Der Vorsorge-Wahn in Österreich

Der Vorsorge-Wahn: Wirkungslose Diäten und schädliche Vitaminpillen

Immer mehr Ärzte fordern ein Umdenken

Drucken

Schriftgröße

Von Bert Ehgartner

Russel Harris, Doyen der modernen Präventionslehre, klang resigniert: „Es ist einfach, eine ganze Menge von Dingen einzuführen, die keinen Sinn machen.“ Wesentlich schwieriger sei es hingegen, den Unfug wieder abzustellen. Der Europäische Präventionskongress befasste sich Ende Juni in Baden bei Wien im Grunde nur mit einer einzigen Frage: Wie bringt man breite Bevölkerungskreise am besten dazu, aktive Gesundheitsvorsorge zu betreiben? Drei Tage lang ging es unter anderem um die Frage, wie Kinder am besten schlank bleiben, wie sich Menschen wirksam zu mehr Bewegung animieren lassen und welche Lehren aus gelungenen oder gescheiterten Vorsorgeprogrammen gezogen werden können.

Die Stimmung unterschied sich deutlich von Veranstaltungen anderer Fachdisziplinen, wo sich für gewöhnlich alles um Innovationen und viel versprechende neue Therapieansätze dreht. Sie war von Nachdenklichkeit, Skepsis und heftigen Debatten geprägt: Bringen all die aufwändigen Präventions- und Vorsorgeprogramme, die ärztlichen Ratschläge für einen gesundheitsbewussten Lebensstil am Ende gar nicht das, was sie versprechen? Was sagen seriöse Langzeitstudien über den tatsächlichen Erfolg solcher Maßnahmen?

Die Medizinerin Anne Mackie vom britischen Screening-Komitee zeigte am Beispiel Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs eindrucksvoll, dass gut gemeint auch in der Gesundheitsvorsorge nicht immer gut sein muss: „Die ersten 20 Jahre haben wir fast alles falsch gemacht, was man falsch machen kann.“ Die von ihr beschriebene wilde Urzeit erinnert frappant an den gegenwärtigen Istzustand bei der Gebärmutterhalskrebs-Vorsorge in Österreich: keine Qualitätskontrolle, schlechte Behandlungsstandards, keine Organisation.

Frauen werden routinemäßig getestet, viele von ihnen halbjährlich – etwa wenn sie um ein neues Rezept für die Pille zum Arzt gehen. ­Mackie: „Und wir dachten dabei auch noch, dass wir erfolgreich wären. Einfach deshalb, weil wir so viele Abnormalitäten gefunden haben.“ Die Screening-Expertin erinnert sich mit Schaudern daran, wie schwierig es war, Qualitätsstandards bei den Gynäkologen und in den Labors durchzusetzen oder ein Alterslimit von 25 Jahren einzuführen, unter dem keine Gebärmutterabstriche mehr durchgeführt werden sollten.

„Hier haben wir durch Überbehandlung von vermeintlichen Krebsvorstufen den meisten Schaden angerichtet.“ Mittlerweile liegt die Sterblichkeit beim Zervix-Karzinom in Großbritannien um ein Drittel unter jener von Österreich. In Finnland, dem Land mit dem weltweit niedrigsten Sterberisiko, wird der Abstrich gar nur alle fünf Jahre bei Frauen ab 30 Jahren gemacht. Auch bei den Mammografie-Reihenuntersuchungen zur Früherkennung von Brustkrebs blieb von den euphorischen Erwartungen der neunziger Jahre wenig übrig. „Die Stimmung in der Öffentlichkeit ist gewaltig gekippt“, erzählt Bernhard Gibis, der in der Kassenärztlichen Bundesvereinigung für die wissenschaftliche Begleitung des in Deutschland praktizierten Programms zuständig ist. Medienberichte trugen dazu bei, dass derzeit nur etwa die Hälfte der deutschen Frauen der Einladung zum Bruströntgen Folge leistet.

Heute weiß man, dass gerade eine von 2000 Frauen, die regelmäßig zum Bruströntgen gehen, davon profitiert, wenn ihr Tumor früher entdeckt wird. Gleichzeitig werden aber zehn gesunde Frauen unnötigerweise zu „Brustkrebspatientinnen“. Sie werden operiert, bestrahlt oder einer Chemotherapie unterzogen. Ferner wird bei 200 Frauen falscher Alarm ausgelöst, der bis zur Abklärung enorme psychische Belastungen verursachen kann.

