Der wahre Jörg
Die "Postalm" liegt drei, vier Wegstunden hoch über dem Wolfgangsee im österreichischen Salzkammergut. Damals, in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, führte noch keine Straße auf die Anhöhe, und die Füchse aus der Burschenschaft Albia schulterten häufig ihre Rucksäcke und marschierten frisch, frei und fröhlich hinauf zu ihrer verschwiegenen Klause. Dort brüteten sie dann in nächtelangen Diskussionen über der Zukunft ihrer Heimat. Sie waren Schwärmer, und ihre Köpfe steckten voller Ideen, die Ehre, Pflicht, Treue, Mannesmut oder Vaterlandsliebe heißen. Schnell hatten sie sich in hitzige Erregung geredet.
Die Eltern der meisten jungen Gipfelstürmer waren Parteimitglieder der Nationalsozialisten gewesen und viele der Alten Herren der Albia ebenso. Wie der honorige Apotheker beispielsweise machten sie keinen Hehl daraus, daß sie nicht viel von der Zweiten Republik hielten, von dem neuen Staat, in dem sie nach Kriegsende zu leben gezwungen waren. Gern hielten sie ihrem hoffnungsvollen Nachwuchs lange Vorträge über die "Wahrheit"; über eine verbannte Wahrheit freilich, die das Licht der Öffentlichkeit scheuen mußte, solange die Lügen der Sieger und der ehrlosen Politiker, die nun regierten, den Menschen diktieren durften, was man zu denken hat. Eines Tages aber, eines Tages, so beschworen die Alten immer wieder die Jungen ...
Manchmal legte man im Klub der toten Helden auf der Postalm heilige Eide ab. Manchmal schwärmten Geisterheere aus, stürmten in wilder Jagd tief hinein in das weite Rußland und verbluteten Mann um Mann in der Eiswüste von Stalingrad. Dann erörterten die Söhne aus kriegerischem Haus taktische Manöver, durch die der Endsieg doch noch zum Greifen nahe schien. Manchmal überprüften sie in ihrer Eigenbrötelei auch die Buchhalter des Todes: Höhnisch rechneten sie nach, daß es schon rein technisch unmöglich gewesen sein muß, sechs Millionen Juden zu ermorden. Lauter Propagandalügen. Entschlossen verteidigten sie ihre Eltern gegen die Zeit. Zweifelsohne war ihren Vätern und Müttern großes Unrecht widerfahren. Trotzdem stimmte irgend etwas nicht. Aber wo lag der Haken? "In der Zweiten Republik konnten wir absolut keine Antworten auf unsere Fragen finden", erinnert sich heute einer aus dem Kreis, der damals 16jährige Hoteliersohn Helmut Peter. Häufig wurden dann auf der Postalm Lieder angestimmt. Darin gelobten sie, "treu wie deutsche Eichen" zu sein, und riefen es im Chor in die Nacht hinaus: "Wir wollen das Wort nicht brechen, wollen predigen und sprechen vom heiligen deutschen Reich!" Sie sangen es "mit nassen Augen", so Helmut Peter. Ein frommer Schauer fröstelte durch die Runde. Sie saßen um "das Feuer der heiligen Wahrheit", und alle Zweifel waren zerstreut. Je stärker sie sich angegriffen fühlten, desto enger rückten sie zusammen. Und schworen einander Kameradschaft für das Leben.
Einen Stammplatz in diesem verschworenen Zirkel nahm der Schuhmachersohn Jörg Haider aus Bad Goisern ein, der im Gymnasium von Bad Ischl als strebsamer Vorzeigeschüler und Klassensprecher glänzte. Eines Tages gelang es ihm, den Anführer der Albia auszubooten: "Unsanft, aber elegant", wie sich sein ehemaliger Mitschüler Thomas Huemer erinnert. Jetzt war der ehrgeizige Jörg "Sprecher" und schließlich "Fuchsmajor" der Burschenschaft und verhalf der kleinen Gruppe zu unverhofftem Zulauf, indem er Mitglieder aus dem katholischen Mittelschülerkartellverband abwarb. "Als wir angefangen haben, waren wir in meiner Klasse nur vier", erzählte Haider einmal stolz, "am Schluß waren es dann zwölf." Er sei eben schon immer ein unglaublich talentierter Menschenfischer gewesen, meinen die Mitstreiter von damals.
