Der stille Tod

Der stille Tod: Versteckte Entzündungen lösen Zivilisationskrankheiten aus

Gesundheit. Versteckte Entzündungen lösen Zivilisationskrankheiten aus

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Der achtjährige Martin jammert bitterlich. Er ist hingefallen und hat sich dabei das Knie an Glassplittern verletzt. Jetzt ist die Wunde gerötet und leicht geschwollen, das ganze Bein tut ihm weh. Sein Organismus wehrt sich gegen die eingedrungenen Fremdkörper – Schmutz und Bakterien – mit Entzündung. Das Immunsystem schafft unentwegt Kohorten von Fresszellen und T-Lymphozyten heran, welche die bösen Eindringlinge abwehren und vernichten. Nach und nach eliminieren die Immunzellen die abgestorbenen Überbleibsel der Abwehrschlacht und machen den Weg frei für die Erneuerung des Gewebes. Entzündung ist eine Milliarden Jahre alte Überlebensstrategie der Biologie. Jede kleine Verletzung würde unseren Tod bedeuten, wenn sich unsere Immunabwehr nicht erfolgreich dagegenstemmte.

Doch der akuten, schmerzhaften und ­vorübergehenden Entzündung, die durch Verletzung, Bakterien oder Infektionen hervorgerufen wird und die jeder kennt, steht eine andere, bisher wenig beachtete chronische Entzündungsform gegenüber. Sie bleibt oft über Jahre oder Jahrzehnte unbemerkt, weil sie keine Schmerzen verursacht und dennoch eine potenziell tödliche Gefahr darstellt. In diesem Fall greifen die Immunzellen, zumeist in Verbindung mit anderen Faktoren, gesundes Gewebe an und führen zu einem beschleunigten Alterungsprozess, zu Bluthochdruck, Arteriosklerose, Diabetes, Fettsucht, Herzinfarkt und Schlaganfall. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind sie auch an der Entstehung bestimmter Krebsarten sowie an Alzheimer beteiligt. Die Wissenschafter sprechen von „stillen Entzündungen“, die in den USA schon seit Jahren ein Thema sind, aber erst in jüngster Zeit auch von der europäischen Medizin stärker wahrgenommen werden.

Wissenschafter arbeiten weltweit daran, Gegenstrategien zu entwickeln. Da die Ursachen eindeutig in der westlichen Lebens- und Ernährungsweise liegen – industriell hergestellte Nahrungsmittel, schädliche Fette, zu viel Zucker, mangelnde ­Bewegung, Stress –, setzt eine der Behandlungsschienen auf Verhaltensänderung: Gewichtsabnahme, Bewegung, antientzündliche Ernährungsweise. Es fällt nämlich auf, dass Völker, die wie die Japaner wenig Fleisch und sehr viel Fisch essen, deutlich weniger oder kaum von stillen Entzündungen und deren Folgeerkrankungen betroffen sind. Noch etwas sticht den Forschern ins Auge: Obwohl die Amerikaner im Durchschnitt immer dicker werden, sinkt in den USA – wie übrigens auch in Österreich – die Herzinfarktrate und die damit verbundene Mortalität.

Ein Faktor ist, dass nach drei Jahrzehnten Anti-Raucher-Bewegung der Zigarettenkonsum in den Staaten verpönt ist und nur noch wenige Amerikaner rauchen. Ein anderer Faktor ist noch nicht endgültig bewiesen, wird aber vermutet. Denn auffallend ist, dass die Mortalitätsrate bei kardiovaskulären Erkrankungen auch hierzulande ­deutlich sinkt, obwohl die Österreicher trotz vermehrter Rauchverbote nicht weniger ­rauchen. Mag sein, dass dazu auch eine verbesserte und raschere medizinische Versorgung beiträgt, aber ein wichtiger Faktor könnte eine positive Zweitwirkung von Statinen sein, die viele Menschen zur Senkung ihres Cholesterinspiegels schlucken. Offenbar haben diese Wirkstoffe auch eine antientzündliche Komponente, sodass ihr Effekt ein doppelter ist: Sie bekämpfen die Entzündung in der Gefäßwand und senken zugleich das schlechte LDL-Cholesterin, das beim Entstehungsprozess der Arteriosklerose ebenfalls eine Rolle spielt.

