Der Minister und das Mädchen

Kaum Spielraum im 'Fall Arigona'

Drucken

Schriftgröße

Es war einmal eine kosovarische, vom Krieg gezeichnete Familie, die es ins oberösterreichische Frankenburg verschlagen hatte. Vater, Mutter und vier Kinder – alle mit Nachnamen Zogaj – hofften hier zu finden, was man unter einem „besseren Leben“ versteht: Ruhe, eine Bleibe, Arbeit, für die Kinder eine gute Zukunft. Im Herbst des vergangenen Jahres wurden die Zogajs zum Symbol für alle, die mit ähnlichen Hoffnungen aus dem Kosovo aufgebrochen waren und – nach mehreren Jahren im Land – plötzlich vor ihrer Ausweisung standen.

Viele Familien in einer ähnlichen Lage waren schon abgeschoben worden. Plötzlich spießte es sich: Die Bevölkerung stellte sich hinter die Familie. Die Zogajs hatten sich eingelebt. Die Kleinsten sprachen besser Deutsch als Albanisch. Und gar nicht wenige Frankenburger fanden, die Zogajs gehörten zu ihnen. Der Innenminis­ter geriet unter Druck: Er lasse sich nicht erpressen. Ehe man es sich versah, war aus der politischen Auseinandersetzung ein personalisiertes Match geworden: der mächtige Mann gegen das hübsche Mädchen.

Innenminister Günther Platter hätte den Konflikt entschärfen können, hätte er der Familie, die vergeblich um Asyl angesucht hatte und nach Ende ihres Verfahrens in ihrer Ortschaft so verwurzelt war, dass sie nicht mehr wegwollte, ein humanitäres Aufenthaltsrecht gewährt. Doch der ÖVP-Politiker hatte sich jeden Spielraum geraubt. „Er ist mit beiden Beinen in den flüssigen Beton gesprungen und hat sich so lange nicht gerührt, bis er einzementiert war“, sagt der Wiener Politikwissenschafter Bernhard Perchinig. Jetzt sei es dafür zu spät. „Der Minister und das Mädchen“, dieses Bild habe sich in die Hirne der Österreicher gebrannt: „Wenn Platter jetzt nachgibt, hat die Tochter den Vater besiegt.“

Im profil-Interview pocht Platter darauf, die „Linie des Gesetzes“ zu vertreten: Ausnahmen dürfe es nicht geben. Wochenlang hatte ein von der ÖVP bestellter Mediator hinter den Kulissen um eine Lösung gerungen. Man hatte der kosovarischen Familie einiges angeboten, um Nurije Zogaj und ihre Tochter Arigona dazu zu bewegen, nach Schulschluss ohne jedes Aufsehen in den Kosovo zurückzugehen. Der Vater und drei Kinder waren im Vorjahr dorthin abgeschoben worden. Es sollte therapeutische Hilfe geben, Unterstützung bei der Arbeitssuche, eine Wohnung, vielleicht sogar ein bisschen Geld. Doch als der Mediator den Vater besuchte, um die Details zu besprechen, kam es zum Eklat: Der 42-jährige Devat Zogaj glaubte den Bemühungen nicht mehr. Vor zwei Wochen rief er seine Frau an, um ihr zu sagen, er habe die Nase voll. Dann brachte er die Kinder zu Verwandten und tauchte unter.

Bekannte der Familie sagen, Nurije Zogaj sei davor kaum noch belastbar gewesen. Die Nachricht ihres Mannes warf sie aus der Bahn. Am Pfingstsonntag schnitt sie sich die Pulsadern auf. Ihre Tochter Arigona kam nach Hause, fand die Tür versperrt, sah durch den Briefschlitz und rannte um Hilfe. Jetzt liegt die Mutter im Spital, wo sie ein zweites Mal versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Arigona schlüpfte bei Pfarrer Josef Friedl unter. Die Situation ist mehr als angespannt. Und einmal mehr wird die Causa Zogaj für Platter zur tickenden Bombe.

