Eskalation in Wien: Der Tod des Heiligen

Der Tod des Heiligen: Die Hintergründe des Mordanschlags im Wiener Sikh-Tempel

Hintergründe des Mords im Wiener Sikh-Tempel

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Von Edith Meinhart, Gunther Müller, Martin Staudinger und Robert Treichler

Sie bringen ihn nach Hause: In ein paar Tagen werden die österreichischen Anhänger der indischen Ravidas-Sekte ihren Heiligen Sant Rama Nand zum Flughafen Wien-Schwechat begleiten. Von dort aus tritt er eine mehrere Tage dauernde Reise an. Erst soll er nach Neu-Delhi geflogen werden, anschließend in die nordindische Stadt Jalandhar im Bundesstaat Punjab, wo sich das geistliche Zentrum seiner Glaubensgemeinschaft befindet. Dann wird der Guru, ermordet am Sonntag, dem 24. Mai, während einer Predigt im 15. Wiener Gemeindebezirk, feierlich verbrannt.

Dem Feuer übergeben wird auch der Leichnam des Inders Vijay Kumar, der einen Tag nach dem Tod von Sant Rama Nand in Jalandhar erschossen wurde, als er mit einem aufgebrachten Mob das Haus eines Stadtpolitikers attackierte; und auch die sterblichen Überreste von Roopi Rani, die mit einem Herzinfarkt zusammenbrach, als die Polizei ihren Sohn abholte, der unter Verdacht geraten war, an Krawallen beteiligt gewesen zu sein.
Sant Rama Nand, Vijay Kumar und Roopi Rami sind einander mit großer Wahrscheinlichkeit nie begegnet. Ihre Tode stehen aber in unmittelbarem Zusammenhang. Die drei sind Opfer einer transkontinentalen Tragödie, die mit Pistolenschüssen in der Wiener Pelzgasse begann und kurz darauf zu Ausschreitungen im 5000 Kilometer entfernten indischen Bundesstaat Punjab führte.

Seither beschäftigt der Mord von Rudolfsheim-Fünfhaus den Subkontinent und seine 1,1 Milliarden Einwohner bis hinauf zu Regierungschef Manmohan Singh. Weltweit sorgt der Anschlag unter Millionen von Anhängern der Ravidas-Sekte für Trauer und Empörung. In Österreich facht er das Ressentiment gegen Immigranten und Asylwerber weiter an und verschärft den ausländerfeindlichen Ton im EU-Wahlkampf.

Das BZÖ fordert ein „Einreiseverbot für Problem-Gurus“, die FPÖ erklärt die gesamte Zuwanderungspolitik für „katastrophal gescheitert“, ÖVP-Innenministerin Maria Fekter verspricht eine Sondereinheit zur „Abwehr von Religionsfanatikern“, Wiens SPÖ-Bürgermeister Michael Häupl warnt vor einem „Bedrohungspotenzial für die Zukunft“. Die Regierungs-Roten sagen wie immer in solchen Situationen nicht viel. Sinnigerweise sprach sich Bundeskanzler Werner Faymann aber wenige Tage nach der Tat dafür aus, den eigentlich komplett obsolet gewordenen Assistenzeinsatz des Bundesheers an der ehemaligen Ostgrenze noch einmal zu verlängern. Vielleicht schnappen die Präsenzdiener im Burgenland ja den einen oder anderen „Problem-Guru“.

Von einem Tag auf den anderen stehen Österreichs Sikhs, die sich über Jahrzehnte den Ruf einer unproblematischen Zuwanderergruppe erworben hatten, in der politischen und öffentlichen Wahrnehmung unter Generalverdacht. Der Mord an Guru Sant Rama Nand wird als Beleg für die prinzipielle Gewaltbereitschaft nicht christlicher Religionen herangezogen. Dass das Motiv dafür teilweise in Glaubensvorschriften liegen soll, die für Westeuropäer reichlich bizarr wirken, macht die Sache nicht besser.

Drohungen. Tatsächlich reichen die Gründe für den Anschlag tiefer: Sie haben mit dem Kastenwesen zu tun, das offiziell abgeschafft ist, die indische Gesellschaft aber immer noch beeinflusst – und mit diffizilen politischen und ökonomischen Konflikten.

