plattmachten – was ja wohl zweifelsfrei gewichtiger war als das Konzert eines ­jungen Mannes in einer Konzerthalle in Köln –, gab es nicht so viel politischen Protest wie nach meiner Ausbürgerung.

profil: Warum hat Ihre Ausbürgerung mehr bewirkt?
Biermann: Das hat etwas mit der geschichtlichen Situation zu tun. Wie es in der Bibel heißt: Alles hat seine Zeit. Es gibt Situationen im Geschichtsprozess, in denen ein solches Ereignis zu einem Kristallisationspunkt wird, an den sich größere Dinge heften. Die Herrschenden der DDR waren ja keine Anfänger und keine Idioten. Natürlich wussten sie, dass es nach der Ausbürgerung Ärger geben würde. Darauf waren sie gefasst und auch bereit, das zu ertragen. Keiner, auch ich nicht, konnte aber mit einem so breiten Protest rechnen, der wiederum angestoßen wurde durch den Protest der 13 großen Schriftsteller – unter anderem Stefan Hermlin, Stefan Heym und Jurek Becker –, die ihre unterschiedlichen Auffassungen und ihre Eitelkeiten überwunden und sich zusammengetan haben. Das war für viele einfache Arbeiter, Studenten und Schüler ein Grund, sich dranzuhängen.

profil: War das gefährlich?
Biermann: Die Menschen, die damals protestiert haben, sind grausam bestraft worden: Sie kamen ins Gefängnis, verloren ihre Arbeit, wurden von der Uni oder der Schule geworfen, Familien wurden für immer zerstört. Die 13 berühmten Schriftsteller wurden noch grausamer bestraft: In einem Land, in dem die Menschen wie die Karnickel abgeschossen wurden, wenn sie versuchten, über die Mauer in den Westen zu fliehen, bekamen die noch mehr Privilegien, wie etwa einen Dauerreisepass in den Westen.

profil: Warum ist das eine Strafe?
Biermann: Weil es ein korrumpierendes Privileg ist, das dazu verführt, es durch Wohlverhalten zu bewahren. Und weil einen dieses Privileg von den einfachen Menschen trennt, was für einen Künstler eine besonders gefährliche Sache ist. Mit anderen Worten: Die Herrschenden waren auch nicht gerade blöde.

profil: 1976 waren Sie noch überzeugter Sozialist. Wie haben Sie Ihre Ausbürgerung erlebt?
Biermann: Das war ein Moment in meinem Leben, wo nicht ich Angst hatte, sondern die Angst mich hatte. Ich war überrumpelt, panisch, bin zusammengebrochen. Ich dachte, die Musen küssen mich nicht mehr. Das ist komisch, von heute aus gesehen, wo man die billige Überlegenheit des zeitlichen Abstands hat. Damals war es das nicht: Ich dachte, jetzt ist es aus mit mir. Wenn ich nicht dort leben kann, wo meine vertrauten Freunde und meine vertrauten Feinde sind, und wenn ich in eine Gesellschaft komme, wo alle Leute Deutsch sprechen und ich kein Wort verstehe, bin ich erledigt. Ich war in einem neuen Koordinatensystem, ein Fremdsprachiger. Hinzu kommt: Ich gehörte nicht zu denen, die im Westen sind und dort große Töne spucken: Was ich an kritischen Dingen zu sagen hatte, das hatte ich gesagt, ich war ein „Drachentöter“ im totalitären System. Ich hatte meine Kritik immer veröffentlicht: in Büchern, Platten, Tonbändern, die sich in der DDR und im Westen unglaublich schnell verbreiteten. Ich habe die da oben ziemlich geärgert, und das war, solange man nicht totgeschlagen wurde, ein ziemlich schönes Leben.

profil: Sie haben unlängst mit Ihrer Familie die Stasi-Archive der DDR in Berlin besucht. Wissen Sie, wie viele Spitzel auf Sie angesetzt waren?
Biermann: Ja, wir haben 213 Stasi-Spitzel gefunden, die sich rührend um mich gekümmert haben.

profil: Das klingt, als wären Sie der Staatsfeind Nummer eins in der DDR gewesen.
Biermann: Ach was. Für Menschen in Österreich mag das übertrieben und hysterisch klingen, geradezu idiotisch. Aber im Grunde ist es sehr vernünftig. Wenn Sie jemanden kaputt machen wollen, der eine gewisse Wirkung auf das Denken von vielen Menschen ausübt, dann ist es sehr wirkungsvoll, wenn man ihn auf mehreren Ebenen zersetzt. „Zersetzung“ war ein typisches Stasi-Wort. Ich habe das Wort „Zersetzung“ in 20 Punkten in meinen Akten gefunden. Da hat irgend so ein Stasi-Idiot die Zersetzungspläne für Biermann aufgeschrieben: „Zerstörung aller Liebesbeziehungen“ war ein Punkt, „falsche medizinische Behandlung“ ein anderer.

profil: Wurden Sie vergiftet?
Biermann: Ja, da wurden tatsächlich Ärzte erpresst, damit sie mir Mittel verabreichten, die mich noch kranker machten.

