Der Freistaat von Kairo

Reportage Enttarnte Spione und rätselhafte Moslem-Brüder, verzweifelte Mütter und coole Filmstars.

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Es gibt ein Gefühl, gegen das man sich kaum wehren kann, wenn man über den Tahrir-Platz geht: dass hier, im Zentrum von Kairo, ein neuer Staat entsteht. Noch ist er nicht größer als ein paar Fußballfelder, in knapp einer halben Stunde kann man ihn zu Fuß umrunden. Im Norden endet er an der matt-orangen Fassade des Ägyptischen Museums, im Süden an der Mogamma, einem betongrauen Regierungspalast. Seine westliche Grenze liegt am Eingang des Hilton Hotels, die östliche an einem Kreisverkehr.

Aber so klein dieser Staat – oder besser: diese Keimzelle eines Staates auch ist, als so stark hat er sich bereits erwiesen. Immer wieder mussten seine Bewohner brutale Angriffe von außen abwehren. Manchmal sind Hunderttausende hier, manchmal nur ein paar Hundert, aber niemals ist der Tahrir-Platz in diesen Tagen menschenleer. Die Gegner des Mubarak-Regimes, die seit zwei Wochen prügelnden Polizisten und bezahlten Schlägern trotzen, wissen: Wenn der Tahrir-Platz fällt, zerbricht ihr Traum von einem neuen Ägypten.
Möglicherweise träumen sie nicht alle den gleichen Traum. Dazu ist die Protestbewegung zu vielgestaltig. Zornige junge Männer, die für einen laizistischen Staat kämpfen, sind ebenso darunter wie islamistische Moslem-Brüder. Frauen in verschiedenen Stadien der Verschleierung stehen neben schicken Damen, die Designer-Sonnenbrillen im offenen Haar tragen. Anwälte und Richter demonstrieren genauso wie Gemüsenhändler und Automechaniker, Arme und Reiche, Gebildete und Ungelernte, Moslems und Christen.
Aber über eines sind sich alle einig: Mubarak muss weg.
Dafür leben sie rund um die Uhr unter freiem Himmel und organisieren sich selbst, führen Vermisstenlisten und verarzten Verwundete, stehen geduldig vor der einzigen Toilette Schlange, verteilen Wasser und wechseln sich beim Wacheschieben ab. Dafür sind viele von ihnen sogar bereit, ihr Leben zu lassen. Sie sind aber auch nicht zimperlich, wenn es darum geht, Spitzel des Regimes zu suchen und festzusetzen.
Auf dem Tahrir-Platz wird Geschichte geschrieben, im Großen wie im Kleinen. Die gesamte vergangene Woche über hat profil das Geschehen aus nächster Nähe beobachtet.