Der Angriff auf Sant Rama Nand kam nicht aus heiterem Himmel. Dass die Gurus der Ravidasis nicht ungefährlich leben, ist bekannt: „Es gab gegen sie bereits vor einiger Zeit Drohungen in Großbritannien“, sagt Lekh Raj Birdy, ein britischer Anwalt der Glaubensgemeinschaft, gegenüber profil und erhebt dann schwere Vorwürfe gegen die heimischen Behörden: „Soweit ich gehört habe, war das auch in Österreich der Fall.“ Mit Handgreiflichkeiten habe man gerechnet, erzählen Wiener Sikhs – mit einem Mordanschlag aber keinesfalls. Die Wiener Polizei wehrt sich gegen die Darstellung, sie sei gewarnt gewesen und hätte Drohungen nicht ernst genommen. Ihr Sprecher Michael Takacs wertet dies als „unschönen Versuch, die Verantwortung abzuschieben“. Niemand habe die Exekuktive im Vorfeld über Drohungen informiert, dies habe ein Vertreter des Tempels inzwischen auch schriftlich bestätigt. Was sechs indische Männer bewog, während des Gottesdienstes aufzuspringen und den Guru und die Gläubigen mit Schusswaffen und Dolchen zu attackieren, ist bislang nur in Ansätzen klar. Zurück blieben ein toter Guru und 16 zum Teil schwer Verletzte.

Die Einvernahmen der Polizei gestalten sich schwierig: Die fünf mutmaßlichen Täter, die in U-Haft sitzen, sprechen einen Urdu-Dialekt und zeigten sich bis Mitte dieser Woche nicht sehr auskunftsbereit – ihre Aussagen beschränkten sich im Wesentlichen darauf, den Ermittlern immer neue falsche Namen zu nennen. Ein sechster lag mit einem Kopfschuss auf der Intensivstation des Unfallkrankenhauses Meidling. Wie er sich diese Verletzung zugezogen hat, war diese Woche noch Gegenstand von Ermittlungen. Klar ist zunächst nur so viel: Im Gegensatz zu ihren Opfern – die zur Kaste der Dalit, also der Unberührbaren, zählen – sind sie orthodoxe Sikhs und gehören einer höhergestellten Kaste an. Negativ aufgefallen waren sie bislang niemandem.

Anwalt Lekh Raj Birdy erläutert das Problem der extremistischen Sikhs so: „Sie sind nicht als Anhänger einer bestimmten Glaubensrichtung bekannt, es handelt sich nicht um einen Konflikt zwischen Sekten – es geht um Extremisten, die anderen ihre Über­zeugungen aufzwingen wollen, indem sie extreme Gewalt anwenden.“ Tatsächlich gibt es zwischen den Sikhs und den Ravidas-Anhängern seit jeher Bruchlinien.

Um diese zu verstehen, muss man geografisch weit weg und historisch weit zurück gehen: in das Indien des 15. Jahrhunderts, in dem es noch gar keine Sikhs gab. Damals lebte im Norden Indiens der Sohn eines Hindu-Schuhmachers, der sich einen Namen als Reformer machte. Ravidas Ji wandte sich gegen die Ungerechtigkeit des Kastensystems, was dazu führte, dass er vor allem unter den Angehörigen der niedrigsten Kaste Zulauf hatte – den Unberührbaren.

Als Ende des 15. Jahrhunderts die Sikhs entstanden, nahmen sie Teile der Schriften von Ravidas in ihr heiliges Buch auf. Das hatte weitreichende theologische Folgen. Die Anhänger von Ravidas begreifen sich weiterhin als eigenständige Glaubensrichtung und verehren lebende Gurus – wie etwa Sant Niranjan Dass. Für orthodoxe Sikhs gelten andere Autoritäten: zehn Gurus, die zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert lebten, und das heilige Buch, der „Guru Granth Sahib“. Die Verehrung zeitgenössischer Gurus stellt für Fundamentalisten einen Frevel dar. Grund genug für sie, um Anstoß an der Glaubenspraxis der Ravidasis zu nehmen.

Unter den in Österreich lebenden Sikhs und Ravidasis waren diese Spannungen immer ein Thema gewesen. Das hatte die Gruppen aber nicht daran gehindert, in ihren drei Wiener Tempeln gemeinsam zu beten.
Ihre Gemeinde in Wien hat ihre Wurzeln in den fünfziger Jahren. Damals waren die ersten Inder als Angehörige internationaler Organisationen und als Geschäftsleute ins Land gekommen, die meisten von ihnen Hindus. Ende der siebziger Jahre holte Österreich indische Christen aus Kerala als Pflegekräfte ins Land. In den achtziger Jahren wanderten zunehmend Sikhs aus den ländlichen Regionen des Punjab zu, die auf der Flucht vor politischen Unruhen in ihrer Region waren.