profil: „Zerstörung aller Liebesbeziehungen“ heißt, dass man schöne weibliche Spione auf Sie angesetzt hat?
Biermann: Ja natürlich, das waren letztlich auch die einzig erfolgreichen Spione, viel erfolgreicher als die Männer, denen hab ich nie getraut. Die Stasi hat mir einmal eine Frau ins Bett gelegt, die einen „Arbeitsunfall“ erlitten hatte.

profil: Die Dame hat sich in Sie verliebt?
Biermann: Sie hat mir im Bett gebeichtet, dass sie ein Spitzel ist, und war damit aus Sicht der Stasi verbrannt. Das klingt jetzt alles so flott, aber damals war das für diese Dame schrecklich. Ich bin nicht bei ihr geblieben, und die Strafe von der Stasi hat sie auch voll kassiert. Die haben ihr Leben zerstört, und sie ist daran kaputt gegangen.

profil: Wird die Aufarbeitung der DDR-Verbrechen mit dem nötigen Ernst betrieben?
Biermann: Ja, da sind wir Deutschen wirklich Weltmeister. Es gibt keine andere Diktatur, in der kurz nach deren Zerfall die Akten so systematisch untersucht und im Sinne der einzelnen Opfer bearbeitet wurden. Und das ist auch wichtig und gut so. Denn viele im Westen wissen nicht: Wer in der DDR ins Gefängnis kam, bekam nachher nicht ein einziges Formular dafür. Die Opfer können also oft nicht beweisen, dass sie jahrelang hinter Gittern waren. Das heißt: Die Aufarbeitung der Stasi-Akten hat zum einen eine moralische Bedeutung. Und es hat zum anderen etwas mit Rente und so­zialer Stellung von Opfern zu tun. Es geht um Kompensation.

profil: In der Popkultur konnte man in den vergangenen Jahren eine gewisse DDR-Nostalgie beobachten. Ärgert Sie so etwas?
Biermann: Nein, das ärgert mich nicht, das kotzt mich nur an. Aber das ist so alt wie die Menschheit: Wenn eine Diktatur zusammengebrochen ist, gibt es viele, die dem bequemen Sklavenleben nachtrauern. Wenn man innerlich ein Sklave geworden ist wie viele Deutsche, die zuerst Sklaven der Nazi-Diktatur, dann der DDR-Diktatur waren, lernt man, diesen Status zu bewältigen und am Ende sogar zu genießen. Es ist wunderbar, wenn man für nichts verantwortlich ist. Man kann an dem Fraß herummeckern, den man jeden Tag auf den Tisch gestellt bekommt, aber er ist immer da. Dann kommt diese Freiheit, und man lernt mit Schrecken, dass man verantwortlich ist für sich selbst.

profil: Sie gingen als 17-Jähriger freiwillig von Hamburg in die DDR. Haben Sie das nicht Ihr halbes Leben bereut?
Biermann: Ich wurde von meiner Mutter kommunistisch erzogen, ich sollte die Menschheit retten, und ich wollte ihr diesen Gefallen tun, also ging ich ins Paradies der Arbeiter und Bauern, anstatt beim Klassenfeind zu bleiben. Millionen Menschen flohen damals in den Westen, und ich wunderte mich wie ein Geisterfahrer, warum alle anderen in die verkehrte Richtung fuhren. Für mich war es der einzig richtige Weg, gerade weil ich in diesem Nazi-Deutschland so kommunistisch geprägt war, was ja eine Ausnahmesituation war. Ich wurde ohne Rückfahrkarte, also nicht als Revolutionstourist, DDR-Bürger. Diese Lektion brauchte ich.

profil: Sie hatten von 1965 an Auftrittsverbot in der DDR und waren im Visier der Stasi. Wollten Sie nie in den Westen fliehen?
Biermann: Natürlich, das haben wir alle oft überlegt. Aber ich gehörte immer zu den Dableibern. Man hat unter den Intellektuellen immer gestritten: weggehen oder dableiben? Ich entschied mich für das Letztere. Ich hatte es aber auch leichter als andere, weil ich meine Waffe, nämlich die Gitarre, gefunden hatte, und ich fühlte mich dabei gut. Ich wollte verhindern, dass Leute, die auch den – wie Heinrich Heine es formuliert – „Freiheitskrieg“ in der DDR kämpften, in den Westen ausgespuckt wurden. Mein Freund Robert Havemann und ich wollten verhindern, dass die Witzbolde im Westen nachher sagen: Die DDR ist der dumme Rest unter sich. Wir wollten nicht allein bleiben in der DDR. Meine Eltern waren unter den Nazis Kommunisten und damit in der großen Minderheit. Weil ich kommunistisch erzogen war, wurde ich im Freiheitskrieg in der DDR in die Rolle des Drachentöters gedrängt. Das hat viel mit meinem familiären Hintergrund zu tun.

