„Der Westen kann nichts unternehmen“

Syrien. Alan George über das Regime von Präsident Bashar al-Assad und warum der Westen nicht intervenieren kann

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Interview: Georg Hoffmann-Ostenhof, Gunther Müller

profil: Die Proteste in Syrien nehmen zu, die Gewalt des Regimes eskaliert. Kann die Diktatur von Präsident Bashar al-Assad überleben?
George: Es ist noch zu früh, das zu beurteilen. Derzeit zeigt das Regime noch keine Risse in ¬seinem Apparat. Entscheidend wird sein, ob die Proteste weitergehen und ob sie in den großen Städten zu Massenbewegungen anschwellen.

profil: Damaskus und Aleppo sind von der Protestbewegung noch nicht voll erfasst.
George: Genau. Aber das wird notwendig sein, um einen Wandel herbeizuführen. Dann nämlich muss Assad das Militär einsetzen, weil der Sicherheitsapparat zur Niederschlagung allein nicht ausreicht. In diesem Szenario könnte es passieren, dass Teile des Militärs sich auf die Seite der Demonstranten schlagen. Das wäre entscheidend.

profil: Es gibt jedoch Gerüchte, dass das bereits passiert sei: Teile des Militärs sollen Befehle des Regimes verweigert haben.
George: Ich habe davon gehört. Wir können aber nicht überprüfen, ob das stimmt. Grundsätzlich sind die Informationen der Regimegegner sehr verlässlich, sie übertreiben nicht in ihren Berichten. Wenn es tatsächlich zu einem Bruch innerhalb des Militärs gekommen ist, dann lokal. Ich habe gehört, dass ein Befehlshaber verletzte Demonstranten schützen wollte und daraufhin verhaftet wurde. Das ist gut möglich, weil ein Großteil der Soldaten einfache Bürger sind, deren Familien sich zum Teil der Protestbewegung angeschlossen haben. Das stellt das Regime vor ein gewaltiges Problem.

profil: Welche Organisation ist die stärkste im syrischen Sicherheitsapparat: die Geheimdienste, das Militär oder die Polizei?
George: Eindeutig die Geheimdienste, von denen es sieben geben soll. Sie verfügen über das meiste Personal, sind erfahren und effizient im Niederwälzen von Protestbewegungen. Man kann die syrischen Geheimdienste mit dem Revolutionskomitee von Muammar Gaddafi vergleichen. Diese Leute werden dem Machthaber immer treu bleiben, ganz egal, was passiert.

profil: Bislang hatte man den Eindruck, dass Assad ein möglicher Reformer ist. Jetzt zeigt sich das Gegenteil. Was ist passiert?
George: Assad inszeniert sich jetzt als Reformer, weil er den jahrzehntelangen Ausnahmezustand aufgehoben hat. Aber dieser Mann ist für den Tod von Hunderten Demonstranten verantwortlich. Das disqualifiziert ihn für mich als einen Machthaber, der bereit ist, sich zu öffnen, und es disqualifiziert ihn dafür, irgendeine Funktion in diesem Land zu übernehmen, wenn sein Machtapparat gestürzt wird. Erinnern wir uns: Im Jahr 2000 gab es einen Damaszener Frühling: Assad öffnete sein Land vorübergehend, ließ freie Medien und Versammlungsfreiheit zu. Doch nach sechs Monaten wurde die Reformbewegung brutal niedergeschlagen.

profil: Wer war dafür verantwortlich?
George: Offenbar hat sich der Machtzirkel rund um Assads Vater gegen Reformen aufgelehnt, und Assad hatte nicht genügend Rückhalt im Regime, um ein Niederwälzen des Damaszener Frühlings zu verhindern. Damals war er jung und unerfahren, konnte sich gegen die alten Garden nicht zu Wehr setzen. Mittlerweile ist dieser Mann aber seit zehn Jahren an der Macht. Er hätte genügend Autorität, um sein Land zu öffnen. Er hätte die Chance gehabt, Schlüsselpositionen mit reformorientierten Kräften zu besetzen – dazu kam es aber nicht. Assad hätte nach den blutigen Auseinandersetzungen der vergangenen Wochen auch zurücktreten können. Doch auch das ist nicht passiert. Er ist offenbar eine schwache Persönlichkeit.

profil: Der Mut der Demonstranten ist beeindruckend. In Ägypten wussten die Demonstranten, dass das Heer neutral bleibt. Wer aber in Syrien auf die Straße geht, muss damit rechnen, erschossen zu werden.
George: Das erstaunt mich jeden Tag aufs Neue. Vor allem, weil die Mehrheit der Demonstranten keine politischen Menschen sind, sondern einfache Bürger. Sie gehen auf die Straße, weil sie genug haben von der alltäglichen Korruption und Unterdrückung.