Sie ist gleichzeitig ein Symptom für die widersprüchliche Fremdenpolitik der ÖVP. Denn während Platter den Hard­liner mimt, fordernWirtschaftskammer, Industriellenvereinigung, Kirchen und ­Caritas seit Längerem ein gelockertes Einwanderungsregime. Brüche zeigen sich auf allen Ebenen. So legte Staatssekretärin Christine Marek ein Positionspapier vor, in dem die Staatsbürgerschaft als Endpunkt einer gelungenen Integration skizziert wird. Ihr Parteikollege Platter hingegen jubelt über die sinkende Zahl von Einbürgerungen. Perchinig: „Das ist, als würde ein Lehrer sich freuen, dass nur wenige seiner Schüler die Matura schaffen.“

Kurswechsel. Jahrzehntelang hatte die ÖVP darauf beharrt, dass Österreich kein Einwanderungsland sei. Die SPÖ sah zwar Gastarbeiter und Multikulti-Szenen, aber nirgends Probleme. Und den ÖGB-Vertretern konnten die Hürden für den Arbeitsmarkt gar nicht hoch genug sein. Integration schien kein Betätigungsfeld. Von diesem Versäumnis lebten die Freiheitlichen, die seit den achtziger Jahren Stimmung gegen Ausländer machten. In den vergangenen Jahren reagierten ÖVP und SPÖ darauf mit strengeren Gesetzen. Diese änderten allerdings an den realen Integrationsproblemen wenig – was auch weiterhin den Freiheitlichen in die Hände zu spielen scheint. Peter Ulram, Chef des Meinungsforschungsinstituts GfK: „Derzeit grast die FPÖ nicht nur bei der ÖVP, sondern verstärkt auch bei der SPÖ.“
Erst vor Kurzem änderte die ÖVP ihren Kurs und setzte das Thema auf die Agenda. Vergangenen Freitag berichtete Platter bei der ÖVP-Klausur über die von ihm ins Leben gerufene Integrationsplattform. Das Motto: „Integration fördern und gleichzeitig fordern.“ Doch er weiß auch, dass 70 Prozent der Bevölkerung mit dem Law-and-Order-Kurs durchaus zufrieden sind. Das sagen sämtliche Umfragen. Offen ist derzeit bloß, ob die Meinung kippt, sollten Anfang Juli in den Medien Bilder auftauchen, auf denen eine Arigona zu sehen ist, die von Fremdenpolizisten weggeführt wird. Ulram glaubt an Umschwünge nur in Einzelfällen: „An der grundsätzlichen Stimmung ändert sich nichts.“

Damit erklärt sich für den Meinungsforscher auch, warum Bundeskanzler Alfred Gusenbauer in den Medien mehrfach eine „neue Chance für die Kosovo-Albanerin Arigona“ forderte, sich aber auf der politischen Ebene zurückhielt. Ein Schreiben des oberösterreichischen Landeshauptmanns Josef Pühringer, mit dem dieser eine Petition für eine kosovarische Familie aus Vöcklabruck übermittelte, beantwortete der Regierungschef kühl: Er habe das Ansinnen an den Innenminister weitergereicht. Im Oktober des Vorjahres, am Höhepunkt der Zogaj-Krise, hatte Gusenbauer noch gezetert, er finde es „grauslich“, dass Familien auseinandergerissen würden. Ähnlich doppelgleisig verfahren die Landeshauptleute, die sich für Einzelfälle stark machen – wohl wissend, „dass für die Gesamtlinie der Bund verantwortlich ist“, sagt Ulram: „Das ist ein ‚Good cop, bad cop‘-Spiel. Hätten die Landeshauptleute – ob rot oder schwarz – die Entscheidungsgewalt, sähe es anders aus.“