Angstmache. Die Österreicherin Ingrid Mühlhauser, Professorin für Gesundheitswissenschaften an der Universität Hamburg, kritisiert die nach wie vor viel zu optimistische Darstellung der Vorbeugeaktion in der Öffentlichkeit, die oft „eine Mischung aus marktschreierischer Werbung und Angstmache mit falschen Zahlen“ darstelle. Während in den Broschüren davon die Rede ist, dass jede siebte Frau an Brustkrebs erkrankt und jede zehnte daran stirbt, sieht die Realität anders aus: „In Wahrheit liegt der Anteil der Brustkrebs-Todesfälle bei vier Prozent“, sagt Mühlhauser.

Als eines der absurdesten Resultate des Vorbeugegedankens erwies sich der jüngst in den USA beobachtete dramatische Rückgang bei Brustkrebs-Neuerkrankungen. Während Experten zunächst die Hoffnung äußerten, dies sei ein Erfolg der Früherkennung, wies eine im Februar dieses Jahres im „New England Journal of Medicine“ publizierte Untersuchung penibel die tatsächlichen Ursachen dieses erfreulichen Trends nach. Demnach war nicht die Durchführung, sondern die Streichung einer Vorsorgemaßnahme für die sinkenden Fallzahlen verantwortlich – nämlich ein weit gehender Stopp der Hormonersatz-Therapie, die etwa zwei Dritteln der Frauen ab den Wechseljahren vorbeugend verordnet worden war. „Als die Frauen die Hormone noch nahmen, lag die Brustkrebsrate etwa doppelt so hoch wie in der Kontrollgruppe“, heißt es in der Studie. „Binnen zwei Jahren nach Absetzen der Pillen setzte ein rapider Rückgang ein, und heute haben die Frauen kein erhöhtes Krebsrisiko mehr.“

Für Gerald Gartlehner, Professor für Evidenzbasierte Medizin an der Donau-Universität Krems und Organisator des Badener Kongresses, ist das „das schlimmste Erlebnis der Vorsorgemedizin“ sowie Anlass, bei allen künftigen Vorhaben besonders vorsichtig zu sein. „Wir haben daraus gelernt, dass wir wirklich gute wissenschaftliche Daten brauchen, bevor wir der Bevölkerung eine Maßnahme empfehlen. Der Konsens der Experten genügt nicht.“ Doch auch wenn ein Risiko eindeutig identifiziert ist, wie etwa Übergewicht bei Kindern, fällt es oft schwer, die geeigneten Vorbeugemaßnahmen zu finden. Der Kinderarzt Thomas Reinehr von der deutschen Privatuniversität Witten-Herdecke referierte eine Unzahl von Studien, in denen teils mit enormem Aufwand versucht wurde, Kinder am Dickwerden zu hindern: Aerobic-Kurse, Computerverbot, Ernährungsumstellungen, Märchenvorlesen statt Fernsehen. Fast alle Bemühungen zeigten – zumindest auf längere Sicht – „keinen Effekt“. Am wirksamsten erwies sich noch die Maßnahme, Cola-Automaten aus den Schulen zu verbannen und stattdessen optisch attraktive Wasserspender aufzustellen.

Nach drei Jahren Beobachtungszeit hatten in den Schulen mit Wasserspendern 18,7 Prozent der Schüler Übergewicht, in den Vergleichsschulen mit Cola-Automaten lag der Anteil hingegen bei 28,5 Prozent. Übertroffen wurde dieser Effekt nur noch von einem Phänomen, auf das die erzieherischen Programme wohl nicht den geringsten Einfluss haben: Die Kinder bleiben schlank, wenn ihre Eltern zusammenbleiben. „Drei Viertel der Kinder mit krankhaftem Übergewicht“, erklärte Reinehr, „stammen aus Scheidungsfamilien.“ Diskutiert wird auch die Frage, ob es Sinn mache, Menschen für ungesunde Lebensweise zu bestrafen oder ihnen – wenn sie eine gewisse Gewichtsgrenze unterschreiten – eine Erfolgsprämie anzubieten. „Geld zu geben funktioniert ganz gut“, erklärte Reinehr. „Das wird in den Pilotversuchen vermehrt angewendet.“

