Der letzte Kaiser

Karl I wird heuer seelig gesprochen

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Noch keine siebzig Jahre alt, konnte die Frau nicht mehr gehen und war bettlägerig. Aussicht auf Heilung schien es nicht zu geben. Bis zu einem Abend Ende Dezember 1960, als Maria Zita Gradowska, Nonne bei der „Gesellschaft der Töchter der Liebe des heiligen Vinzenz von Paul“, auf den Rat einer Mitschwester hörte. „Bete zum Diener Gottes Karl“, hatte ihr diese schon mehrfach empfohlen. Als die Schmerzen besonders heftig wurden, richtete Schwester Zita tatsächlich ein kurzes Gebet an Karl und stellte ihm für die kommenden Tage weitere Fürbitten in Aussicht. Am nächsten Morgen erwachte die Frau zum ersten Mal seit vielen Jahren völlig schmerzfrei. Die Krampfadern waren verschwunden, sie konnte wieder gehen. Zufall? Glück? Eine übertriebene Darstellung der Patientin? Oder vielleicht gar eine Lüge? Nichts von alledem, befand der Vatikan, der die Spontanheilung der brasilianischen Nonne am 20. Dezember 2003 als Wunder anerkannte. Gutgeschrieben wird die wundersame Tat dem im Gebet angerufenen Diener Gottes Karl – in Österreich besser bekannt als Kaiser Karl I. Der letzte Habsburger-Regent soll noch in diesem Jahr, wahrscheinlich im Herbst, selig gesprochen werden. Der himmlische Karrieresprung ist der krönende Abschluss einer frommen Fama, die bereits begonnen hat, als Karl noch ein Kind war. 1895, der kleine Habsburger war damals acht Jahre alt, prophezeite Schwester Maria Vinzentia, eine angeblich stigmatisierte Ursuline aus Ödenburg, dass Karl später Kaiser werden würde und ein „besonderer Angriffspunkt der Hölle“ sein werde. „Er wird viel leiden müssen“, warnte die Nonne, „man muss viel für ihn beten.“

Fromme Legenden.
Diesem Wunsch wurde eifrigst entsprochen. Die Betzirkel überdauerten alle Umwälzungen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Ungeachtet der Faktenlage entspann sich rund um Österreichs letzten Herrscher eine Legende, die ihn zur frommen Lichtgestalt und zum untadeligen Friedenskaiser stilisierte. Treibende Kraft hinter der bevorstehenden Seligsprechung ist die „Kaiser-Karl-Gebetsliga für den Völkerfrieden“ – ein Sammelbecken für Monarchisten und katholische Traditionalisten. Der Verein wurde 1925 gegründet, aktueller Präsident ist der St. Pöltener Bischof Kurt Krenn. Nebenbei gelang es den Karl-Verehrern auch noch, ihr plüschiges Bild des Kaisers beinahe in den Rang der Geschichtsschreibung zu heben. Zahlreiche Biografen Karls waren und sind der Bewegung engstens verbunden oder sogar Mitglieder. Ausgewogenes Material über den Kurzzeitmonarchen ist daher rar. Für die Kirche ist der Fall klar: Karl sei ein „vorbildlicher Christ, Ehemann, Familienvater und Herrscher gewesen“, befand Kardinal Jose Saraiva Martin, Präfekt der Heiligsprechungskongregation im Vatikan. Auch der Wiener Erzbischof Kardinal Christoph Schönborn hat sich auf die Seite der Karlisten geschlagen: Das vom Kaiser posthum bewirkte Wunder sei „eine Unterschrift vom Himmel.“ Manfried Rauchensteiner, österreichischer Historiker und Chronist des Ersten Weltkrieges, findet dagegen „nichts Heroisches an Karls Leben. Dass er ein tiefreligiöser Mensch war, ist klar. Aber oft ging er in die Kirche, anstatt Entscheidungen zu treffen.“ Rauchensteiners Kollegin Brigitte Hamann urteilt noch härter: „Karl war ein schwacher, unsicherer junger Mann, der von seiner Umgebung abhängig war.“ Bis zu seinem 27. Lebensjahr führte Karl das angenehme Leben eines Adeligen, auf dem nicht allzu viel Verantwortung lastete. Der junge Mann lebte abwechselnd in den niederösterreichischen Schlössern Persenbeug und Reichenau und machte der Verwandtschaft mit der Wahl seiner Ehefrau viel Freude: Die Auserwählte war Prinzessin Zita von Bourbon-Parma, süße 19 und ein Ausbund an katholischer Sittenstrenge. „Jetzt müssen wir uns gemeinsam in den Himmel helfen“, soll Karl bei der Verlobung zu Zita gesagt haben. Die Hochzeitsreise führte nach Mariazell, ein Jahr nach der Heirat wurde der erste Sohn, Otto, geboren – heute 91 Jahre alt und das Oberhaupt der Familie.
Insgesamt schickte sich das junge Paar an, eine gänzlich andere Ehe zu führen als Karls Eltern. Sein Vater Otto, Beiname: der Schöne, galt in der Wiener Gesellschaft als Hallodri mit Hang zu schweren Eskapaden. Berühmt wurde sein Auftritt im Hotel Sacher, als er nackt – nur mit dem Orden vom Goldenen Vließ und einem Säbel herausgeputzt – die Hotelgäste erschreckte. Ein andermal brach er nächtens mit einigen Saufkumpanen in das Schlafzimmer seiner Gemahlin ein, um ihnen, wie er sich ausdrückte, „eine Nonne“ zu zeigen.