Viele wollten eigentlich nach Großbritannien, blieben aber in Österreich hängen. Ein Grund dafür war eine Ausnahme vom rigiden Ausländerbeschäftigungsgesetz, die von der Mediaprint für ihre Kolporteure durchgeboxt worden war. Viele Inder begannen, für wenige hundert Euro im Monat Zeitungen auf der Straße zu verkaufen, holten ein paar Jahre später ihre Familien nach und wurden österreichische Staatsbürger. „Man kann davon ausgehen, dass heute rund 20.000 Menschen indischer Herkunft in Wien leben, zwei Drittel Sikhs, der Rest teilt sich auf in Christen und Hindus“, sagt Stefan Almer von der für Integration zuständigen Magistratsabteilung in Wien.

Traumziel England. Radjani Singh, 53, ist der älteste Sohn einer alteingesessenen Sikh-Familie aus dem Punjab. Seine Mutter war eine Bäuerin, sein Vater ein unbeugsamer Kommunist, der nach dem Abzug der Engländer der erste Bürgermeister einer Kleinstadt wurde. Radjani Singh und seine beiden Geschwister wuchsen mit Marx und Engels auf; sie besuchten gute englische Schulen und zogen mit dem Vater nach Jalandhar und weiter nach Delhi, als dieser Bezirkssekretär und später Herausgeber der kommunistischen Parteizeitung wurde. Die Familie war nicht übermäßig reich, doch es fehlte ihr an nichts. Als jungen Mann zog es Radjani Singh, wie viele seiner Generation, die Bildung und ein bisschen Geld hatten, nach Großbritannien. Er hatte in Indien Biologie und Chemie studiert und danach an einer Highschool zu unterrichten begonnen.

Irgendwann bekam er Lust weiterzustudieren, doch reichten für eine britische Uni die Mittel nicht. So kam es, dass er an der Universität für Bodenkultur in Wien Landwirtschaft inskribierte, eine Familie gründete und vor 22 Jahren österreichischer Staatsbürger wurde. Die Asylbehörden zogen ihn als Übersetzer bei. Die meisten Sikhs, die seit den achtziger Jahren einreisten, waren zu Hause zwischen politische Fronten geraten. Fast niemand bekam Asyl. Radjani Singh hat gehört, „dass es eine Hand voll Leute geschafft hat“, persönlich kennt er niemanden.

Bis heute lebt das Gros der zugewanderten Sikhs in extrem bescheidenen Verhältnissen. Sie teilen sich üblicherweise die Miete für eine kleine finstere Substandardwohnung, 80 Euro pro Kopf für einen Platz zum Schlafen, damit sie von 500 Euro, die sie im Monat verdienen, einen Teil sparen und nach Indien schicken können. Ihre Frauen und Kinder konnten sie oft erst nachholen, nachdem sie den österreichischen Pass bekommen hatten. Radjani Singh hat auch schon fast alles gemacht: Zeitungen ausgetragen, Werbezettel verteilt, als Taxifahrer und Übersetzer gejobbt, in Restaurants das Geschirr gewaschen. Sein Traum, in Österreich wieder als Lehrer zu arbeiten, blieb jedoch unerfüllt.

In einem Tempel trifft man Menschen wie ihn selten. Jeden Sonntag versammeln sich hier vor allem die Zeitungsverkäufer und Marktfahrer, nicht nur, um zu beten. Sie vermitteln einander Jobs oder einen Platz zum Schlafen, sie erzählen einander die neuesten Nachrichten und stecken denen, die nach Indien fahren, Geld und Pakete für die Verwandten zu. Wer selbst nichts hat, bekommt in der Tempelküche zu essen oder ein Bett, ohne gefragt zu werden, ob er zahlen kann. Wer etwas hat, der spendet, denn davon leben die Tempel. In der Regel zweigen Gläubige ein Zehntel ihres Gehalts für Wohltaten ab; und auch die Mittellosen lassen es sich nicht nehmen, wenigstens einen Euro zu geben.

Religiöser Streit. Mitte der neunziger Jahre eröffneten die Sikhs ihren ersten Tempel in Wien-Donaustadt und bauten ein paar Jahre später in Wien-Meidling einen Keller zum Gebetsraum aus. Über den Stellenwert des heiligen Buchs und die Bedeutung lebendiger Gurus wurde schon damals gestritten, doch nie kam es dabei zu Gewalt. Selbst dann, als die Anhänger des Ravidas darauf pochten, weder Sikhs noch Hindus, sondern Angehörige einer eigenständigen Religion zu sein, blieben die Gläubigen friedlich. Nichts deutete nach außen darauf hin, dass die Spannungen tiefer gehen.

