Finalschlacht um den Lissabon-Vertrag

Der Lissabon-Vertrag: Die letzten Auf- ständischen in der Auseinandersetzung

Die letzten Aufständischen in der Auseinandersetzung

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Jiri Oberfalzer hatte es in den langen Jahren seiner politischen Karriere nie zu einer Erwähnung in den internationalen Medien gebracht. Der 55 Jahre alte Senator der konservativen tschechischen ODS-Partei ist ein Mann von leisem Auftreten, Charisma wurde ihm nicht in die Wiege gelegt. Als Vorsitzender der ständigen Medienkommission des tschechischen Senats spricht der promovierte Mathematiker mit dem weißgrauen Vollbart im tschechischen Rundfunk gern über die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Zeiten der Digitalisierung. Kein Kandidat für Eilmeldungen der Nachrichtenagenturen also.

Doch am 29. September 2009 schickt sich Jiri Oberfalzer an, Geschichte zu schreiben. Um zwei Uhr Nachmittag setzt er sich ins Auto und fährt nach Brünn, um beim Sitz des tschechischen Verfassungsgerichtshofs persönlich eine Klagsschrift gegen den Lissabon-Vertrag abzugeben, die er gemeinsam mit 16 weiteren Mitgliedern des Senats verfasst hat. Oberfalzer übergibt zwei Konvolute mit 42 beziehungsweise 34 Seiten an das Gericht. Es ist bereits die zweite derartige Eingabe, die Oberfalzer macht – die erste wurde abgewiesen –, aber plötzlich ruhen die Hoffnungen aller Gegner des Lissabon-Vertrags auf Oberfalzer.

Internationale Nachrichtenagenturen melden, dass es nur noch ganz wenige Hindernisse gibt, ehe der Vertrag von Lissabon in Kraft treten kann, und ein Name taucht in all diesen Depeschen auf: Jiri Oberfalzer.

Europa befindet sich im Endspiel um den Vertrag von Lissabon – vormals: EU-Verfassung –, und die Nervosität ist groß. Seit dem Ja der Iren bei der Wiederholung des Referendums am 2. Oktober fehlen nur noch Polen und Tschechien, alle anderen EU-Mitglieder haben den Vertrag ratifiziert. Der polnische Präsident Lech Kaczynski wollte Berichten zufolge seine Signatur an diesem Wochenende leisten. Damit fehlte nur noch Tschechien, wo bereits beide Kammern des Parlaments für die Ratifizierung gestimmt haben. Und dennoch: Es gibt ein Szenario, das alle Hoffnungen der Befürworter dieses neuerlichen Integrationsschrittes der EU zunichte machen könnte.

Drehbuch. Das Szenario sieht so aus: Oberfalzers Klage gibt Vaclav Klaus, dem EU-skeptischen Präsidenten der Tschechischen Republik, die Gelegenheit, mit der Unterschrift unter die Ratifizierung des Vertrags zuzuwarten. Wie groß die Verzögerung ausfällt, hängt zunächst davon ab, wie viel Zeit das Gericht für sein Urteil benötigt. Tomas Langasek, Generalsekretär des tschechischen Verfassungsgerichtshofs in Brünn, erläuterte gegenüber profil den Umfang der Eingabe Oberfalzers: Die 15 Richter müssen prüfen, ob der Lissabon-Vertrag mit der tschechischen Verfassung in Einklang steht und ob die „Garantien“, die Irland gewährt wurden, einen weiteren internationalen Vertrag darstellen, der seinerseits von beiden Kammern des tschechischen Parlaments geprüft werden müsste. Die Prüfung der ersten Klage Oberfalzers dauerte sieben Monate. Ob die zweite Klage komplizierter sei als die erste? „Schwer zu sagen“, gibt sich Langasek bedeckt. Oberfalzer schätzt, das Urteil werde „in ein bis zwei Monaten“ ergehen.