Strafmaßnahmen. Im Zuge der letzten Gesundheitsreform in Deutschland wurde etwa 2008 eine höhere Belastungsgrenze für chronisch Kranke eingeführt, wenn diese an Brust-, Darm- oder Gebärmutterhalskrebs erkranken und nicht nachweisen können, dass sie sich davor über die jeweilige Vorsorgeuntersuchung zumindest informiert haben. Der Präsident der deutschen Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, erregte kürzlich mit dem Vorschlag Aufsehen, bei der Durchführung notwendiger medizinischer Leistungen generell auch das „Ausmaß eigenen Verschuldens“ zu berücksichtigen. „Krankheiten, die durch unvernünftige Lebensweise entstehen, sollen in der Rangfolge der Behandlung eher unten angesiedelt werden“, plädierte Hoppe gegenüber dem Hamburger Magazin „Der Spiegel“. Man werde diesen Leuten sagen müssen, dass sie die Therapie ihrer Krankheiten selber zahlen müssen. Oder sie würden eben in der Warteliste – etwa für ein neues Hüftgelenk – weit nach hinten gereiht.
Auch der Wiener Medizinökonom und Arzt Ernest Pichlbauer möchte die Eigenverantwortung der Patienten durch ein Bonus-Malus-System fördern.

Hoppes Vorschlag findet er jedoch missglückt: „Einen Menschen strafhalber warten zu lassen, wenn er akut ein Hüftgelenk braucht, das bringt gar nichts mehr, denn dann ist es zu spät.“ Sehr wohl könnte er sich jedoch „den englischen Weg“ vorstellen: „Da kriegt man die Hüfte nur, wenn man beispielsweise den Body-Mass-Index von 30 auf 27 reduziert.“ Das sei eine wirksame Methode, weil der Patient aktiv eingreifen kann. „Es muss Betroffenheit erzeugt werden, sonst passiert eine Änderung nicht.“

Überwachungsstaat. Gesundheitsminister Alois Stöger weist alle Vorstöße in Richtung Strafmaßnahmen kategorisch zurück. „Strafen behindern eher eine Verhaltensänderung“, sagt er. „Und wenn man einmal mit so etwas beginnt, stellt sich bald die Frage, wo dann die Grenze ist.“ Geld sei generell ein sehr problematisches Steuerungsmittel im Gesundheitsbereich. Auch für Ärztekammer-Präsident Walter Dorner führen diese Ansätze „schnurgerade in eine Überwachungsgesellschaft des staatlich verordneten Lebensstils“. Da müsse man bald hinter jeden Menschen einen Nachtwächter stellen. „Die Ärzte hier einzuspannen ist schlicht abwegig.“ Dorner will deshalb lieber an die Vernunft der Leute appellieren, für ihre Gesundheit eigenverantwortlich vorzubeugen.

Fragt sich bloß, wonach sich die Menschen richten sollen, inmitten eines Wildwuchses an Vorbeugetipps, die einander oft auch noch diametral widersprechen. Am eindrucksvollsten offenbarte sich dieses wissenschaftliche Chaos in den vergangenen Jahren in der Ernährungslehre. Beginnend mit der Verteufelung von Fetten, wurde in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit der „Light-Welle“ eine Revolution am Nahrungsmittelmarkt ausgerufen, die zwar das Angebot der Supermärkte radikal umkrempelte, ihre Ziele aber dramatisch verfehlte. Die Menschen griffen einfach öfter zu den rasch verdaulichen überzuckerten Fertigprodukten und unterzogen sich somit einer regelrechten Kohlenhydrat-Mast.

Nicht einmal zur Krebsvorsorge taugt gesunde Ernährung. In einer kürzlich im Journal der US-Ärztegesellschaft publizierten Arbeit wurden mehr als 3000 Frauen, die bereits wegen einer Frühform von Brustkrebs behandelt worden waren, zur Hälfte einer Intensivgruppe mit besonders gesunder Ernährung zugewiesen. Die Testpersonen machten Gemeinschafts­kochkurse, bekamen ständige Telefonberatung und einen regelmäßigen Newsletter. Die Kontrollgruppe aß hingegen weiter wie bisher. Die Intensivgruppe verzehrte um 65 Prozent mehr Gemüse, um 25 Prozent mehr Obst, um 30 Prozent mehr Ballaststoffe und um 13 Prozent weniger Fett. Das wurde mittels Bluttests geprüft und bestätigt. Bei der Auswertung der Daten nach mehr als ­sieben Jahren Beobachtungszeit waren die Ergebnisse eine herbe Enttäuschung: In der Intensivgruppe waren 16,7 Prozent der Frauen an invasivem Brustkrebs erkrankt, in der allein gelassenen Kontrollgruppe waren es mit 16,9 Prozent praktisch genauso viele. Die ernüchternde Schlussfolgerung der Autoren: „Die Umstellung auf eine Ernährung mit einem hohen Anteil an Gemüse, Obst und Ballaststoffen sowie einem geringen Anteil von Fett beeinflusste weder das Auftreten von Brustkrebs noch das Sterberisiko günstig.“