Die Einzigen, die bisher einen Gesetzes­entwurf für ein Bleiberecht vorlegten, sind die Grünen. Dabei könne jederzeit ein neuer Fall Zogaj explodieren, warnen Experten. Der Asylgerichtshof, der Anfang Juli seine Arbeit aufnimmt, soll dafür sorgen, dass die Verfahren schneller abgewickelt werden. Doch was ist mit den Altfällen? Philipp Sonderegger, Sprecher von SOS-Mitmensch, schätzt die Zahl jener, die mehr als fünf Jahre lang im Land leben, integriert sind und sich nichts zuschulden kommen ließen, auf 5000 bis 10.000.
Jeder zweite Einwanderer lässt sich in Wien nieder. Härtefälle stehen an der Tagesordnung, berichtet Beatrix Hornschall, Leiterin der Magistratsabteilung 35. Die Fremdenpolizei gehe neuerdings vermehrt gegen Kinder vor und sperre selbst Krebspatienten ein, die eine Chemotherapie benötigen.

Hornschall hat ihre Mitarbeiter angewiesen, sich mit „jedem Schicksal zu befassen“. In den vergangenen zweieinhalb Jahren beantragte ihre Abteilung fast 1000-mal einen Aufenthalt aus humanitären Gründen: darunter für Opfer von Menschenhandel; Kranke, die in ihrer Heimat nicht versorgt würden; Familien, die in Österreich fest verwurzelt sind. Ihre Behörde kann den Aufenthaltstitel nur „anregen“. Gewährt wird er vom Innenministerium. In 51 Prozent der Wiener Fälle sagte das Ministerium Ja, 22 Prozent wurden abgelehnt, der Rest ist nicht entschieden. Wie sie ausgehen, sei nicht kalkulierbar, klagt Hornschall. Es geht zu wie im alten Rom: „Daumen rauf, Daumen runter.“

Alleingelassen. Wer nach ein, zwei Jahren zurückgeschickt wird, kann in der Heimat auf soziale Netzwerke zurückgreifen. Doch jene, deren Kinder hier aufgewachsen sind und im örtlichen Fußballverein kicken, die seit Jahren hier arbeiten und Steuern zahlen, finden kaum noch Anknüpfungspunkte. Der Staat habe ihnen gegenüber eine ethische Verantwortung, findet Perchinig – frei nach Saint-Exupéry, der den Fuchs zum Kleinen Prinzen sagen lässt: „Man trägt Verantwortung für das, was man sich vertraut gemacht hat.“ Doch Innenminister Platter ist gegen jede Art von Bleiberecht: „Das würde nur dazu führen, dass jeder die Verfahren so lange hinauszögert, bis er bleiben darf.“

Der Frankenburger Pfarrer und Arigona-Schutzherr Josef Friedl hat inzwischen alle Hoffnung in die Politik fahren lassen. Als die junge Kosovarin im Herbst des Vorjahres vor der Fremdenpolizei untertauchte und ihre Mutter in Österreich bleiben durfte, um die Tochter zu suchen, hatte ihn ein ÖVP-Pressesprecher angerufen und um Vermittlung gebeten: „Das habe ich gemacht, seither bin ich alleingelassen.“ Der Geistliche schickt den Zogajs im Kosovo Geld. Teils stammt es aus Spenden, teils aus seiner Privatschatulle. Man habe ihm geraten, um Sozialhilfe anzusuchen, dafür sei er zu stolz: „Ich erhalte sie lieber mit meinem Geld, da muss ich mir nachher nichts vorwerfen lassen.“