Die Karriere des Jörg Haider ist in der österreichischen Nachkriegsgeschichte einzigartig: Mit brachialer Rhetorik und jugendlichem Elan rempelte sich der charismatische Einzelkämpfer nach oben. Er duldete nur Bewunderer um sich, wer nicht nach seiner Pfeife tanzte, wurde auf ein Abstellgleis manövriert. Seine Partei nennt der Oppositionsführer nunmehr eine "Bewegung". Die Freiheitlichen sollen den nur schwer vorstellbaren Weg zu einer Dritten Republik ebnen, an deren Spitze dereinst selbstverständlich Haider stehen will - womöglich als Staatsoberhaupt und Regierungschef in Personalunion. Schließlich, so hört man jetzt seine Anhänger immer häufiger sagen, sei er Österreichs neuer "Schutzpatron".
Der unaufhaltsame Aufstieg des jungen Gralshüters von der Postalm entzweit entschieden die Meinungen. In einem Brief aus seiner Zelle meldete der zu acht Jahren Haft verurteilte Neonazi Hans-Jörg Schimanek junior seinen deutschen Kameraden von der "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene": "Zwar ist der noch nicht das Gelbe vom Ei, aber zumindest ein Schritt in die richtige Richtung." Ist Jörg Haider tatsächlich ein "Neofaschist" und der "geistige Ziehvater des rechten Terrors", wie die österreichischen Grünen behaupten? Ist er bloß ein "alternder Playboy", der "nicht mehr auf dem Boden der Verfassung" steht, wie der konservative Fraktionsführer im Wiener Parlament spottete? Oder hat dessen sozialdemokratischer Kollege recht, der meint, daß der dämonisierte Kanzleranwärter "mehr als alles andere ein Opportunist" sei: "Er vereint in sich ein Amalgam aus gegenwärtigen und vergangenen Vorurteilen."
Die kleine Gemeinde Bad Goisern im inneren Salzkammergut fällt aus dem Rahmen der österreichischen Provinzklischees. Jahrhundertelang wurden die Bewohner dieser Hofdomäne der Habsburger in faktischer Leibeigenschaft gehalten. Sie durften ohne höchste Genehmigung weder zuwandern noch fortziehen, sie mußten nicht zur Armee einrücken, verfügten allerdings auch nur über die sehr eingeschränkte Lebensperspektive, entweder Salzsieder oder kaiserlicher Förster zu werden. Ein dumpfer, rebellischer Oppositionsgeist gedieh in den Tälern am Fuße des Dachsteinmassivs. Das Wildern in den an ferne Jagdherrschaft verpachteten Revieren ist für viele noch immer ein ehrenwerter Volkssport. Hier hatte sogar der Augsburger Religionsfrieden keine Geltung, die Gegenreformation konnte nie Fuß fassen. Bad Goisern ist eine von drei Gemeinden im erzkatholischen Österreich, in denen die Protestanten die Mehrheit stellen. Und solange es demokratische Wahlen gab, war der Bürgermeister stets ein Roter.
Es muß von den Bad Goiserern als besondere Niedertracht empfunden worden sein, als die klerikalen Austrofaschisten während der Zwischenkriegszeit einen Katholiken im Rathaus verankerten. Fast naturgemäß sammelten sich die illegalen Nationalsozialisten um den protestantischen Pfarrer Johann Neumayer. Erst viel später vollzog der Gottesmann einen Gesinnungswandel. Er sei offensichtlich der Meinung gewesen, so meldete das Gendarmeriepostenkommando 1942, "mit der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus wird alles Katholische ausgerottet und sein Stand wird als lachender Dritter dastehen". Nun sei die "innere Unzufriedenheit" des Pastors unübersehbar, und mit kleinen Unbotmäßigkeiten unterlaufe er immer wieder die Anordnungen der braunen Machthaber.