Zuckerkur. Eine mögliche Erklärung für dieses Ergebnis lieferte nun eine schwedische Studie des Karolinska-Instituts mit einer beeindruckend langen Beobachtungszeit von mehr als 17 Jahren. Auch hier wurde das Ernährungsverhalten der Frauen penibel dokumentiert, ohne jedoch von außen mit Ratschlägen einzugreifen. Dabei zeigte sich, dass Frauen in der Gruppe mit dem höchsten Konsum an Kohlenhydraten ein um 81 Prozent höheres Brustkrebsrisiko ­hatten.

Um den höheren Zuckergehalt im Blut abzubauen, zeigten diese Frauen auch einen kons­tant höheren Insulinspiegel. Die Forscher wiesen darauf hin, dass Insulin – neben seiner Funktion in der Blutzuckerverwertung – auch ein potenter Wachstumsfaktor für bestimmte ­Tumoren ist. Je mehr wir über die Ernährung Insulin freisetzen, desto höher ist das Brustkrebsrisiko – und zwar speziell für die besonders problematischen hormonell geförderten ­Brustkrebsarten. Die Empfehlung einer fett­armen Diät, die zwangsläufig einen erhöhten Konsum von Kohlenhydraten nach sich zieht, fördert also indirekt das Entstehen von Krebs. Ebenso erstaunlich realitätsfremd sind die landläufigen Empfehlungen für das Idealgewicht, die im ärztlichen Abschlussgespräch der Vorsorgeuntersuchung ebenso vermittelt werden wie beim „Gesundheitscheck“ in Apotheken oder sogar auf der Homepage der Supermarktkette Billa. Dort gibt es einen Rechner, der über die Eingabe von Körpergröße und Gewicht im Nu den so ­genannten Body-Mass-Index (BMI) auswirft.

Bei einem Ergebnis zwischen 18,5 und 24,9 erhält man das Jubelresultat: „Hervorragend! Ihr Gewicht liegt im gesunden Bereich.“ Sobald der BMI steigt, wird man zum Arzt geschickt, um dort Risikofaktoren für Diabetes oder Herzkrankheiten abklären zu lassen. Ab einem BMI von 30 erhält man die herbe Diagnose „Fettsucht“ (Adipositas), welche ein „erhebliches Risiko für Ihre Gesundheit darstellt“.

Was für junge Menschen tatsächlich stimmt, dreht sich in der zweiten Lebenshälfte aber in Wahrheit um, wie viele Studien belegen. Eine im Juni im Nature-Journal „Obesity“ publizierte Arbeit der Gesundheitsbehörden im kanadischen Ottawa zeigte dies wieder eindrucksvoll. Im Lauf einer zwölfjährigen Beobachtungszeit hatten in der mehr als 11.000 Teilnehmer umfassenden Studiengruppe die Untergewichtigen das mit Abstand höchste Sterberisiko. Es lag um 73 Prozent über jenem der Normalgewichtigen und war damit doppelt so hoch wie jenes der extrem Dicken mit einem BMI über 35.

Immunboost. Deutlich besser als die Normalgewichtigen schnitten hingegen die etwas Übergewichtigen (BMI von 25 bis 30) ab. Sie hatten ein um 17 Prozent geringeres Sterberisiko. Und sogar jene, die laut Billa an gefährlicher „Fettsucht“ leiden, lagen knapp, aber statistisch signifikant unter dem Risiko der Normalgewichtigen. Gewichtsempfehlungen ohne Berücksichtigung des Alters sind demnach sogar gefährlich.