Mehrere Gutachten, eines davon wurde vom Innenministerium selbst erstellt, attes­tieren Mutter und Tochter Zogaj einen gefährlich labilen Zustand. „Inzwischen ist jedem außer dem Innenminister klar, dass sie Anfang Juli nicht abgeschoben werden können“, sagt Christian Schörkhuber, Chef der Volkshilfe Oberösterreich. Währenddessen lässt der Innenminister andere Kosovaren ungerührt abschieben: 74 waren es im Vorjahr, dazu kommen Einzelabschiebungen in etwa der gleichen Größenordnung – sowie freiwillige Rückkehrer. Geht es nach dem Innenminister, könnten es viel mehr sein; schließlich würden die Menschen in ihrer Heimat beim Wiederaufbau gebraucht. Das Argument ist nicht von der Hand zu weisen. Die Europäische Union investiert Unsummen in den Kosovo. Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt bei 52 Prozent. 17 Prozent der Familien leben in extremer Armut – sie verfügen gerade einmal über 0,78 Euro pro Kopf und Tag. Doch laut Andreas Pichler, Verbindungsbeamter des Innenministeriums in Pristina, gehe es bergauf: „Es wird hier viel gebaut; man kann sich zumindest mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten.“

Repatriierungen bleiben den­noch ein zweischneidiges Schwert: Die Überweisungen der Kosovaren im Ausland halten die im Februar für unabhängig erklärte, faktisch von der UNO verwaltete Balkan-Republik buchstäblich am Leben. Jedes Jahr schicken Gastarbeiter 500 Millionen Euro nach Hause, sagt Safet Gerxhaliu von der Kosovarischen Handelskammer in Pristina. Das entspricht etwa einem Fünftel des Bruttoinlands­produkts (BIP). „Ohne die Dia­spora gäbe es längst eine soziale Explosion.“ Ein paar Euro davon kommen aus Ampflwang. Dort wohnen Herr und Frau Pantina. Seit sechs Jahren warten sie auf den Bescheid vom Asylamt. Ständig löchern ihn die Kinder: „Papa, ist der Brief da?“ Pantina schickt Geld an seine 72-jährige Mutter, die bei seinem Bruder wohnt – „sonst kämen sie nicht über die Runden“.

Einmal im Monat hebt in Wien-Schwechat eine Chartermaschine Richtung Pristina ab. Vergangenen Dienstag erst wurden zehn Kosovaren ausgeflogen. Fünf Passagiere waren in letzter Minute ihrer Abschiebung entgangen. Unter ihnen die in Linz lebende Familie Haska-Zllonga, bei der die Fremdenpolizei vergangenen Montag an­klopfte. Zwei Uniformierte erklärten der Familie, sie seien verhaftet. Als Sabine Haska sagte, sie wolle einen zweiten Asylantrag stellen, zogen die Beamten wieder ab. Es ist ein Aufschub. „Ich weiß nicht, was aus uns wird“, sagt die Frau.

Die Familie gehört zur „Plattform Bürgerinitiativen Oberösterreich“. Das ist ihr Glück. Sonst hätte man sie vergangenen Dienstag am Flughafen in Pristina entladen. Die Plattform, die sich für sie eingesetzt hat, besteht aus Lehrern, Pfarrgemeinderäten und Nachbarn von inzwischen 75 integrierten Migrantenfamilien. Gertraud Jahn ist SPÖ-Landtagsabgeordnete und Sprecherin der Initiative. Bisher sei keine „ihrer Familien“ abgeschoben worden, sagt sie. „Aber alle leben in der Angst, dass es sie morgen erwischen könnte.“ In Oberösterreich habe die Plattform Rückendeckung durch die Landespolitik. Allzu sehr verlassen könne man sich darauf nicht, sagt Jahn: „Der Landeshauptmann bemüht sich im Einzelfall, ist aber bestrebt, nicht generell ausländerfreundlich zu sein.“ Zum Fall Zogaj will Jahn nichts sagen: „Da bleibt nur mehr die Hoffnung auf eine menschliche Lösung abseits der Öffentlichkeit.“ Politikwissenschafter Perchinig hätte eine Idee: „Vielleicht geht der Innenminister nach der kommenden Landtagswahl als Landeshauptmann nach Tirol.“ Dann könnte er dort zur Abwechslung einmal den „good cop“ spielen.“

Von Edith Meinhart; Mitarbeit: Gregor Mayer/Belgrad