Mißtrauen scheint eine der Lehren zu sein, die man in Bad Goisern aus der Vergangenheit zieht. In den vergangenen Wochen hat sich in dem verschneiten Dorf sogar ein bißchen Bunkerstimmung ausgebreitet. "Kommunistische" Schnüffler hätten sich in der Dunkelheit herumgetrieben, sie hätten mit Taschenlampen in das Haider-Haus hineingeleuchtet. Es sind zudem Dokumente aufgetaucht, Gerichtsakten aus dem Jahr 1934, die Robert Haider, den Vater des FPÖ-Obmanns, in Zusammenhang mit einem politischen "Meuchelmord" bringen. Der Fotohändler Jörg Fettinger, ein früherer Klassenkamerad seines Namensvetters, sagt gleich, was er von solchen Ruhestörungen hält: "Eine hinterhältige Schweinerei ist das."
D er 81jährige Vater Robert Haider meint unter Hinweis auf sein schlechtes Gehör, daß jede Unterhaltung sinnlos sei. Mutter Dorothea, eine rüstige 77jährige Dame, beteuert, "daß man uns sowieso nur nachstellen will". Natürlich behauptete die ehemalige BDM-Führerin immer, von den Greueln des Regimes, dem sie diente, erst nach 1945 aus der Zeitung erfahren zu haben. Natürlich klagte sie häufiger, so erinnert sich der Trauzeuge ihres Sohnes: "Ich weiß nicht, warum man uns nicht in Ruhe läßt." Vater Haider, ein früher Anhänger der Hakenkreuzler, soll einst vor einer Entnazifizierungskommission ausgesagt haben: "Nur ein Esel begibt sich ein zweites Mal aufs Glatteis." Immerhin hatte er noch vor zwei Jahren einer amerikanischen Besucherin gestanden: "Ich bereue nichts. Ich würde der Sache wieder dienen."
Robert Haider wuchs als uneheliches Kind bei seinem Großvater, dem Metzger Josef Haider, auf, einem passionierten Jäger, der einerseits sentimental der untergegangenen Monarchie nachhing, andererseits sich in den Wirtshäusern dafür stark machte, daß "Deutsch-Österreich" unter Führung der Hitler-Bewegung bald mit dem Reich vereint werde. Sein Enkel trat schon 1929, mit 15 Jahren, der Hitler-Jugend bei. Er ging bei dem Schuhmachermeister Steflitsch in die Lehre; das war schon damals ein Großbetrieb, der acht Gesellen beschäftigte und in den vor allem die Sommerfrischler kamen, um sich die begehrten Bergschuhe, die "Goiserer", anmessen zu lassen. Bad Goisern zerfiel in den unruhigen Jahren zwischen den Weltkriegen in drei scharf voneinander getrennte Gesinnungsbezirke. Das Marktviertel nannten die Einwohner "Berlin", den Ortsteil Posern "Moskau" und die austroklerikalen Wohngebiete "Rom". Die Familie Haiders lebte in "Berlin".
Im Jahr 1933 errichtete die christlich-soziale Kanzlerpartei nach einem Staatsstreich ein autoritäres Regime in Österreich, das mit den Nationalsozialisten um die Gunst der Antisemiten buhlte und die katholische Kirche gegen die gottlosen Sozialisten mobilisierte. Alle Parteien wurden verboten, allein die patriotische "Vaterländische Front" von Kanzler Engelbert Dollfuß war zugelassen und mühte sich vergebens, ihre Staatsideologie eines "österreichischen Nationalbewußtseins" unter das Volk zu bringen. In Bad Goisern spiegelte sich die Wiener Politik. Die verfeindeten Gruppen lieferten sich einen zähen Kleinkrieg. Die Hakenkreuzler stiegen nachts in die Jochwand auf und malten ihr Emblem unübersehbar auf den Fels. Sie schmierten "Juda verrecke" an die Mauern, und wenn sie ertappt wurden, landeten sie meist für einige Zeit im Gemeindekotter.
Mehr als der tiefverwurzelte Stammtisch-Antisemitismus wurde allerdings selten laut, erinnert sich der Schriftsteller Franz Kain, damals ein junger Kommunist und Holzknecht. Der einzige ortsansässige Jude, der Besitzer des Parksanatoriums, Dr. Anselm Horowitz (ein Cousin von Simon Wiesenthal), galt als Zugereister und störte daher nicht weiter im Ort.