Gelernter Krieger.
Nach dem Attentat auf Thronfolger Franz Ferdinand und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 rückte Karl schlagartig ins Zentrum dynastischer Aufmerksamkeit. Der Erzherzog wurde an die Ostfront geschickt, um dort das Kriegshandwerk zu erlernen. Für einen politischen Schnellkurs reichte die Zeit nicht mehr. Zwei Jahre später starb Franz Joseph, und Karl wurde Kaiser. Selbst kritische Historiker räumen ein, dass der 29-Jährige den Thron in einer nahezu aussichtslosen Situation bestiegen hat. Unbestritten ist auch, dass Karl den von seinem Großonkel Franz Joseph angezettelten Krieg nie gewollt und recht früh dessen Aussichtslosigkeit erkannt hat. Dennoch brachte seine Armee bei der zwölften Isonzo-Schlacht am 24. Oktober 1917 Giftgas zum Einsatz. Der damit erreichte Durchbruch nach Süden wurde zum „Wunder von Karfreit“ hochstilisiert. Viele Zeitgenossen beschreiben Karl als wankelmütigen Geist, der mehr auf die Ideen seiner Frau und seiner Beichtväter als auf politischen Sachverstand setzte. Josef Redlich, Finanzminister im kaiserlichen Kabinett, schreibt in seinem Tagebuch, dass der Kaiser zwar kein falscher Charakter sei, wohl aber „sehr leicht umzustimmen“. Die Kaiserin beherrsche ihn vollkommen. Der spätere Staatskanzler Karl Renner notierte nach einer Audienz entsetzt: „Nun regiert uns (…) ein schwaches Kind (…), dem kein Bauer seinen Hof anvertrauen würde!“ Als der Krieg schon so gut wie verloren war, büßte Karl auch noch den letzten Rest an Glaubwürdigkeit vor der Weltöffentlichkeit und seinem Bündnispartner Deutschland ein. 1917 hatte er über seinen Schwager Sixtus von Bourbon-Parma den Kriegsgegnern ein geheimes Friedensangebot unterbreitet: Verfasser der als „Sixtus-Briefe“ in die Geschichte eingegangenen Offensive war Zitas Beichtvater Alois Musil. Die Deutschen wurden nicht informiert. Im Frühjahr 1918 kam es zum diplomatischen Super-GAU, als Frankreich – provoziert vom österreichischen Außenminister Ottokar Czernin – die geheimen Briefe veröffentlichte. Karl leugnete erst seine Urheberschaft und stand schließlich als Lügner und Verräter da.
Am 11. November verzichtete der Kaiser auf „jeden Anteil an den Regierungsgeschäften“. Formell abdanken wollte er nicht – und schon gar nicht die Frau Gemahlin. Zita energisch: „Ein Herrscher kann niemals abdanken. Er kann abgesetzt und seine souveränen Rechte für erloschen erklärt werden. Aber abdanken – niemals, niemals, niemals!“ Noch auf der Fahrt ins Schweizer Exil widerrief Karl seinen mit Bleistift geschriebenen Rücktritt. „Das war der eigentliche Grund für die Enteignung der Familie Habsburg“, sagt Historiker Rauchensteiner. Obwohl Karl den Alliierten versprochen hatte, Ruhe zu geben, versuchte er noch zweimal, wenigstens in Ungarn wieder an die Macht zu kommen. Misslungen ist das aufgrund der stümperhaften Vorbereitung und des völlig fehlenden strategischen Geschicks, mit dem sich Karl wieder einmal blamierte. Seine Majestät hatte, mit Verlaub, ein ziemlich patschertes Leben. Als Schutzpatron der Pechvögel würde er sich vielleicht eignen. Aber als Seliger?

