Der Schatten Vietnams

Der Schatten Vietnams

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Wochenlang war der Irakkrieg in der amerikanischen Öffentlichkeit in den Hintergrund getreten. Im Zentrum des Präsidentenwahlkampfs stand paradoxerweise ein anderer Krieg, der vor nunmehr fast drei Jahrzehnten sein – für die USA – unrühmliches Ende fand: der Vietnamkrieg.

Es ging im August um das Heldentum des jungen John Kerry im vietnamesischen Dschungel und die verleumderische, aber umso effektivere Behauptung der Republikaner, dass der demokratische Herausforderer seinen seinerzeitigen Kriegsdienst im Nachhinein beschönigt habe. Irak schaffte es im Unterschied zur Vietnamdiskussion kaum mehr auf die ersten Seiten der amerikanischen Zeitungen.
Das ist nun vorbei. Mit dem 1000. US-Soldaten, der seit Kriegsbeginn im Irak sein Leben lassen musste, bringt es das Zweistromland seit vergangener Woche wieder zu Schlagzeilen. Auch der Strategiewechsel Kerrys, der nun George W. Bush wegen seiner Irakpolitik frontal attackiert, hat die Ereignisse am Golf wieder zum Thema gemacht.

Vietnam bleibt aber weiter am Tapet. Und das nicht nur, weil die Demokraten genüsslich neue Belege vorlegen, die zeigen, wie der junge George W. – damals ein Tunichtgut, der als Kampftrinker unterwegs war und laut einer neuen, unautorisierten Biografie auch gekokst haben soll – sich vor seinem Einsatz in Asien mit Papas Hilfe drückte.

Vietnam gilt zunehmend auch als Chiffre – für die irakische Katastrophe, in die Bush und seine Leute ihr Land hineinmanövriert haben. Es sind nicht mehr nur notorische Kriegsgegner und gestandene Pazifisten, die mehr und mehr zur Überzeugung gelangen, dass sich die US-Truppen lieber heute als morgen zurückziehen sollten. Denn der Krieg dort sei wie seinerzeit jener in Vietnam für die USA nicht zu gewinnen.
Wie die Amerikaner nach dem Sturz Saddam Husseins im Irak alles verspielt haben, wurde hinlänglich analysiert. Das Resultat der Bush-Politik ist in der Tat desaströs. Die einst als Befreier gelandeten Truppen werden heute als Besatzer gehasst. Die irakische Regierung, der Washington die „Souveränität“ übertragen hat, genießt keine Unterstützung im Volk: Sie wird weit gehend als US-Marionette verachtet. Die irakischen Sicherheitstruppen, die gerade aufgebaut werden, sind ohne die US-Militärunterstützung handlungsunfähig. Bei Kämpfen mit Aufständischen wechseln nicht wenige irakische Soldaten einfach die Seiten. Und inzwischen haben die Bagdader Regierung und die westliche Besatzungsmacht die Kontrolle über weite Teile des Landes verloren.

Im Norden machen die noch am ehesten proamerikanischen Kurden, was sie wollen: Sie regieren, wie schon die vergangenen Jahre, autonom – unabhängig von Bagdad. Im schiitischen Süden beherrscht der (noch) gemäßigte schiitische Klerus die Städte, der freilich von den radikalen Mahdi-Milizen herausgefordert wird. Und Städte des sunnitischen Zentrums wie Falluja sind unter die Fuchtel einer wilden Mischung aus ehemaligen Saddam-Anhängern und islamischen Terroristen aller Schattierungen geraten, die von dort auch ihre Entführungen von Ausländern planen.
Dass unter diesen Bedingungen die Visionen eines einheitlichen und demokratischen Irak völlig unrealistisch sind, ist evident. Aber auch die bloße Perspektive einer Stabilisierung des Post-Saddam-Irak erscheint so aus heutiger Sicht fast utopisch.

Das ist das Dilemma: Bleiben die US-Truppen im Irak, dann verliert die Zentralregierung weiter an Glaubwürdigkeit, breitet sich der Widerstand immer weiter aus und droht sich zu radikalisieren. Der Terrorismus gewinnt Rekruten. Wie kann aber die amerikanische Regierung ihre Soldaten nach Hause holen, ohne dass der Irak ganz im Chaos versinkt und in einem blutigen Bürgerkrieg zerfällt?

Einen plausiblen und pragmatischen Ausweg aus der verzweifelten Situation weist Peter Galbraith, ein ehemaliger US-Botschafter in Kroatien und einer der profiliertesten Fachleute für internationale Politik, in der jüngsten Ausgabe der „New York Review of Books“. Washington müsse sein bisheriges Konzept des „nation building“ für den Irak völlig aufgeben. Galbraith plädiert für eine „lose Föderation, die jedem Landesteil jenes politische System gibt, das die Menschen dort wollen“. Die Kurden bekämen demnach ihr säkulares und demokratisches Staatswesen, das sie anstreben und unter dem bisher schon faktisch der Nordirak verwaltet wurde. Die Schiiten bekämen einen gemäßigten islamischen Substaat. Und beide, Schiiten und Kurden, die achtzig Prozent der Bevölkerung ausmachen, würden in einer Koalition in Bagdad dafür sorgen, dass der terroristische Wahnsinn im „sunnitischen Dreieck“ beendet wird.

Die westlichen Besatzer müssten also jenen Irakern die Macht übergeben, die tatsächlich Autorität und Unterstützung im Volk haben – der kurdischen Führung um Talabani und Barzani und den Leuten im Umfeld von Großayatollah Sistani –, und nicht auf eine Regierung setzen, deren Zusammensetzung und Personal in den Couloirs des Pentagon und des State Department ausgetüftelt wurde. Das wäre eine Politik, die den Realitäten vor Ort Rechnung trägt.

Und, so versichert Galbraith, die Perspektive einer irakischen Demokratie wäre damit nicht verloren. Im Gegenteil: Mit diesem Modell würde sich die überwältigende Mehrheit der Iraker identifizieren können. Eine solcherart legitimierte und föderal strukturierte schiitisch-kurdische Koalition wäre dann auch in der Lage, den gemeinsamen Feinden – dem Extremismus, dem Terrorismus und den Kräften des Chaos – effektiv die Stirn zu bieten.

Dann könnten die amerikanischenTruppen abziehen aus dem Land, das sie zwar von einem bösen Diktator befreit, in dem sie letztlich aber nichts zu suchen haben.