Im Großbritannien der neunziger Jahre waren die ­rivalisierenden Strömungen kurzzeitig ­gewaltsam aneinandergeraten. Daraufhin trommelten die britischen Behörden die Vertreter der Sikh-Community am grünen Tisch zusammen, und die Lage beruhigte sich wieder. In Wien war es immer schon vergleichsweise harmonisch zugegangen, sieht man davon ab, dass die Tempel in den Bezirken Meidling und Donaustadt, wo die „normalen Sikhs“ hingingen, die Ravidasis im 15. Bezirk als „Unberührbare“ ansahen und mit der Zeit immer weniger mit ihnen zu tun haben wollten.

Sensorium. Aber für solche Feinheiten hatten die einheimischen Behörden kein Sensorium – sie hätten es verabsäumt, Kontakte zu den Minderheiten aufzubauen, moniert die Klubobfrau der Wiener Grünen, Maria Vassilakou: „Die Polizei hätte sich schon vor zehn Jahren für Migranten öffnen und mit den Communities der Zuwanderer beschäftigen müssen. Nicht nur mit den Sikhs. Dann käme ein Anschlag wie jener vom 24. Mai für sie nicht so überraschend.“

Im Jahr 2005 errichteten die Ravidasis im 15. Wiener Gemeindebezirk ihr eigenes Gotteshaus. Die Verbindungen zwischen den Tempeln laufen kreuz und quer. Der Tempelkassier in Fünfhaus und jener in Wien-Donaustadt sind beispielsweise Brüder. Inzwischen wurden die Bruchlinien zahlreicher – auch deshalb, weil es die „unberührbaren“ Ravidasis im Lauf der vergangenen Jahrzehnte schafften, sozial aufzusteigen.

Mitglieder ihrer Glaubengemeinschaft kamen in der Diaspora, vor allem in Großbritannien, zu Wohlstand, in Indien selbst etablierten sich die Angehörigen der früheren Schuhmacherkaste als Unternehmer und ­Industrielle in der Lederbranche. Ähnliches gelang auch vielen anderen vormals „Unberührbaren“. Damit wuchsen ihr Selbstvertrauen, ihre Macht und ihre Eigenständigkeit. Unter anderem ließen sie – auch in Europa und Amerika – immer mehr eigene Tempel bauen, was die Spannungen zu orthodoxen Sikhs verschärfte. Religiöse Motive standen in der Debatte zwar im Vordergrund – mindestens ebenso bedeutend waren Geld und Politik.

Die „Deras“, so heißen die Glaubensgemeinschaften, in denen sich die Aufsteiger aus der Unterklasse organisierten, gewannen zunehmend Einfluss. Im heutigen Indien gelten sie als wichtiger Faktor bei der Mobilisierung von Wählern. Der in Wien ermordete Guru Sant Rama Nand gehörte etwa dem Dera Sacha Khand an, der in Jalandhar ein Krankenhaus mit 150 Betten und eine Schule betreibt. Die Gemeinschaft erwies sich bei den im Mai abgehaltenen Parlamentswahlen als Zünglein an der Waage im Punjab. Sie unterstützte den Kandidaten der linksorientierten Kongresspartei. Mit nur 36.445 Stimmen Vorsprung schaffte es dieser ins Parlament. Sein Gegenkandidat von der Akali-Dal-Partei, die das Sikh-Establishment vertritt, hatte das Nachsehen. Auch das habe zu Verstimmungen geführt, berichten Insider.

Kampf um Geld und Status. Zudem herrscht zwischen den Tempeln auch finanziell eine gewisse Konkurrenz. Bevor die ­Ravidasis damit begannen, eigene Gotteshäuser zu eröffnen, wurden Hochzeiten beispielsweise ausschließlich in jenen der Sikhs gefeiert – und diese Zeremonien bringen viel Geld. Die neuen Tempel der Unberührbaren brachten die alteingesessenen Bethäuser um einen Gutteil ihres Einkommens.Dazu kommen Standesdünkel der orthodoxen Sikhs gegen die Emporkömmlinge. Nach Schätzungen stellen die Dalit in Großbritannien rund ein Drittel der Sikh-Minderheit, und sie brauchen sich in ihrer neuen Heimat nicht mehr unterzuordnen. Einigen Extremisten sei das ein Dorn im Auge, berichtet Anwalt Birdy: „Sie sind sehr unglücklich damit, dass die Ravidasis jetzt eine viel stärkere Gruppe sind, die schnell lernt, auf eigenen Füßen zu stehen.“

