profil: Was ist Ihre Definition von Spitzenmedizin?
Wild: Spitzenmedizin ist nicht das Neueste und Teuerste, sondern das, womit die beste Wirkung erzielt wird.
profil: Ärzte haben vergangene Woche Alarm geschlagen: Österreich laufe Gefahr, dass teure Krebsmedikamente künftig nicht mehr für jeden leistbar sein werden. Ist die Situation so dramatisch?
Wild: Nein. Zuerst einmal ist es wesentlich, zwischen technisch neuen und innovativen Erfindungen zu unterscheiden. Das ist umso wichtiger für ein öffentliches Gesundheitswesen, das die Allgemeinheit solidarisch finanziert: Es muss sich am größtmöglichen Nutzen für den Patienten orientieren.
profil: Wie lässt sich der feststellen?
Wild: Es ist belegt, dass unabhängig finanzierte klinische Studien wovon es leider viel zu wenige gibt zu moderateren positiven Ergebnissen kommen als firmenfinanzierte, also alle Zulassungsstudien. Es ist auch belegt, dass diese Zulassungsstudien unter Idealbedingungen stattfinden, also nur ausgewählte Patienten, ideale Therapie- und Diagnostikbedingungen. Unter realen Alltagsbedingungen müssen beim Behandlungserfolg dann Abstriche gemacht werden.
profil: Das heißt, die realen Heilungschancen sind geringer, als es Studien vorgeben?
Wild: Nehmen wir die Krebspräparate Avastin und Herzeptin, die dieser Tage als Sensationen bezeichnet wurden und die bei metastasierendem Krebs eingesetzt werden: Der Nutzen ist vier bis fünf Monate Lebensverlängerung, die Nebenwirkungen sind nicht unbedeutend. Die Nutzen-und-Kosten-Bewertung ist letztendlich auch eine gesellschaftspolitische: Wie viel Nutzen ist genug Nutzen?
profil: Wer entscheidet in Österreich im Wesentlichen darüber, welche Präparate eingesetzt werden: die Ärzte, die Politik, die Pharmaindustrie?
Wild: Genau das ist das Problem. In Österreich entsteht immer dann, wenn ein neues Produkt auf den Markt kommt, Druck. Dann steht die Politik mit dem Rücken zur Wand und gibt nach oder auch nicht. Es ist die Strategie der Pharmaindustrie, zuerst ein Präparat in einer kleinen Patientengruppe zuzulassen und dann dieses Produkt für größere Patientengruppen zu bewerben. Beispielsweise Avastin: Es ist momentan nur für jene Patienten zugelassen, bei denen jedes andere Präparat versagt hat. Nun wird es als Ersttherapie forciert.
Frage: Wer überprüft die Wirksamkeit?
Wild: Vor zwanzig Jahren ist die Disziplin Health Technology Assessment entstanden, die im Wesentlichen dafür da ist, medizinische Interventionen zu evaluieren. Da werden Fragen geklärt wie: Ist das neue Präparat, die chirurgische Methode wirksam? Bei welchen Patienten gibt es dafür überhaupt Belege? Was kostet das neue Präparat im Vergleich zu den etablierten Alternativen? Diese Wissenschaftsdisziplin, die naturgemäß weder von der Industrie noch von Kostenträgern abhängig sein kann, wird immer wichtiger.
profil: Es werden also sozusagen objektive Kriterien eingezogen, die dann für jeden Patienten gleich gelten?
Wild: Ja. Andere europäische Länder arbeiten bereits intensiv damit: Kanada, die skandinavischen Länder, Großbritannien. Diese Länder haben so genannte Early-warning-Programme, in denen sie die Politiker darauf vorbereiten, welche Medikamente in zwei bis drei Jahren auf den Markt kommen und welche Wirksamkeitsbelege vorliegen. Es ist kostensparender vorwegzudenken.
profil: Welche Rolle spielt eigentlich die EU bei der Zulassung von Medikamenten?
Wild: Eine bedeutende. Aber Zulassung und Refundierung der Medikamentenkosten durch die Kassen oder Spitäler darf nicht verwechselt werden. Für die Refundierung ist ein eindeutiger Mehrwert gegenüber bestehenden medizinischen Methoden notwendig.
profil: Hat das österreichische Gesundheitssystem ein Ausgabenproblem, ein Einnahmenproblem oder zu viel Speck im System?
Wild: Im österreichischen System ist ausreichend Geld. Der zielgerichtete Einsatz ist das eigentliche Problem. Außerdem wäre ein systematisches Hinschauen, wer wie am System mitverdient, sinnvoll. Ein fairer Zugang für jeden Bürger zur medizinischen Versorgung ist nur aufrechtzuerhalten, wenn der Nutzen von medizinischen Interventionen künftig kritischer reflektiert wird.
Interview: Ulla Schmid