Als eine der Standardweisheiten des Vorsorgegedankens gilt der Vorsatz, das Immunsystem und damit die Abwehrkräfte zu stärken. Dafür werden in den Apotheken und Drogeriemärkten zahllose Produkte angeboten, die sich entweder auf die Kraft der Vitamine, von Spurenelementen oder Heilpflanzen berufen. Beweise für deren Nutzen sind jedoch rar. Eine ganze Reihe methodisch hochwertiger Studien zerbröselte in den vergangenen Jahren den guten Ruf der Vitaminzusätze. Die vorbeugende Einnahme der Vitamine C oder E bietet keinerlei Schutz vor Herzkrankheiten. Im Gegenteil: ­Vitamin E erhöht sogar die Gefahr von Hirnblutungen und Herzschwäche. Ähnlich schlechte Resultate lieferten Studien, in denen die Eignung von Vitamin A oder E zur Krebsvorsorge getestet wurde. Vitamin C und das Spuren­element Selen nützen zwar auch nichts, erhöhen aber ­immerhin das Sterberisiko nicht. Ein bescheidenes Ergebnis liefern Vitamin-C-Präparate, die zur Abwehr von Erkältungen eingenommen werden. Eine von der internationalen Cochrane Collaboration durchgeführte Metaanalyse von 30 Studien ergab nur in einer Untergruppe von Leistungssportlern einen kleinen messbaren Effekt. „In der Normalbevölkerung gibt es für die Erkältungsprophylaxe hingegen keine rationalen Argumente.“

Unter den Heilpflanzen wird vor allem dem Sonnenhut (Echinacea) eine das Immunsystem stärkende Wirkung nachgesagt. Eine im vergangenen Juli publizierte Cochrane-Analyse fand keinen Beleg für einen vorbeugenden Nutzen bei Husten, Schnupfen oder Heiserkeit. Einige Arbeiten gestehen dem Präparat lediglich im Frühstadium einer Erkältung eine gewisse Wirksamkeit zu. „Insgesamt sind die klinischen Effekte von alternativen Immun-Stimulanzien wenig beeindruckend“, erklärt dazu Edzard Ernst, der sich an der englischen Universität Exeter der systematischen Prüfung komplementärmedizinischer Methoden widmet.

Vergleichsweise riesig ist hingegen der präventive Effekt eines erfolgreichen Nikotinentzugs. „Mit dem Rauchen aufzuhören ist wirksamer als alle anderen Vorsorgemaßnahmen zusammen“, meint Klaus Koch vom Kölner Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. An zweiter Stelle folgt der unbestrittene Nutzen von Bewegung, speziell für die Herzgesundheit. Bereits deutlich weniger klar ist hingegen der Einfluss von Bewegung bei der Krebsvorbeugung. Eine Langzeitstudie unter kalifornischen Lehrerinnen verglich beispielsweise sehr aktive Frauen, die sich im Schnitt mehr als fünf Stunden pro Woche körperlich betätigten, mit Frauen in der niedrigsten Aktivitätsgruppe. Bei Brustkrebs verringerte sich deren Risiko gerade mal um ein Fünftel. In anderen großen Studien verschwand die Aussagekraft gänzlich, sobald auch andere bekannte Risikofaktoren in die Bewertung mit einbezogen wurden und der vorbeugende Nutzen der Bewegung verpuffte.

Gesundheitssklaven. Ähnlich sieht es bei Männern und Prostatakrebs aus. Die letzte Auswertung der großen US-Ärztestudie mit 14 Jahren Beobachtungszeit und knapp 50.000 Teilnehmern zeigte keinen Vorteil von starker oder mäßiger Bewegung gegenüber keiner Bewegung. Positive Effekte zeigten sich nur in Untergruppen, etwa bei den über 65-jährigen, besonders aktiven Männern. Macht es demnach überhaupt Sinn, der Allgemeinheit eine aus dem statistischen Durchschnitt abgeleitete Vorbeugebotschaft mitzugeben? Der Kölner Psychiater und Theologe Manfred Lütz bestreitet dies. „Dazu ist der Mensch viel zu individuell, und es liegt zu vieles in den Genen verborgen, was wir gar nicht beurteilen können.“ Man könne die Leute eine gewisse Zeit lang zwingen, danach kehrten jene, die sich nicht zu Sklaven des Gesundheitswahns machen lassen, aber stets wieder zu ihrem lieb gewonnenen Lebensstil zurück. „Denn die Freiheit unserer Gesellschaft beinhaltet immer auch die Freiheit zu einem ungesunden Lebensstil“.

Oder, wie es der tschechische Mediziner Petr Skrabanek, einer der Vordenker der Präventionslehre, satirisch formulierte: „Ich rauche nicht, ich trinke nicht. Ich gehe abends nie lange aus. Ich schlafe nicht mit Frauen. Ich ernähre mich gesund und betreibe regelmäßig Sport. Aber all das wird sich gewaltig ändern, wenn ich endlich aus dem Gefängnis rauskomme.“