1. Mohammed wird geschnappt
Schon wieder haben sie einen Eindringling gefasst, es ist bereits der Vierte an diesem Donnerstag Vormittag. Aus allen Richtungen laufen die Demonstranten auf einen Mann zu und kreisen ihn ein. Er heißt Mohammed, ist 27 Jahre alt, drahtig und groß gewachsen, trägt eine Lederjacke und ausgebeulte Kordsamt-Hosen, wie so viele auf dem Tahrir-Platz. Männer packen ihn am Kragen, brüllen ihn an, schlagen ihn ins Gesicht. „Der ist ein Spion Mubaraks, er arbeitet für die Polizei“, sagt ein aufgebrachter Student: „Er hat sich hier eingeschlichen, um unsere Bewegung zu zerstören.“
Jetzt muss alles sehr schnell gehen, denn nicht wenige Demonstranten würden Mohammed am liebsten auf der Stelle lynchen. Quer über den Platz wird der Verdächtige von ein paar Sicherheitskräften der Protestbewegung in ein Reisebüro gezerrt, das zum Verhörzimmer umfunktioniert wurde. „Schauen Sie, hier auf seinem Ausweis steht es: Er ist Polizeibeamter“, sagt einer der Männer, der nun mit dem Verhör beginnt.
„Warum bist du hier?“
„Ich war doch nur auf dem Weg nach Hause. Glauben Sie mir, ich bin unschuldig“, antwortet Mohammed S. und hält sich weinend die Hände vor das Gesicht.
„Du Lügner, du wohnst doch überhaupt nicht hier in der Gegend, da musst du nicht über den Tahrir-Platz nach Hause gehen. Sag die Wahrheit!“
Dann ziehen zwei Männer Mohammed Jacke, Pullover und T-Shirt aus. Mit dem Kugelschreiber kritzeln sie ihm seinen Dienstgrad auf den nackten Oberkörper, seine Hände werden mit Kabelbinder hinter dem Rücken gefesselt.
„Das ist eine leichte Art von Folter, um etwas aus ihm herauszubekommen. Wir werden ihn jetzt dem Militär übergeben, die sollen ihn vor ein Gericht bringen“, sagt Ibrahim El Alahim, ein 59-jähriger Arzt, der sich um die Verwundeten auf dem Tahrir-Platz kümmert.
Wie lautet die Anklage?
Der grauhaarige Mediziner deutet auf ein weißes Tuch. Darauf liegen Patronenhülsen, Tränengasbomben, Molotow-Cocktails, Messer, Autokennzeichen und Polizeiausweise. „Hier haben wir Beweismaterial gesammelt. Die Mubarak-Leute, auch Polizisten, haben friedliche Demonstranten mit diesen Waffen getötet“, erklärt Mohammed, ein 22-jähriger Jus-Student, der für die Beweisführung zuständig ist.
Was mit dem gefassten Mann jetzt passiert? „Bei der Polizei würden sie ihn zu Tode foltern oder vergewaltigen. Wir übergeben ihn dem Militär, da bekommt er einen fairen Prozess“, versichert El Alahim.
Keine fünf Minuten später wird der nächste Verdächtige eingeliefert. Es ist ein Junge mit gekräuseltem, pechschwazem Haar, kaum älter als 18 Jahre alt. „Sehen Sie“, sagt El Alahim und zieht dem Jungen 100 ägyptische Pfund aus der Hosentasche: „Das Geld hat er von Mubaraks Leuten bekommen, damit er hier Wirbel macht.“
Der Junge bricht in Tränen aus. „Sie lügen, ich bin einer von euch, ich schwöre es!“ Ein Mann gibt ihm eine Flasche Wasser und klopft ihm auf die Schulter: „Warum bist du gegen uns, warum willst du dein Land verraten?“ Dann wird er hinausgebracht und einem Militärposten übergeben.
Wie die Demonstranten die Mubarak-Anhänger erkennen? „Sie stören die Demonstranten, versuchen, sie gegeneinander aufzuhetzen. Glauben Sie mir, mittlerweile können wir diese Typen riechen“, meint El Alahim.

2. Herr Beltagy beruhigt den Westen
Das Egypt-Reisebüro auf dem Tahrir-Platz ist in keinem guten Zustand. Scherben liegen auf dem Boden, die Tische sind staubig, ein Plakat, das für eine Reise nach Kuwait wirbt, hat einen tiefen Riss. Vor einigen Tagen wurde das Büro zur administrativen Zentrale der Protestbewegung umfunktioniert. Hier sitzen hinter den Schreibtischen erschöpfte Oppositionspolitiker, Anwälte und Organisatoren der Bewegung.
Einer von ihnen ist Mohammed Beltagy, ein ehemaliger Parlamentarier und Mitglied der Moslem-Bruderschaft, der stärksten Oppositionsbewegung im Land. Bei den Parlamentswahlen 2005 gewannen ihre unabhängigen Kandidaten 88 Sitze, derzeit sind sie vom Mubarak-Regime verboten.
Betagy setzt sich auf einen Stuhl und holt tief Luft. Seit Tagen hat auch Beltagy den Tahrir-Platz nicht mehr verlassen.
„Herr Beltagy, muss der Westen Angst vor der Moslem-Bruderschaft haben?“
„Der Westen braucht sich keine Sorgen machen“, sagt der Mann im grünen Nadelstreifanzug, dessen Stimme immer wieder versagt, so viele Anti-Mubarak-Parolen hat er in den vergangene Tagen herausgebrüllt.„Wir wollen keinen islamischen Staat nach dem Vorbild des Iran schaffen, es geht um die Menschenrechte.“ Die Moslem-Bruderschaft ist in Ägypten verboten, weil sie eine politisch-islamische Ideologie hat. Trotzdem unterstützt sie in diesen Protesten die Demokratiebewegung. Vor allem in der ärmeren Bevölkerung ist die Bewegung beliebt, da sie in vielen Vierteln Krankenhäuser und karitative Einrichtungen wie Suppenküchen betreibt.