Danach geht die Bürde der Verantwortung, den Lissabon-Vertrag zu stoppen, auf Vaclav Klaus über. Dieser scheint seinerseits bereits über Möglichkeiten des Zeitgewinns nachzudenken. Vergangene Woche sagte er dem schwedischen Ministerpräsidenten und EU-Ratsvorsitzenden Fredrik Reinfeldt, er bestehe darauf, dass die Grundrechts-Charta für sein Land modifiziert oder ausgesetzt werde. Reinfeldt roch den Braten natürlich und entgegnete, die Bedingung sei eine falsche Botschaft zur falschen Zeit.

Sollte Klaus dem Druck standhalten und seine Unterschrift bis Mai kommenden Jahres verweigern, würde ihm mit großer Wahrscheinlichkeit ein mächtiger Bündnispartner zu Hilfe kommen: David Cameron, Chef der britischen Konservativen und nach allen Prognosen der nächste Premierminister in 10, Downing Street, hat angekündigt, umgehend ein Referendum abzuhalten, wenn der Lissabon-Vertrag zu Beginn seiner Amtszeit noch nicht in Kraft getreten ist. Dieses Versprechen hat Cameron auch in einem Brief an Klaus erneuert.

Doch es scheint unwahrscheinlich, dass Klaus seinen Willen gegen das Prager Parlament und gegen den Willen der gesamten EU durchsetzt. Und so dürfte der Ratifizierungsprozess gelingen, wenn er auch so unwürdig zu Ende geht, wie er die ganze Zeit über geführt wurde: als Zitterpartie, in der Befürworter und Gegner ausschließlich taktisch agieren. Während die einen versuchen, die europäische Bevölkerung vom Entscheidungsprozess möglichst fernzuhalten, haben sich die anderen darauf verlegt, die Volksvertreter zu diskreditieren. Eine politische Debatte über den neuen europäischen Grundvertrag sieht anders aus.

Aber dafür ist es jetzt ohnehin zu spät. Es geht nur noch um die Frage, wie schnell die letzten Bastionen des Widerstands fallen und die letzten Aufständischen um Oberfalzer, Klaus und Kaczynski sich ergeben. Große Aufbruchstimmung wird der Lissabon-Vertrag vorerst wohl nicht entfalten, die einen sind erschöpft, die anderen verbittert.

Besonders sauer sind die Briten, und das könnte noch schlimme Folgen haben.

Blairs Comeback. Es begann damit, dass der damalige Premierminister Tony Blair dem Volk versprach, es werde über den EU-Verfassungsvertrag in einem Referendum abstimmen dürfen. Nachdem jedoch der Verfassungsvertrag durch den – weitgehend identen – Lissaboner Reformvertrag ersetzt wurde, entschied sich Blair trotz wütender Proteste der Opposition für eine Ratifizierung im Parlament. Tritt der Lissaboner Vertrag in Kraft, wird die EU einen neuen, für mindestens zweieinhalb Jahre regierenden Präsidenten bekommen. Aussichtsreicher Kandidat: Tony Blair. Der Londoner Bürgermeister Boris Johnson ätzt, er wolle keinen „großen Allmächtigen, der um den Globus gondelt und sich gebärdet, als würde er uns vertreten, obwohl wir nicht einmal gefragt wurden, ob wir Tony Blair wollen“.

Die Torys haben den Bürgern ebenfalls ein Referendum versprochen, doch wird sich nach ihrem wahrscheinlichen Wahlsieg im Frühling 2010 die Frage stellen: zu welchem Thema eigentlich? Ein Nein zum bereits gültigen Lissabon-Vertrag wäre folgenlos und würde die herrschende Frustration nur noch steigern. Gleichzeitig kann es sich Tory-Chef Cameron nicht leisten, das europapolitische Erbe der Labour-Regierung einfach zu akzeptieren. Die Hardliner in seiner Partei verlangen eine Volksabstimmung, komme, was wolle. Bürgermeister Johnson kann sich vorstellen, die Briten über die Institution des EU-Präsidenten abstimmen zu lassen – um Tony Blair zu desavouieren.