Einen Anhaltspunkt für diesen Zusammenhang lieferte die so genannte Jupiter-Studie, die Anfang November 2008 beim Kongress der Amerikanischen Herzgesellschaft in New Orleans und zeitgleich im „New England Journal of Medicine“ präsentiert wurde. Die neuen, lebhaft diskutierten Daten zeigten, dass offenbar gesunde Patienten mit niedrigem Cholesterinspiegel, aber erhöhten Entzündungsmarkern ihr kardiovaskuläres Erkrankungs- und Sterberisiko durch die Einnahme von Statinen um fast die Hälfte senken konnten. Eine Innsbrucker Forschergruppe unter der Leitung des Pathologen und Immunologen Georg Wick arbeitet derzeit an einer Impfung gegen Arteriosklerose, die den Entzündungsprozess in der Gefäßwand verhindern soll.

Fundamentale Rolle.
Die Kenntnis von der Existenz dieses Entzündungsprozesses verdankt die Wissenschaft Forschern der Harvard Medical School. Peter Libby und Paul M. Ridker berichteten im Jahr 2002 im Medizinjournal „Circulation“ erstmals von einem Zusammenhang zwischen Entzündung und Arteriosklerose. Dort heißt es: „Die bisher als bloße Fetteinlagerungskrankheit betrachtete Arteriosklerose beinhaltet eigentlich eine fortwährende Immunantwort. Jüngste Fortschritte in der Grundlagenforschung belegen eine fundamentale Rolle der Entzündung als Vermittler bei allen Stadien dieser Krankheit, vom Start über die Progression bis zu den thrombotischen Komplikationen der Arteriosklerose.“

Die Gefäßverkalkung ist aber bereits Folge eines tiefer liegenden Geschehens. Bernhard Ludvik, Stoffwechselspezialist an der Wiener Universitätsklinik für Innere Medizin III, ortet im Bauchspeck den zentralen Motor für stille Entzündungen im Körper. Aber wie entsteht die Entzündung im Bauch? Laut Ludvik lagern sich in den Fettansammlungen rund um Darm und Leber Fresszellen des Immunsystems ein, die im Zusammenwirken mit verschiedenen Hormonen und Botenstoffen eine wahre Flut von Entzündungszellen mobilisieren. Die gleichen Zellen, die uns bei akuten Entzündungen vor schwerwiegenden Krankheitsfolgen schützen, sorgen nun dafür, dass sich in der Leber vermehrt ein Entzündungsmarker mit der Bezeichnung „hoch sensitives C-reaktives Protein (hsCRP)“ bildet, der mittlerweile als eigenständiger Risikofaktor gilt.

„Man kann das CRP schon lange messen, aber es wurde nicht weit genug hinunter gemessen, wo sich die stillen Entzündungen abspielen“, berichtet Ludvik. Oft muss mehrfach gemessen werden, um zu eruieren, ob der Entzündungsmarker erhöht ist. Der Arzt muss diese Messung extra verlangen, aber die Kasse zahlt sie nicht. Die Entzündungszellen geraten dann von der Leber in den Blutkreislauf und attackieren die Innenwände der Blutgefäße. Sie ermöglichen es erst, dass sich so genanntes oxidiertes LDL-Cholesterin in der Gefäßwand ablagert, und wandern dann auch ins Herz und ins Gehirn, um auch dort ihr Zerstörungswerk zu beginnen. Sie sind an der Entstehung der Insulinresistenz beteiligt und letztlich am metabolischen Syndrom, einem Krankheitsbild, das durch erhebliches Übergewicht, Bluthochdruck, Fettleber und Arteriosklerose gekennzeichnet ist.