Gemeinsam mit dem derzeit höchsten Guru der Ravidasis, Sant Niranjan Dass (der beim Attentat in Wien angeschossen und schwer verletzt worden war), war der ermordete Sant Rama Nand rastlos auf der ganzen Welt unterwegs gewesen. Vor allem die USA, Kanada und Europa besuchten die Prediger immer wieder. Nicht zuletzt, um hier neue Tempel einzuweihen.
Tirath Bali ist Präsident des Shri-Guru-Ravidas-Sabha-Tempels im östlichen Teil von London, und er kann seine Emotionen am Telefon kaum verbergen. „Diese Männer waren Heilige, sie haben Frieden gepredigt und sich um die Unterdrückten gekümmert!“, ruft er und fordert: „Die Täter von Wien müssen zur Rechenschaft gezogen werden!“ Sant Niranjan Dass und Sant Rama Nand waren persönlich zugegen, als 1999 der Londoner Tempel eröffnet wurde. Seither besuchten sie die Gemeinde fünf- oder sechsmal, erinnert sich deren Präsident Bali. In Großbritannien gibt es in mehreren größeren Städten Tempel, und so absolvierten die Gurus meist eine Tour durch das Land.

Aber auch im übrigen Europa und in Kanada bildeten sich zusehends größere Gemeinden. Tirath Bali glaubt zu wissen, dass Sant Niranjan Dass und Sant Rama Nand vor wenigen Wochen noch Tempel in Dubai und Paris besucht hätten. Bei ihrer Gefolgschaft im 15. Wiener Gemeindebezirk waren die beiden Gurus in den vergangenen Jahren angeblich nicht weniger als achtmal zu Gast.

Im Vorfeld der Visiten hätten Vertreter der orthodoxen Sikhs den Ravidasis jedes Mal ins Gewissen geredet, erzählt Sham Singh, regelmäßiger Besucher des Tempels im 22. Bezirk. Es ging wie immer um das heilige Buch: „Wir haben gesagt, euer Guru kann machen, was er will, aber nicht im Beisein des heiligen Buchs.“ Erst vor vier Monaten sei dort ein von den orthodoxen Sikhs nicht anerkannter Guru aufgetreten. Damals wäre eine Abordnung von 50 Mann zu seinen Anhängern in Wien gepilgert, um das zu verhindern. Man habe sie im Tempel in der Pelzgasse freundlich empfangen und bewirtet, sich aber nicht ernsthaft auf die vorgebrachten Einwände eingelassen.

Schüsse, Hiebe, Schreie. So auch, als sich herumsprach, dass Sant Niranjan Dass und Sant Rama Nand dort am 24. Mai predigen würden. Die beiden befanden sich auf einer Rundreise durch Europa. Ihre genaue Route ist umstritten. Die Polizei geht davon aus, dass sie direkt aus Indien anreisten. In Wien könnte es Probleme geben, sei ihren österreichischen Gastgebern laut Sham Singh ­signalisiert worden.

Sham Singh gehört zu jenen Sikhs in Wien, die 15 Jahre lang als Zeitungskolporteure schuften mussten, bevor sie den österreichischen Pass bekamen. Erst dann konnte er seine Frau und seine fünf Kinder nachholen. Seine ältere Tochter will Krankenschwester werden, die andere macht eine Ausbildung zur Laborantin, die Kleineren gehen noch in die Schule. Unter seinem hellblauen Hemd trägt er einen Dolch – eines von fünf Symbolen, die religiöse Sikhs bei sich haben. Und daran hält er sich im Gegensatz zu den Ravidasis. Dass fanatische Sikhs auf einen Guru schießen könnten, hätte er bis zum 24. Mai für ausgeschlossen gehalten: „Wir halten nichts von Gewalt. Das Attentat ist ein unglaublicher Rückschlag. Jetzt werden alle versuchen, uns politisch schlechtzumachen“, klagt er. Die beiden Sikh-Tempel in Wien-Donaustadt und in Meidling distanzierten sich am Tag nach dem Anschlag in einem ­offenen Brief von dem „feigen Anschlag“.

Sham Singh hat die Attentäter oft in ­„seinem“ Tempel im 22. Bezirk gesehen. Es heißt, sie sollen vor sieben, acht Monaten aus Spanien gekommen sein und eine spanische Aufenthaltsgenehmigung haben. Als am Sonntag in der Wiener Pelzgasse der Gottesdienst begann, nahmen zwei von ihnen direkt neben den Gurus Sant Rama Nand und Sant Niranjan Dass Platz, als wären sie ergebene Gläubige. Wenig später betraten vier weitere den Raum. Dann das Chaos. Schüsse, Hiebe und Schreie.