Robert Haider ist als besonders aufmüpfiger Hitler-Junge und SA-Mann in der Erinnerung haftengeblieben. Häufig spazierte er provokativ in der Einheitsadjustierung der illegalen Nationalsozialisten - in weißen Kniestrümpfen und Windjacke - vor dem Gendarmerieposten auf und ab. Eines Tages wurde er bei einer Schmieraktion erwischt und sollte in das Bezirksgericht nach Bad Ischl verfrachtet werden, ein vergleichsweise hartes Vorgehen gegen dieses Kavaliersdelikt. Auf dem Weg zum Bahnhof gelang es ihm, sich loszureißen. Er floh über die grüne Grenze nach Bayern, wo sich seinesgleichen zur "Österreichischen Legion" formiert hatten. Diese Emigrantentruppe, von der Reichswehr bewaffnet, wartete auf den Einmarschbefehl.
Im Juli 1934 putschte die Untergrund-SS in Wien gegen die Regierung und ermordete Kanzler Dollfuß. Es war die Stunde der Legionäre. Noch hatte sich die Nachricht vom Scheitern des Aufstands nicht herumgesprochen, da drang eine Gruppe von Hakenkreuzlern im Gebiet der Mühlviertler Grenzgemeinde Kollerschlag nach Österreich vor und griff einen Gendarmerieposten an. Der Überfall mißlang, bei dem Scharmützel fielen zwei Hitler-Anhänger und ein österreichischer Revierinspektor. Wenig später schickten die Grenzbeamten eine Liste mit 17 Namen verdächtiger Legionäre an die Staatsanwaltschaft - darunter auch Robert Haider, Vermerk: "unbescholten".
Während der Jahre der Unterwanderung des österreichischen "Systems" (so nannte der Nazi-Jargon das Wiener Regime) wurde das Warten in Bayern lang. Robert Haider leistete einen zweijährigen Militärdienst, trat formell der NSDAP bei (Mitgliedsnummer 4.480.849) und arbeitete anschließend bei Agfa in München. Nach der "Heimkehr" seiner Heimat in das Reich tauchte er im März 1938 als Rädchen der braunen Machtmaschine in Linz auf. Er war "Gaujugendwalter" der "Deutschen Arbeitsfront", also ein unbedeutender Funktionär der Einheitsgewerkschaft. Schon zwei Jahre später ist der "Jugendwalter" entbehrlich und folgt seiner Jugend in den Schützengraben. Mehrfach an West- und Ostfront verwundet und mit Eisernen Kreuzen ausgezeichnet, wird er in den letzten Kriegsjahren noch zum Leutnant befördert.
Vielleicht verständlich, daß sein Sohn Jörg später bei Veteranentreffen und bei jeder sich bietenden Gelegenheit die heldenhafte Aufopferung der "Weltkriegsgeneration" rühmt, die Europa verteidigt habe, und alle Bestrebungen geißelt, "wo plötzlich den jungen Menschen eingeredet werden soll, daß ihre Großeltern und Eltern nicht tapfere und anständige Soldaten, sondern Verbrecher gewesen sind" (Haider bei einer Sonnwendfeier im Juni 1995). Wie seinen Eltern so ist es auch dem gewandten Selbstdarsteller nie gelungen, den Schatten der Vergangenheit abzuschütteln.
In Linz hatte Robert Haider die "Bannmädchenführerin" Dorothea Rupp kennengelernt. Noch kurz vor dem Zusammenbruch seiner Welt, im Februar 1945, heiratete das Paar; im gleichen Jahr wurde die Tochter Ursula geboren. Selbst gemessen an den Untergangswirren, war dies eine außergewöhnliche Verbindung: der Schustergeselle und die Großbürgertochter. Ihr 1936 verstorbener Vater Karl Rupp war ein weitgereister Gynäkologe, Schiffsarzt und Alter Herr der Burschenschaft Arminia. Nach dem unrühmlichen Ende des Regimes, dem sie bis zuletzt gedient hatten, hielt die jungen Eheleute nichts mehr in der Industriestadt Linz. Sie wurden von der Besatzungsmacht als "minderbelastet" eingestuft und kehrten nach Bad Goisern zurück. Dort lebten sie beengt, man mußte sich das bescheidene Familienanwesen am Ortsausgang zu Losern mit Robert Haiders Halbschwester teilen.