Das Bauchfett war in der Medizin lange kein Thema, weil die Ärzte nur das Übergewicht im Auge hatten, ohne auf die Fettverteilung im Körper zu achten. Viele Jahre lang wurde zur Feststellung der überzähligen Kilogamm ausschließlich der so genannte Body Mass Index (BMI) herangezogen. Da Übergewicht weltweit ein zunehmendes Gesundheitsproblem darstellt, galt er als probate, wenn auch grobe Messlatte für die Bewertung der Körpermasse.*)

Doch der BMI hat den Nachteil, dass er weder die Statur eines Menschen noch die individuell sehr unterschiedliche Zusammensetzung von Muskel- und Fettmasse berücksichtigt. Daher ist dieser Maßstab umstritten.
Stoffwechselexperten sind deshalb in den vergangenen Jahren dazu übergegangen, den BMI zusammen mit dem Bauchumfang zu erheben, weil dieser einen guten Indikator für das im Körper angesammelte Fett darstellt. Mittlerweile gilt international ein Bauchumfang von mehr als 102 Zentimetern (Frauen 87) als eigener Risikofaktor, da es einen statistischen Zusammenhang zwischen Bauchumfang und Mortalität gibt: je größer der Bauch, desto höher das Krankheits- und Sterberisiko. In Neuseeland verweigern Privatversicherer bereits Männern mit einem Bauchumfang von mehr als 102 Zentimetern (Frauen: mehr als 87 Zentimeter) den Versicherungsschutz.

Fettverteilung.
Dass die Fettverteilung im Körper einen erheblichen gesundheitlichen Risikofaktor darstellt, hatte eine Reihe von Studien ergeben, die schon Ende der achtziger sowie in den neunziger Jahren in Schweden und in den USA durchgeführt wurden. Im Jahr 2003 veröffentlichte dann der dänische Epidemiologe Thorkild Sörensen vom Universitätsspital in Kopenhagen im Fachblatt „Obesity Research“ eine in Fachkreisen viel beachtete Studie über den Zusammenhang zwischen Bauchumfang, Body Mass Index, Rauchen und der Sterblichkeit bei Männern und Frauen mittleren Alters. Sörensens Forschergruppe hatte für die Studie zwischen 1993 und 1997 insgesamt 27.178 in Dänemark geborene Männer und 29.875 Frauen im Alter zwischen 50 und 64 Jahren rekrutiert, die bis Jahresende 2000 beobachtet wurden. Bis zum Ende des Beobachtungszeitraums traten in dem Sample insgesamt 1465 Todesfälle auf.

Bemerkenswertes Ergebnis der Studie:
Ein um nur zehn Prozent erhöhter Bauchumfang führt im Durchschnitt zu einer um 48, im Extremfall sogar zu einer um 61 Prozent höheren Mortalität, wobei Nichtrauchen den Zusammenhang dämpft. „Die dänischen Forscher konnten sehr schön ­zeigen, dass bei Männern wie Frauen der Bauchumfang der beste Vorhersagewert für die Mortalität in der Bevölkerung ist“, ­resümiert Hermann Toplak, Stoffwechsel­experte an der Grazer Universitätsklinik für Innere Medizin. „Durch das Bauchfett ­werden die Blutfette angetrieben“, sagt ­Toplak.

Aber dazu kommt noch eine Art Rückkoppelung:
Mehr Bauchfett bedeutet mehr Insulin. Und wenn das Insulin steigt, steigt auch das Cortisol, ein so genanntes Gegenregulator-Hormon, das zu noch mehr Bauchfett führt. Chronischer Cortisolüberschuss, der durch Fehlsteuerungen im Hypothalamus und in der Hirnanhangdrüse ausgelöst wird, führt zu einer Reihe von gesundheitlichen Problemen: Übergewicht, Diabetes, Osteoporose, Hautveränderungen, Immundefekte, Depression. David Katz, Direktor des Yale University Prevention Research Center, hat gegen derartige Krankheitsbilder ein einfaches Rezept, wie er gegenüber dem Magazin „Newsweek“ erklärte: „Streichen Sie Kalorien und verlieren Sie Bauchfett.“ Das heißt: weniger essen und Sport. Körperliches Training führt nicht nur zu einer Abnahme des Bauchfetts, es reduziert auch den Blutspiegel von Stresshormonen und Insulin.

Es gibt Nahrungsmittel, die nicht nur die Fettansammlung im Bauch fördern, sondern auch den Fettabbau erschweren, wie beispielsweise die so genannten Transfette. Dabei handelt es sich um gehärtete Fette, die in manchen industriell hergestellten Lebensmitteln wie Margarine, Crackers, diversen Backwaren, Pizzen und Frittierölen enthalten sind. Diese Fette sind deshalb gesundheitsschädlich, weil sie die Zellmembran schädigen. In Österreich gelten seit 1. Oktober des Vorjahres strengere Grenzwerte für die Verwendung solcher Fette. Österreich ist damit neben Dänemark das zweite Land in Europa, das eine solche Verordnung hat. Die Fastfood-Kette McDonald’s hatte Transfette schon zuvor freiwillig aus ihrem Produktionsprogramm gestrichen.