Wie Jesus.
Für die Kirche sind die Missgeschicke sogar ein Grund mehr, für Karl die Himmelsleiter aufzustellen. Reinhard Knittel, theologischer Intimus von Bischof Krenn und einige Jahre lang mit der Vertretung der Causa in Rom betraut, vergleicht ihn gar mit dem Heiland: „Karls ganze Tugendfülle wird erst am Lebensende sichtbar. Sein Scheitern hat ihn als Mensch ganz nahe an das Kreuz Jesu gebracht.“ Der katholische Opfermythos allein hätte nicht einmal im Vatikan gereicht. Ohne potente irdische Fürsprecher wäre der letzte Habsburger bestenfalls als tragische Figur in die Geschichte eingegangen. Den Status der Seligkeit hätte er mit Sicherheit nicht erreicht – denn der muss in Rom hart erarbeitet werden. Am emsigsten gerackert hat ohne Zweifel Johannes Parsch, 68 Jahre alt und pensionierter Beamter. Seit seiner Schulzeit am Wiener Schottengymnasium engagiert er sich in der Kaiser-Karl-Gebetsliga, 1994 wurde er deren geschäftsführender Präsident. Parsch wohnt in einer bescheidenen Wohnung im 15. Wiener Gemeindebezirk, er sammelt Briefbeschwerer, Keramiktiere und Bonsais und hütet in seinem Keller die Ergebnisse von fünf Jahrzehnten Kaiser-Recherche. Eigentlich hat Parsch selbst einen anderen Lieblings-Heiligen. Aber die intensive Beschäftigung mit dem seligen Karl warf durchaus irdische Genüsse ab. „Einige aus dem Erzhaus sind in der gleichen Landsmannschaft wie ich, wir reden uns per du an“, berichtet er stolz, „natürlich sage ich Kaiserliche Hoheit und du.“ Folgerichtig hält Parsch die „monarchische Staatsform für die geeignete“.

Schwindender Elan.
Es ist ein Glück für Parsch, dass es jetzt endlich ernst wird mit der Seligsprechung. Sehr lange hätte der Elan des Vereins wohl nicht mehr gereicht; die Zahl der Liga-Mitglieder ist von über 30.000 in den sechziger Jahren auf 3200 gesunken. Auch die Jahresberichte seien früher deutlich dicker gewesen, entschuldigt sich Parsch. „Es fehlt das Geld.“Auf dem Wohnzimmertisch liegt die dreibändige Dokumentation von Kaiser Karls Wohltaten. Mit fast 3000 Seiten ist das Kompendium eindeutig aus dem Ruder gelaufen. „Das ist nicht sehr gut gelungen“, kritisiert Jan Mikrut, ehemaliger Leiter des Wiener Heiligsprechungsreferats, „wer will schon tausende Seiten lesen?“ Doch das war nicht der einzige Grund für die 55-jährige Prozessdauer. „Es gab auch die Frage nach der politischen Opportunität“, erklärt der Jesuit Peter Gumpel, der im Vatikan als einer von sechs Relatoren für die Vorbereitung von Kanonisierungen zuständig ist. „In den ersten Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch der Monarchie bestand im Vatikan die Befürchtung, dass eine Seligsprechung als Unterstützung der Monarchisten verstanden werden könnte.“ Bis 1983 waren außerdem zwei Wunder erforderlich, um zur „Ehre der Altäre“ erhoben zu werden – Karl schaffte bis jetzt aber nur eines. Gleich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks war die Lage wieder ungünstig. Die einstigen Kronländer hätten sich über das Avancement ihres vormaligen Herrschers aus Wien wohl kaum gefreut. Jetzt dagegen sei die Zeit einfach reif, findet Johannes Parsch von der Gebetsliga. „Die Entscheidung des Vatikans verschlägt einem die Rede“, sagt Pfarrer Rudolf Schermann, Gründer der kritischen Zeitschrift „Kirche In“, „aber mit Protesten wird man bei der jetzigen Kirchenführung trotzdem nichts erreichen.“ Offenbar steht der von Karl gelebte Katholizismus bei der Geistlichkeit wieder hoch im Kurs. Der Kaiser hatte, anders als sein pragmatischer Großonkel Franz Joseph, wieder stark auf das Gottesgnadentum gepocht und an seinem Hof eine selbst für die Habsburger anachronistische Art der Frömmigkeit zelebriert. Einer seiner engsten Berater etwa war der berüchtigte Jesuitenpater Heinrich Abel, der als besonders antisemitisch galt. Der Dramatiker Arthur Schnitzler schrieb im Sommer 1918 beunruhigt über eine Predigt Abels in Mariazell, wo dieser unter anderem erklärt hatte, dass „nur die Juden im Weltkrieg nicht ihre Pflicht getan haben“. Man müsse sie ausrotten, empfahl der Priester.
Über Karl selbst gibt es eine Reihe von frommen Anekdötchen, die seine bigotte Gesinnung unter Beweis stellen. So habe Kaiserliche Hoheit im Exil auf Madeira wegen seines ständigen Hustens auf die Kommunion verzichtet, weil er eine Entweihung der Hostie befürchtete. Während seiner Krankheit lag ständig ein Herz-Jesu-Bild unter dem Kopfkissen. Und sein letztes Wort im Todeskampf soll ein hingehauchtes „Jesus“ gewesen sein. In der Familie Karls herrscht Begeisterung über das bevorstehende Großereignis. Clanchef Otto Habsburg hält seinen Vater für einen „beispielgebenden Menschen“. Gerade die Berufsgruppe der Politiker brauche „dringend Orientierung“. Vinzenz Liechtenstein, Bundesrat und ein Enkel des Kaisers, gibt zu, dass er die Gebetsliga immer wieder mit Geldspenden unterstützt hat und über das Ergebnis hocherfreut ist: „Ich habe nicht damit gerechnet, aber jetzt bin ich sehr stolz.“ Liechtensteins Cousin Lorenz Habsburg-Lothringen war sogar am 20. Dezember bei der feierlichen Anerkennung von Karls Wunder mit dabei. „Es war eine sehr einfache und doch sehr würdige Zeremonie. Die Bischöfe und Kardinäle saßen in der Sala Clementina, wir dahinter, als der Papst auf einem Thron hereingerollt wurde.“ Die Seligsprechung Karls sei, so meint Lorenz Habsburg, „etwas sehr Schönes für Österreich“.