3. Samir kommt nicht nach Hause
Plötzlich wird es ungemütlich. Ein Mann läuft auf die begrünte Verkehrsinsel, weckt einige der schlafenden Demonstranten auf und schreit: „Sie kommen, Mubaraks Leute kommen! Alle vor zum Museum!“ Weiter vorne trommelt ein anderer mit einer Eisenstange gegen einen Mistkübel, um Alarm zu schlagen. Dutzende Demonstranten laufen zum Grenzposten des Cleopatra-Hotels. Dort gibt es nur durch eine kleine Seitengasse Zutritt zum Tahrir-Platz.
Weiter hinten stehen drei Studenten mit Palästinensertüchern um den Hals. Sie diskutieren gerade das Titelblatt der Tageszeitung „Al Ahram“: „Mubarak tritt nicht mehr als Präsident an“, steht darauf geschrieben. „Das ist doch absurd“, sagt der 22-jährige Mahmoud: „Wir sind uns einig: Mubarak hat die Wahl, entweder er geht nach Saudi-Arabien oder er wird erschossen wie Ceausescu.“
Hinter der großen Bühne, auf der acht Boxen aufeinander gestapelt sind, steht Ahmed und geht noch einmal die Vermisstenliste durch. „87 Demonstranten sind derzeit vermisst, niemand weiß, wo sie sind.“ Eine Frau mit schwarzem Kopftuch sitzt weinend daneben. Ihr Sohn Samir ist nicht mehr nach Hause gekommen. „Er war immer ein braver Junge und hat mir gehorcht. Ich habe ihm immer verboten, dass er auf den Tahrir-Platz geht“, sagt die Frau mit zitternder Stimme.
Am Samstag Abend hat Samir seine Mutter auf dem Handy angerufen und gesagt, dass er trotzdem hierher gefahren sei, dass es ihm leid tue und er jetzt nach Hause komme. „Er hat dann gesagt, dass er Pistolenschüsse hört. Dann war die Leitung tot.“
Seither fehlt jede Spur von Samir. „Ich bin in alle Spitäler gegangen, habe beim Militär gefragt und bei der Polizei, die wissen nichts.“ Das passiere immer öfter, sagt Ahmed, der für die Registrierung der Vermissten verantwortlich ist: „Wahrscheinlich hat ihn die Polizei geschnappt, dann weiß niemand, ob er je wieder freikommt oder ob er überhaupt noch lebt.“

4. Manal geht auf den Markt
Es ist Mittwoch Vormittag, wenige Stunden vor den blutigen Auseinandersetzungen, in dem reichen Viertel Saad Zaghloul, etwa 15 Gehminuten vom Tahrir-Platz entfernt. Wie überall in der Stadt haben auch hier Geschäfte und Banken geschlossen. Einzig auf einem kleinen Straßenmarkt können die Anrainer Lebensmittel kaufen. Der Rentner Adel Risk hat eine böse Vorahnung.
„Das Land ist gespalten“, meint der 61-jährige Ex-Ingenieur zwischen zwei Einkäufen. „Ich habe Angst, dass die Anhänger und die Gegner Mubaraks übereinander herfallen und Gewalt ausbricht.“
Auf einfachen Holzgestellen haben die Händler ihre Ware ausgebreitet. Bananen, Tomaten, Gurken, es scheint an nichts zu fehlen. Die Hausfrau Manal Faruk klagt über Wucherpreise. „Manche Händler nutzten das Chaos aus“, ärgert sich die 33-jährige Mutter von vier Kindern. Vor einem Monat zahlte sie noch 1,50 Pfund (0,19 Euro) für ein Kilo Tomaten. Heute sind es schon fünf Pfund.
In dieser Nachbarschaft der unteren Mittelklasse leben viele Regierungsbeamte und Angestellte der staatlichen Wirtschaftsbürokratie. Das Anliegen der Demonstranten ist nicht unbedingt das Ihrige, auch wenn sie die Augen vor der Stagnation unter der jahrzehntelangen Mubarak-Herrschaft nicht verschließen. „Es wäre gut, wenn endlich ein echter Dialog in Gang käme“, seufzt Faruk. Stabilität und sichere Einkommen hat für diese Schicht einen höheren Wert als ein radikaler Regimewechsel mit unwägbaren Risiken.
Auf dem Tahrir-Platz war sie bis jetzt noch nicht.