Im Salzkammergut wollte das Dritte Reich seine letzte Alpenfestung errichten. Daraus wurde nichts, doch allerlei lichtscheues Gesindel zog damals durch die malerische Landschaft. In einem Arbeitslager im nahen Ebensee, einer Außenstelle des Konzentrationslagers Mauthausen, hatten die Wachmannschaften bis zum letzten Tag Zehntausende von Arbeitssklaven angetrieben, in eine Bergflanke ein tiefes Tunnelsystem für eine Raketenversuchsanlage zu brechen. Als die SS abzog, hinterließ sie einen Leichenberg. Die amerikanischen Befreier karrten nun aus der ganzen Umgebung die "Ehemaligen" heran, kleine Nazi-Funktionäre und Parteimitglieder, damit die Menschenkadaver zumindest beerdigt werden konnten. Auch Robert Haider hob in diesen Tagen Massengräber aus.
Die Aktion war auch als Demütigung gedacht. Sie blieb im Gedächtnis haften. Auch Mutter Dorothea wurde gezwungen, in einem ehemaligen Kinderheim der Volkswohlfahrt Putzarbeiten zu verrichten. Ältere Bewohner von Bad Goisern können sich noch dunkel daran erinnern, daß es in den ersten Nachkriegsjahren eine verstohlene Kluft in der Ortschaft gab. Vielleicht auch nur, weil sich die Unbeteiligten und Mitläufer abheben wollten, umgab die "Minderbelasteten" eine kaum merkliche Ächtung. Als Jörg Haider 1950 geboren wurde, war der erste Schock der Niederlage längst vergessen. Allerdings zögerte der katholische Pfarrer kurz, als er den Knaben taufen sollte; waren die Eltern doch nach brauner Sitte zwar "gottgläubig", aber konfessionslos.
Vater Haider hatte mittlerweile ein neues politisches Betätigungsfeld gefunden. Im Jahr 1948 erhielten in Österreich die früheren NSDAP-Mitglieder wieder ihr Wahlrecht zurück, und während die beiden Großparteien mit verschiedenen Zugeständnissen noch um die Stimmen der "Ehemaligen" buhlten, wurde in der amerikanischen Besatzungszone mit dem "Verband der Unabhängigen" das alte deutschnationale Lager wiederbelebt. Die Gründungsgeschichte dieser Partei ist einigermaßen verworren, die Beteiligung des amerikanischen Geheimdienstes CIC weitgehend ungeklärt. Vater Haider jedenfalls war ein Mann der ersten Stunden. Nach einer rechten Kurskorrektur benannte sich der kleine Wahlverband in FPÖ um, und Robert Haider bezog im rund eine Zugstunde entfernten Gmunden das Büro des Bezirksparteisekretärs.
Der Vater war viel unterwegs, die Erziehung der Kinder fiel auf die Mutter, die gleichzeitig an der Hauptschule unterrichtete. Sie war eine resolute Persönlichkeit, die auf ihren Sohn sanften Druck ausübte, damit er vorankam - so meinen zumindest dessen Jugendgefährten. Sie legte großen Wert auf Zucht und Ordnung, auf Sauberkeit, gute Manieren und darauf, daß ihr Sohn seine Schulaufgaben anständig gemacht hatte, bevor er sich mit Gleichaltrigen in den Wäldern verlor. "Die Mutti war die Strenge, der Vati der Gute", plauderte Jörg Haider einmal aus seiner Kindheit.
Wenn die übrigen Buben die Umgebung nach altem Wehrmachtsschrott abgrasten, fehlte der Jörg zumeist. "Das hätte die Frau Haider niemals zugelassen", erinnert sich einer der Sammler von damals. Auch wenn sie wie die Indianer durch das Unterholz pirschten, erzählt einer der früheren Häuptlinge, war der Jörg anderweitig beschäftigt. Er hatte eine kleine Kinderarmee rekrutiert, und die Jungs spielten Weltkrieg; für besondere Tapferkeit gab es Orden, die aus dem runden Staniolverschluß von Milchflaschen bestanden.