profil: Es heißt Margot Honecker, die Gattin des damaligen DDR-Regierungschefs Erich Honecker, sei ein Fan Ihrer Musik gewesen und habe Sie beschützt.
Biermann: Das behaupten meine alten Feinde immer noch, ist aber absoluter Quatsch. Ich hatte Margot Honecker einmal als Kind gesehen. Als mein Vater 1943 in Auschwitz ermordet wurde, besuchte Margot Honecker meine Großmutter und meine Tante in Hamburg. Sie war damals 14, ich sechs. Margot kam im Auftrag der illegalen Kommunistischen Partei. Mein Großvater war im Rotfrontkämpferbund, dem militärischen Arm der Kommunisten, zu denen auch der Vater von Margot Honecker gehörte. Daher kannten sich die Familien.

profil: Haben Sie sich in der DDR wiedergesehen?
Biermann: Als ich begann, Gedichte zu ­schreiben, schickte meine Mutter an ­Margot einen Brief. Damals war Margot Honecker Ministerin für Volksbildung. „Mein Sohn fängt an, Gedichte zu schreiben. Sprich doch mal mit ihm, dass er auch das Richtige schreibt“, schrieb sie ihr. Ich habe Margot Honecker ein paar Mal getroffen, hab mir alles angehört und mich belehren lassen, aber wir konnten uns nicht einigen, weil wir völlig unterschiedliche Positionen hatten. Als meine Kunst bereits von der Stasi verboten war, besuchte sie mich, um einen letzten Rettungsversuch zu unternehmen, weil es ja auch im Interesse der DDR lag, einen Liedermacher und Dichter zu behalten und nicht an den Westen zu verlieren. Ich ­lehnte ab, wir konnten uns wieder nicht einigen.

profil: Sie lebten in Ostberlin in der Chausseestraße 131, wonach auch Ihr erstes Album benannt ist. Wissen Sie, wer dort heute wohnt?
Biermann: Ein ehemaliger Stasi-Spitzel, der sich heute rühmt, dass er die Biermann-Wohnung erobert hat. Mein Haus war strategisch deshalb so wichtig, weil direkt gegenüber die BRD-Botschaft war und die Stasi-Spitzel jeden Stuhl verwanzt hatten und aufpassten, dass keine DDR-Bürger in die Botschaft flüchteten. In der Chausseestraße 131 lebten daher viele Stasi-Spitzel. Als die DDR zusammenbrach, gab die Nomenklatura den Befehl, dass alle wichtigen „konspirativen“ Wohnungen – wie eben die Wohnungen in der Chausseestraße 131 – an verlässliche Genossen übergeben wurden. Dann bekam diese Lichtgestalt diese Wohnung. Diese Frechheit ist ein Symptom für die Frechheit der SED.

profil: Sie haben die Nachfolgepartei der SED, die Linkspartei von Oskar Lafon­taine, als „verbrecherisch“ bezeichnet.
Biermann: Ja, und das ist noch untertrieben, das sind die Erben der Nomenklatura, und die sammeln ihre Kräfte für die nächste Schlacht. Ich will mit diesen Leuten nichts zu tun haben, weil es meine alten Todfeinde sind. Ich will ja auch nichts mit Nachfolgeorganisationen der NSDAP zu tun haben. Die neue Linke ist weder demokratisch noch ist sie links, sie ist die Erbin einer totalitären Diktatur mit demokratischer Maske.

profil: Sie glauben doch nicht im Ernst, dass die Linkspartei eine neue DDR anstrebt?
Biermann: Nein, das sind doch keine ­Idioten. Die leben davon, dass es die DDR nicht mehr gibt. Die hochrangigen Stasi-Beamten bekommen hohe Pensionen, als wären sie Beamte in der Bundesrepublik. Endlich können sie mit einem BMW oder einem Mercedes fahren. Das sind die ersten Nutznießer des Zusammenbruchs der DDR. Die zweiten, die davon profitieren, sind die Jungen, die atmen und ins Ausland studieren fahren. Für die dazwischen ist die jetzige Zeit immer noch sehr schwer. Wenn jetzt die alten Idioten sagen, wir machen das noch mal, nur viel besser, dann sind das keine ­Idioten, sondern Verbrecher.

profil: In der Wirtschaftskrise feiern plötzlich Karl Marx und andere linke Theoretiker eine Renaissance. Macht Ihnen das ­Sorgen?
Biermann: Zu Lebzeiten von Marx gab es großes soziales Elend, es war die absolute Krise, woraus er schloss, dass es die absolute Erlösung geben muss. Kommunismus heißt, das Paradies auf Erden zu zwingen. Das zu versuchen führt in die schlimmste Hölle, die es auf Erden gibt. Der Kapitalismus hat gezeigt, dass er eine dynamische Gesellschaft ist, welche die Fähigkeit hat, aus ihren Fehlern zu lernen und neue zu ­machen. Nicht immer die alten. Das ­totalitäre Regime hat keine Krise, es ist die Krise. Deswegen ist der ­Hochmut, das Frohlocken der alten ­Idioten, die jetzt sagen „Siehst du, der Kapitalismus ist genauso beschissen wie unser System, und wir sollten unser altes System besser machen“, ein Schwachsinn. Da kann ich nur böse lächeln. Solche Töne kann nur spucken, wer im Kapitalismus und in der Demokratie lebt, das ist das Heuchlerische daran.

Fotos: Maximilian Lautenschlaeger