Diner im Palais.
Dieser Ansicht ist seit kurzem auch Kardinal Schönborn. Sein Amtsvorgänger Hans Hermann Groer hatte sich sehr für die Gebetsliga eingesetzt und galt als Anhänger der Monarchie. Schönborn ist selbst adeliger Herkunft, hatte sich bisher aber nicht öffentlich für die Seligsprechung stark gemacht. Am 30. September des Vorjahres lud er dann überraschend Gebetsliga-Chef Parsch sowie die Erzherzöge Lorenz und Rudolf zu einem Abendessen ins erzbischöfliche Palais. „Da hat er zum ersten Mal mit Begeisterung über Karl gesprochen“, erinnert sich Parsch. Seine Gebetsliga war mit ihren Gedenkgottesdiensten und Friedenswallfahrten wohl nicht die einzige Pressure Group im Vatikan. Viel spricht dafür, dass die weit verzweigte Familie der Habsburger auch etwas nachgeholfen hat. Der amerikanische Journalist Kenneth Woodward wies nach, dass in der Vergangenheit – etwa bei der Heiligsprechung des umstrittenen Opus-Dei-Gründers Josemaria Escriva – einflussreiche Organisationen Druck auf die vatikanischen Behörden ausgeübt haben. Papst Johannes Paul II. kommt solchen Einflüsterern nur zu gern entgegen: Seit seinem Amtsantritt werden Heiligenscheine en gros vergeben. Wenn Karl im kommenden Herbst selig gesprochen wird, könnte das auch Auswirkungen auf eine beliebte Wiener Sehenswürdigkeit haben. In der Kapuzinergruft ist neben Kaiserin Zitas Sarkophag noch ein Plätzchen frei, Karls Überreste ruhen seit 1922 in einer Kirche bei Funchal auf Madeira. Eine Überführung nach Wien mit anschließendem Staatsbegräbnis – wie 1989 für Zita – scheiterte bisher am Widerstand des portugiesischen Klerus; in Madeira wird Karl wie ein Schutzpatron verehrt. Johannes Parsch hätte eine typisch österreichische Lösung parat: „Man könnte eine Reliquienteilung vornehmen.“

Ein halber seliger Kaiser ist schließlich besser als gar keiner.