Das Gymnasium in Bad Ischl hatte einen denkbar schlechten Ruf. Wer dort scheiterte, so hieß es, für den blieb nur noch ein einziger Weg in Österreich offen - in eine höhere Schule nach Bad Aussee. Der Schulgründer war ein konservativer Katholik, der Administrator ein Burschenschafter und ehemaliger Nationalsozialist. Haiders Klassenlehrer war früher ein Mitglied der NSDAP gewesen, der bei der FPÖ untergekommen war. Die Deutschlehrerin, die ihrem Liebling Jörg bei Theateraufführungen immer die Hauptrolle zukommen ließ (den Berufswunsch Schauspieler mußte ihm die Mutter anschließend wieder ausreden), hatte beim BDM und bei den NS-Studentinnen Karriere gemacht. Kurzfristig unterwies auch ein Bruder der Mutter den jungen Haider in Geschichte: ebenfalls Burschenschafter, ebenfalls nationalsozialistischer Parteigänger.
Jeden Morgen bestieg eine kleine Gruppe aus Bad Goisern den Lokalzug der Salzkammergutbahn und ratterte zum Unterricht. Die Fahrschüler aus den dörflichen Gemeinden fühlten sich den Bürgerkindern aus der Kurstadt immer ein wenig unterlegen. "Der Jörg hatte den brennenden Ehrgeiz, aus seinem engen sozialen Milieu auszubrechen", sagt ein ehemaliger Klassenkamerad, der mit ihm gemeinsam das Abitur ablegte. "Er wollte um jeden Preis den Armeleutegeruch loswerden, der uns damals anhaftete." Die besseren Ischler Kreise, die Arztkinder und Anwaltssöhne, waren zumeist Mitglied beim Turnerbund und bei der Albia. Es dauerte nicht lange, bis sich Jörg Haider in diese hermetischen Zirkel eingereiht hatte. Die alten Freunde bekamen ihn jetzt kaum noch zu sehen.
Turnerbund und Albia waren nur oberflächlich harmlose Organisationen. Beide waren stramm deutschnational und balancierten häufig an der Grenze zur Wiederbetätigung. In ihrem Kalender markierten germanische Feste die Höhepunkte des Jahres. Bei Julfeiern (heidnischer Ersatz für Weihnachten) und Sonnwendfeuern pflegten sie altes Brauchtum. Bei den Turnern übte der in Jugendjahren etwas übergewichtige Jörg Haider nicht nur an Barren und Reck, sondern auch seine geschliffene Rede. Schon mit 16 Jahren trumpfte er bei einem bundesweiten Vortragswettbewerb auf. Das obligate Thema: "Sind wir Österreicher Deutsche?" Die Standardantwort: Was sonst! Der Sieg war ihm sicher.
In der Albia hatte sich Haider zusätzlich in einem makabren Mannbarkeitsritual zu bewähren, das in diesen Jahren der heraufdämmernden Kulturrevolten schon ziemlich anachronistisch angemutet haben muß: Die jungen Teutonen schlugen "Mensur". Pennäler fechten noch nach der vergleichsweise harmlosen Variante "deutsch-mittel": Die Kontrahenten tragen Brustpanzer und einen Kopfschutz, Stierkopf genannt, und dreschen mit stumpfen Klingen aufeinander los. Ihr Ziel ist es, sich gegenseitig Platzwunden am nackten Bauch zuzufügen. Das ist kein Duell im herkömmlichen Sinn, sondern es geht um Ehre, Schweiß und Blut. Es gibt keinen Sieg außer den über sich selbst: Nur die Memme, die zurückweicht, hat sich mit Schande besudelt.
Auf universitärem Boden wird der Waffengang blutiger. Bei "deutsch-hoch" sind die Säbelklingen geschliffen, und die Schläger zielen auf das Gesicht. Bis zu vierzig Gänge zu je vier Hieben werden ausgetragen, rund zwei Stunden dauert das klirrende Ritual. Die Atmosphäre auf dem Paukboden ist feucht und angespannt, Ärzte stehen bereit, um die Schmisse zu vernähen - natürlich ohne Anästhesie. Der Jurastudent Jörg Haider, nunmehr Mitglied der Sylvania und ehrgeizig wie stets, stand im Ruf, ein blendender und besonders aggressiver Fechter zu sein. Bei einem dieser Ehrenhändel spaltete er seinem Gegner, dem späteren FPÖ-Generalsekretär Norbert Gugerbauer, sogar das Ohr.