Aber in den meisten europäischen Ländern und auch in den USA werden Transfette nach wie vor verwendet. Lawrence Rudel, Professor für Pathologie und Biochemie an der Wake Forest University School of Medicine, fand in einer Studie heraus, dass mit Transfetten gefütterte Affen um 30 Prozent mehr Bauchfett ansammelten als Affen, die mit einfach gesättigten Fetten gefüttert wurden. Auch industriell verarbeitetes Getreide fördert die Ansammlung von Bauchfett mehr als Vollkorngetreide. In einer im Jahr 2008 im „American Journal of Clinical Nutrition“ veröffentlichten Studie verglichen Forscher der Penn State University 25 fettleibige Probanden, die sich zwölf Wochen lang nur von Vollkorngetreide ernährten, mit 25 anderen Probanden, die in der gleichen Zeit nur industriell verarbeitete Getreideprodukte aßen. In beiden Gruppen verloren die Testpersonen zwischen 3,6 und fünf Kilogramm Gewicht, aber die Vollkorn-Probanden verloren doppelt so viel Bauchfett wie ihr Gegenpart, wohl weil Vollkorngetreide viel mehr Ballaststoffe enthält.

Genetisch belastet.
Es ist freilich nicht allein die Ernährung. Manche Menschen sind genetisch belastet, sodass sie leichter Fett ansetzen oder es schwerer haben, dieses wieder zu verlieren. Aber die Lebens- und Ernährungsweise spielt eine erhebliche Rolle. Barry Sears, ein amerikanischer Biochemiker, Bestsellerautor und Erfinder der so genannten Zone-Diät, glaubt, einen besonderen Grund für die weit verbreitete Fettleibigkeit seiner Landsleute zu kennen: Die Amerikaner würden nicht nur massenhaft schlechte Kohlehydrate wie Maissirup und andere zuckerhaltige Nahrungsmittel verzehren und sich zu wenig bewegen, die USA seien weltweit auch der größte Produzent und Exporteur industriell verarbeiteter Pflanzenöle, zumeist gesättigter, gesundheitsschädlicher Fette, mit denen die Amerikaner sich und die halbe Welt vergifteten. Dazu zählt Sears auch Sonnenblumen- und Maiskeimöl, die im raffinierten Zustand Transfette enthalten.

Als Gegenmodell entwarf Sears, teilweise in Zusammenarbeit mit Forschern der Harvard University, eine allerdings nicht sehr alltagstaugliche Ernährungsweise, die speziell gegen stille Entzündungen gerichtet ist. Kernpunkte sind: 40 Prozent Kohlehydrate und je 30 Prozent Eiweiß und Fett, vor allem aber mehrfach gesättigte Fettsäuren, darunter als zentrales Element Fischöl als stärkstes Mittel gegen stille Entzündungsprozesse. Die Kernpunkte sind aber nicht auf Sears’ Mist gewachsen. Schon im Jahr 2001 hatte die Lyon Diet Heart Study nachgewiesen, dass sich mit einer mediterranen Diät das kardiovaskuläre Sterberisiko von Herzinfarktpatienten deutlich senken lässt. Unter mediterraner Diät verstanden die Forscher jene Ernährungsweise, wie sie noch in den sechziger Jahren in weiten Teilen Griechenlands und in Süditalien gebräuchlich war: viel Gemüse, Obst, Getreide und Fisch, wenig rotes Fleisch, Wein in moderaten Mengen. Obwohl die beiden je etwa 300 Personen umfassenden Vergleichsgruppen die nahezu gleichen Risikofaktoren hatten (erhöhte Blutfettwerte, erhöhten Blutdruck, Body Mass Index und Rauchverhalten), schnitt die Gruppe, die sich mediterran ernährte, gegenüber der Vergleichsgruppe deutlich besser ab. „Wenn die den gleichen Cholesterinlevel hatten, kann die Verminderung der Entzündung gelaufen sein“, resümiert Ludvik.