Der unangepasste Held

Der unangepasste Held

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August 1980. Es war ein heißer Sommer in Polen. Die Preissteigungen hatten die Menschen erzürnt. An der Ostsee streikten die Arbeiter. Eierschwammerln und Erdäpfel gab es im Überfluss, an sonstigem Essbaren herrschte in den Geschäften und auf den Märkten Mangel. Die Streikbewegung begann sich gerade zur „Unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc“ zu verfestigen. Und der Historiker Jacek Kuron galt als einer der wichtigsten intellektuellen Animatoren der Solidarnosc.
Leicht war er nicht zu finden in seiner mit Büchern voll gestopften Parterrewohnung in einer kleinen Warschauer Gasse. Aber gleich drei auffällig diskrete Autos, die vor dem Haus parkten, wiesen schließlich den Weg. In ihnen saßen mehrere Männer, die ohne Problem als Spitzel der politischen Polizei zu identifizieren waren.

Man konnte ahnen, dass in Polen etwas Großes in Bewegung gekommen war. Und Kuron beeindruckte, wie er da mutige Worte gegen die Herrschaft des Politbüros fand, wie dieser bullige Kettenraucher in klarer und kraftvoller Sprache die an der Macht befindlichen Kommunisten im Namen der polnischen Arbeiterbewegung herausforderte.

Damals ging ich, erfasst von den turbulenten polnischen Ereignissen und getrieben von jugendlichem Geschichtsoptimismus, eine politische Wette mit einem älteren Journalistenkollegen ein, der die Verhältnisse Osteuropas viel besser kannte. „Kuron kommt an die Macht“, war ich mir sicher. Der Kollege hielt dagegen: „Lächerlich, niemals.“ Und er schien Recht zu behalten. Die unabhängige Gewerkschaft wuchs zwar zu einer nie geahnten politischen Kraft heran, lehrte die Kommunisten von der Weichsel bis Wladiwostok das Fürchten – eineinhalb Jahre später war sie aber zerschlagen, und ihre Proponenten, auch Kuron, saßen in den Internierungslagern. Schließlich gewann ich die Wette aber doch. 1989 handelten die Solidarnosc und ihre Vertreter – neben Lech Walesa an der Spitze: Jacek Kuron – an einem runden Tisch mit den kommunistischen Granden deren friedlichen Abgang aus. Kuron kam tatsächlich an die Macht: Er wurde erster Sozialminister nach der Wende von 1989.

Er ist vergangenen Mittwoch im Alter von 70 Jahren gestorben. „Er war eine der Heldengestalten“, sagt die Osteuropa-Kennerin Barbara Coudenhove-Kalergi. „Ein in Polen seltener Typus: einer, der das kommunistische Regime von links angegriffen hat, nicht aus dem katholischen Lager kam, ein – nicht jüdischer – säkularer Intellektueller, der als begnadeter Volkstribun die Arbeiter mitreißen konnte.“

Unangepasst war Kuron schon immer. Als Halbwüchsiger wurde der Sohn eines klassenbewussten Arbeiters aus der kommunistischen Jugendorganisation rausgeschmissen, weil er meinte, dass die amerikanischen Flugzeuge schneller flögen als die sowjetischen. Eine brillante und scharfe marxistische Kritik an der Bürokratenherrschaft brachte ihm 1964 drei Jahre Haft ein. Kaum freigelassen, musste er 1968 als „Rädelsführer einer zionistischen Verschwörung“ wieder für mehrere Jahre hinter Gitter. Und als 1976 Arbeiterrevolten ausbrachen, gründete er gemeinsam mit Adam Michnik, dem jetzigen liberalen Medien-Tycoon, das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter, KOR. Das sollte zum intellektuellen Braintrust der freien Gewerkschaften werden, die schließlich die KP-Herrschaft zum Aufgeben zwangen.
Auch nach der Wende blieb Kuron unangepasst: legendär, wie er als Sozialminister 1989 allabendlich im Fernsehen in seiner Jeansjacke auftrat und wild gestikulierend mit rauchiger Stimme seinen Landsleuten erklärte, was sie im schmerzhaften Übergang von der Kommando- zur Marktwirtschaft erwarte. Er tat sein Möglichstes, die sozialen Härten abzufedern: Er führte Sozialprogramme für die Arbeitslosen und Ausspeisungen im Freien für die Armen ein. Und griff selbst zuweilen zur Suppenkelle. Das Volk liebte ihn. Noch heute heißt die Notstandshilfe in Polen „Kuroniowka“, Kuron-Geld.

Als ich Jacek Kuron 1995 in derselben kleinen Warschauer Wohnung besuchte, die er schon 1981 bewohnt hatte, da wusste er bereits, dass er zwar nach wie vor der beliebteste Politiker in Polen war, die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen aber haushoch verlieren werde. So kam es auch. Er erhielt nicht einmal zehn Prozent der Stimmen. Und langsam zog er sich immer mehr aus der aktiven Politik zurück. Er spürte: Seine Zeit war das nicht mehr.

Sein Tod lässt mich nostalgisch werden, wenn ich daran denke, dass heute alles, wofür Kuron stand – Liebe zur Freiheit, verbunden mit Leidenschaft für soziale Gerechtigkeit –, nicht nur in Polen so unmodern erscheint.