Auf der Hochschule zeigte Haider hingegen ein ganz anderes Gesicht. Im Gegensatz zu den meisten Provinzlern, die es in die Metropole verschlagen hatte, schien der junge Pfiffikus keinerlei Anpassungsschwierigkeiten zu kennen. Er war schlagfertig, sofort mitten im Geschehen. Bei der FPÖ-Jugend stand er binnen kürzester Frist an der Spitze. Auch dem Staatsrechtler Günther Winkler, einem entfernten Verwandten, stach der smarte Aufsteiger schon nach wenigen Vorlesungen ins Auge: "Er hat mich immer zur Rede gestellt." Der angesehene Jurist fühlte sich ihm bald väterlich verbunden, später war er Trauzeuge und Taufpate der jüngsten Haider-Tochter. Er hielt seinen Lieblingsstudenten für "eine Baßgeige, die mit ganz großem Resonanzkörper spielt", und holte diesen "substantiellen und bildungshungrigen Menschen" alsbald als Assistenten an sein Institut.
Eine merkwürdige Bewunderung, fast schon verliebte Schwärmerei verbindet den Professor noch heute mit seinem Adlatus. "Vielleicht hat er etwas von dem Revoluzzertum, das in mir steckt", sinniert Winkler. Als sich Haider nach wenigen Jahren endgültig entschied, in die Politik überzuwechseln, war sein Mentor enttäuscht: "Er ist doch ein Aufgabengläubiger gewesen, ein Mensch mit Sendungsbewußtsein, und ein bißchen von seinem Idealismus hat er nun eingebüßt." Dennoch hütet der Professor sein privates Haider-Archiv: Er behauptet, jeden Bericht über den berühmten Seelenfreund in die Ordner einzukleben.
Auf der Wiener Universität gab es in Haiders Assistentenzeit mitunter auch turbulente Konfrontationen. Anläßlich eines Vortrags, den der mehr als umstrittene freiheitliche Erbgesundheitspfleger Otto Scrinzi zur Slowenenfrage halten wollte, die damals das ganze Land erhitzte, prügelten nationale und linke Studenten wild aufeinander ein. Der freiheitliche Jugendführer Jörg Haider fehlte allerdings bei dieser aufsehenerregenden Saalschlacht. "Er war ja nie so einfaches Mitläufervolk", meint Winkler, der sich damals zwischen die wütenden Kämpfer warf. Tags darauf erschien ein gutgelaunter Haider im Institut und meinte verächtlich: "Diese alten Nazi-Trotteln, über die wird die Geschichte hinweggehen."
"Er war damals ein Suchender", erinnert sich Peter Kostelka, heute sozialdemokratischer Fraktionsführer im Wiener Parlament, der zwei Jahre lang mit Haider ein Assistentenbüro teilte. Angeblich irrten alle irgendwo links von der Mitte herum. Denn abseits aller Parteibindungen fühlte man sich "einer größeren Familie" zugehörig, "die eine Öffnung des Landes mittragen wollte". Seitdem die Sozialdemokraten an die Regierung gelangt waren, wehte tatsächlich ein frischerer Wind durch die verzopften Institutionen in Österreich. Sogar der rote Sonnenkanzler Bruno Kreisky habe damals das Gespräch mit dem jungen Liberalen gesucht, aber dieser Vollblutpolitiker war in seinem Umgang selten sonderlich wählerisch. Haider war dem Charme des alten Fuchses sofort erlegen. "Warum sind wir eigentlich nicht beim Kreisky?" fragte er nach einer der Audienzen auf der Ledercouch am Ballhausplatz seinen Freund Karl Sevelda, mit dem gemeinsam er gerade den "Ring Freiheitlicher Jugend" aufmischte. Haider habe sich in seinen Wiener Lehrjahren "Schritt für Schritt" von seinem nationalsozialistischen Elternhaus emanzipiert, glaubt Kostelka. Jedenfalls habe er seine Zeit bei der Burschenschaft nur noch "als Jugendtorheit" angesehen: "Das war sicherlich kein Thema mehr für ihn."
Das kann nicht ganz stimmen. 1973 vereinigte sich die Sylvania mit einigen anderen Verbindungen zu der Korporation Südmark. Verglichen mit ihrer Nachfolgeorganisation, sei der Stammklub ein gemütlicher Försterverein gewesen, erzählt Helmut Peter: "Dort herrschte dann aber ein rabiater Antisemitismus, das waren richtiggehende Extremisten." Er schrieb einen "bitterbösen Brief" und trat aus. Jörg Haider hingegen blieb bei dem Kameradschaftsbund.