5. Waked ist ein Star
Vor dem Ägyptischen Museum stehen Moslems in langen Galabias und mit eindrucksvollen Bärten. Sie verteilen Wasser und Brot an Demonstranten, die sich etwas ausruhen wollen. Als weiter vorn beim Museum die ersten Tränengasschwaden zu sehen sind, stehen sie auf und rufen: „Allah steh‘ uns in diesem Kampf bei“. Immer wieder werden blutüberströmte Menschen aus der Menge getragen.
Ein Mann geht über den Platz, der aus der Menge deutlich hervorsticht. Er trägt eng taillierte Diesel-Jeans, graue Clarks mit knallroten Schuhbändern und ein eng anliegend schwazes T-Shirt. Begleitet wird er von einem Fotografen eines ägyptischen Society-Magazins. Einige Menschen laufen auf ihn zu und schütteln ihm die Hand, andere klatschen und rufen: „Danke, dass du auch dabei bist.“ Sein Name ist Amr Waked, er ist einer der berühmtesten Schauspieler und Filmproduzenten Ägyptens, international bekannt durch seine Rolle als Terrorist in George Clooneys „Syriana“.
Waked zündet sich eine Marlboro an. Aus der Nähe wirkt er wie die arabische Variante von Sean Penn. „Ich bin hier, bis es zu Ende ist. Jeden Tag, jede Nacht“, sagt Waked: „Vielleicht entsteht ein falsches Bild, aber ich kann Ihnen sagen, dass dies immer noch eine friedliche Demonstration ist. Wir verteidigen uns gegen die brutalen Mubarak-Leute.“
„Verhält sich der Westen falsch in der momentanen Situation?“
„Die Obama-Regierung begeht einen schweren Fehler, wenn sie an Mubarak festhält, ihn nur zögerlich kritisiert und ihn nicht zum sofortigen Rücktritt auffordert.“
Direkt hinter Waked stehen zwei Sudenten und nicken. „Obama ist vor ein paar Jahren nach Kairo gekommen, um über Menschenrechte zu sprechen, jetzt, wo wir ihn brauchen, zieht er den Schwanz ein. Fuck Obama!“, sagt einer.

6. Duren würde lieber sterben
Wie alt sie ist, kann man unter dem Ganzkörperschleier, den sie trägt, nicht nicht genau abschätzen. Aber ihre Stimme klingt jung. Duren ist überzeugte Moslemin, würde ihr Gesicht keinem Fremden zeigen und ist in Begleitung ihres Ehemannes hierher gekommen. Sie hat Pharmazie studiert und arbeitet als Apothekerin. Und jetzt steht sie am Tahrir-Platz und hält ein selbstgemaltes Schild in Händen: „We want Democray, now!“ steht darauf geschrieben. Zu ihren Füßen liegen zertrümmerte Pflastersteine, die bei den Auseinandersetzungen zwischen Mubarak-Gegnern und Regime-Befürwortern als Wurfgeschoße verwendet wurden.
Duren schaut sich um. „Wahrscheinlich werde ich hier sterben“, sagt sie dann: „Aber Sterben ist doch besser als ein ganzes Leben unter diesem Regime.“