Möchte man ehrlich empfundene, britische EU-Skepsis erleben, empfiehlt sich ein Gespräch mit Roger Helmer, einem der Abgeordneten der Torys im Europaparlament. Er gibt zu, dass seine Partei noch keinen Plan gefasst habe, wie sie reagieren solle, falls der Lissabon-Vertrag bereits in Kraft sei, aber persönlich hat er schon eine Idee: „Wir sollten eine radikale Neuverhandlung mit Brüssel anstreben und die Zusammenarbeit zwischen der EU und Großbritannien auf ein Freihandelsabkommen beschränken.“ Am liebsten wäre Helmer ohnehin ein Austritt.

Hand abhacken. Die Feindseligkeit vieler Briten gegenüber der EU hat eine lange Geschichte. War es anfangs die Labour-Partei, die den Einfluss der EU auf die britische Politik fürchtete (das Vereinigte Königreich trat 1973 der Europäischen Gemeinschaft bei), so wandten sich ab den achtziger Jahren die Konservativen schrittweise von Europa ab. Dennoch waren sie es, die 1992 den Vertrag von Maastricht ratifizierten – ohne Referendum. Roger Helmer schaudert bei dem Gedanken: „Ich kenne einige Abgeordnete von damals, die sich gern eine Hand abhacken würden, wenn sie die damalige Entscheidung rückgängig machen könnten.“ Jedenfalls blieb das Referendum des Jahres 1975, in dem die Briten gefragt wurden, ob sie bei der Europäischen Gemeinschaft bleiben wollen, auf den britischen Inseln das bislang einzige zum Thema europäische Integration.

Haben die Briten ein spezielles Problem mit der EU? Ja. In den Augen vieler Angelsachsen krankt der Kontinent an einem übermäßigen Drang zur Regulierung, und die Europäische Kommission mit ihren „Eurokraten“ ist gemäß dieser Sichtweise einer der Seuchenherde. Deshalb wollen die Euroskeptiker die Entscheidungsgewalt in bereits vergemeinschafteten Politikbereichen wieder von Brüssel nach Westminster holen. Diese Form der EU-Skepsis deckt sich nicht mit der bei kontinentalen Rechtsparteien verbreiteten Spielart, deren Motivation Ausländerfeindlichkeit ist. Dennoch führte Cameron die Torys aus der Europäischen Volkspartei heraus und hinein in das Bündnis „Europäische Konservative und Reformisten“, dem teils zweifelhaft beleumundete Parteien wie etwa die rechtspopulistische polnische Gruppierung „Recht und Gerechtigkeit“ angehören.

Wird die Europäische Union Großbritannien als Mitglied verlieren, weil sie den Lissabon-Vertrag durchboxte? Kaum vorstellbar. David Cameron weiß, dass eine Neuverhandlung der Mitgliedschaft Großbritanniens ein enorm riskanter Prozess wäre, der viel Zeit und Energie kostet und am Ende einen erheblichen Machtverlust für London bedeuten könnte. Es ist nicht auszuschließen, dass er einen politischen Ausweg sucht und etwa das Volk über ein Gesetz abstimmen lässt, wonach bei zukünftigen EU-Verträgen Referenden verpflichtend seien.

Die Europäische Union wird im Match um den Lissabon-Vertrag als Sieger hervorgehen. Das dämmert David Cameron, Vaclav Klaus, Lech Kaczynski und allen anderen Gegnern wohl schon länger. Auch Jiri Oberfalzer macht sich keine Illusionen. „Gleich null“, antwortet er auf die profil-Frage, wie groß die Chance sei, dass sein Name in die Geschichtsbücher eingehen werde, weil er das Schicksal Europas veränderte. Vielleicht reicht es ja für eine Fußnote.

Mitarbeit: Otmar Lahodynsky, Valerie Prassl