Vielleicht hatte der Januskopf zu diesem Zeitpunkt bereits verinnerlicht, was später zu seinem Markenzeichen werden sollte: Ein Chamäleon geht auf Reisen. Wenn der Jugendfunktionär damals über Land fuhr, dann packte er regelmäßig mehrere Garderobevariationen in seinen Mini und schlüpfte vor jeder Veranstaltung im Straßengraben in das jeweils passende Kostüm: Trachtenjanker für die Dorfwirtshäuser, Jeans für die Disko, Anzug und Schlips für das liberale Seminar. Kleider machen Gesinnung.
Die Freunde von einst sind alle längst auf Distanz gegangen. Karl Sevelda etwa, heute Banker, fühlte sich bald nur noch benutzt; nunmehr ist er Finanzreferent des Liberalen Forums, das sich von der Haider-Bewegung abgespalten hatte. Peter Kostelka erhielt noch einige Zeit von Haiders Frau Claudia "Julbriefe, in denen sie mir Jörgls Triumphe im BDM-Ton schilderte", und ist heute ein erbitterter politischer Widersacher. Den Schauspieler Michael Rastl, einen alten Albia-Recken aus den Bad Ischler Jahren, erfaßt unkontrollierter Zorn, wird er auf seinen Jugendfreund angesprochen. Am schwersten fiel Helmut Peter die Trennung, und er wartete lang, bis auch er sich dem Liberalen Forum anschloß und seinen Abschied formulierte: "Du bist einer der bekanntesten und mächtigsten Menschen in Österreich geworden, aber gleichzeitig einer der einsamsten." Gewiß, Haider mag darüber nur gegrinst haben, doch Peter, der Besitzer des vielbesungenen "Weissen Rössl am Wolfgangsee", hat eine Menge Gedankenarbeit nachgeholt, private Bilanz gezogen, und die Abrechnung fiel nicht immer schmeichelhaft aus. Sich aus solch einer "gemeinsamen Gedankenwelt" zu lösen, sagt er, sei kein leichtes Unterfangen. Er weiß, daß er nun in den alten Zirkeln als Verräter gilt. Jörg Haider versuchte den Abtrünnigen zu treffen, indem er ihm nach dem Bruch öffentlich vorwarf, seinerzeit nicht einmal mannhaft gefochten zu haben. Eine codierte Schmähung, deren Tragweite wahrscheinlich nur Insider zu erfassen vermögen.
In vielen scheinbar aus dem Ärmel geschüttelten Redewendungen des Volkstribunen wittert Peter noch immer den alten Geist. Wenn Haider etwa in einem skandalumwitterten Zwischenruf der Regierung empfahl, sich an "der ordentlichen Beschäftigungspolitik im Dritten Reich" ein Beispiel zu nehmen, so gemahnt das fatal an die Argumente, mit denen die Hakenkreuzler in den dreißiger Jahren in Bad Goisern warben: Hier stünden die Arbeiter auf der Straße, im Reich hingegen baue der Führer die Autobahnen und schaffe Arbeit und Brot. Natürlich befleißigte sich auch Haider exakt dieser, notabene: verdrehten, Beweiskette, um seine Bemerkung zu rechtfertigen.
Wenn Haider nun auf den Marktplätzen im ganzen Land die "linken Pfifferlinge" beschimpft, wenn er von "Parasiten" spricht und seine Bewegung als "Schädlingsbekämpfungsmittel" bezeichnet, führt der Weg zurück auf die Postalm hinauf, wo "wir die Linken als Abschaum der Welt betrachtet haben", urteilt Helmut Peter. Oder wenn Jörg Haider im Wiener Parlament "Straflager" sagt und Konzentrationslager meint, so sei dies "ganz genau der Burschenschafter-Jargon".
Mutter Haider gab einmal zu Protokoll: "Wir haben geglaubt, daß in Mauthausen Kriminelle sind." Ist schon gut, Mama. Wie kommt es, daß seine Jugendfreunde mutmaßen, Haider sei schon immer ein "Muttersöhnchen" gewesen?
Von Joachim Riedl
Joachim Riedl ist Redakteur der "Süddeutschen Zeitung"
"profil" Nr. 52/1995 vom 23.12.1995