profil: Ist es nur der Wunsch nach politischen Reformen, oder hat der Aufstand auch wirtschaftliche Gründe wie in Tunesien?
George: Die Jugendarbeitslosigkeit in Syrien ist enorm hoch – das ist sicherlich ein wichtiger Faktor in der syrischen Revolte. Das allein reicht aber nicht aus, um diese Massen auf die Straße zu bringen. Dieser Aufstand ist daher durch mehrere Missstände – Arbeitslosigkeit, Korruption, Armut – ausgelöst worden.

profil: Wer organisiert den Volksaufstand in Syrien, steckt eine Organisation dahinter?
George: Menschenrechtsaktivisten, Künstler, Schriftsteller und intellektuelle Liberale, die Teil des Damaszener Frühlings im Jahr 2000 waren, sind heute wieder an vorderster Front. Man kann sie aber nicht als Anführer der Revolte bezeichnen. Sie inspirieren die Menschen und arbeiten mit ihnen zusammen, mehr aber nicht. In den vergangenen Tagen haben sich ein paar lokale Komitees der Demonstranten gebildet. Dahinter steckt aber keine große politische Bewegung. In Syrien verläuft die Revolte ganz ähnlich wie in Ägypten: Die Bewegung wird vom Volk getragen.

profil: Traditionell ist in Syrien die Muslimbruderschaft eine der stärksten Bewegungen. Was für eine Rolle spielt sie jetzt im Volksaufstand?
George: Die Muslimbrüder haben sich sehr gewandelt. Bis in die achtziger Jahre waren sie eine radikal-islamische Bewegung, die mit Gewalt ihre Ziele verfolgte. Heute sind sie demokratisch und friedlich. Ihre Reputation im Volk ist aber angeknackst, seitdem die Muslimbrüder mit dem ehemaligen syrischen Vizepräsidenten Abd al-Halim Chaddam, der jahrelang für das Regime arbeitete, kooperiert haben. Das haben ihnen viele Syrer übel genommen.

profil: Präsident Assad und ein nicht kleiner Teil des Machtapparats stammen aus der Sekte der Alawiten, die von Teilen der Muslime als häretisch angesehen wird: Kann man da nicht mit Racheaktionen an den Alawiten rechnen?
George: Ein Comeback von alten islamistischen Netzwerken ist durchaus möglich. Ihr Kampf würde sicherlich der kleinen Gruppe von säkularen Alawiten gelten, Racheaktionen sind daher zumindest theoretisch möglich. Ich glaube aber nicht, dass es am Ende so weit kommt. Ich habe mit vielen Demonstranten gesprochen, und niemand von ihnen fordert Racheakte an der alawitischen Elite des Landes. Alle Parteien im Land sind sich im Grunde einig, dass Syrien ein Mosaik aus unterschiedlichen religiösen und ethnischen Gruppen ist. Dieses Land hat sich seit den achtziger Jahren sehr modernisiert. Radikaler Islamismus spielt eine schrumpfende Rolle.

profil: Warum?
George: Das liegt an der jungen Generation, die modern, gebildet und durch das Internet global vernetzt ist. Diese Leute wissen genau, was im Land und auch außerhalb passiert. Mit radikalen Fundis wollen sie nichts zu tun haben.

profil: Syrien hat sich in den vergangenen Jahren auch wirtschaftlich geöffnet.
George: Da müssen Sie vorsichtig sein. Wir sprechen hier nicht von einer Öffnung zur freien Marktwirtschaft. Ich würde eher sagen: Die Söhne und Töchter dieses verbrecherischen Regimes haben in den vergangenen Jahren damit begonnen, Geschäfte zu machen. Die Wirtschaft ist also immer noch unter der Kontrolle Assads. Die Öffnung zum Kapitalismus war notwendig, weil die Staatsbetriebe enorm ineffizient sind. Die Manager wurden aber nicht anhand ihrer Kompetenzen, sondern anhand ihrer Loyalität zum Regime ausgesucht.

profil: Wie soll die internationale Staatengemeinschaft auf die blutige Niederschlagung des Volksaufstands reagieren?
George: Leider kann der Westen nichts unternehmen. Es werden Sanktionen gegen das Assad-Regime verhängt, aber das hat keinerlei Auswirkungen.

profil: Ist eine militärische Intervention wie in Libyen denkbar?
George: Dazu wird es aufgrund der komplizierten geopolitischen Position Syriens nicht kommen. Das Gaddafi-Regime ist international weitgehend isoliert. Wenn der Westen aber Assad angreift, hätte das gefährliche Auswirkungen auf die gesamte Region. Syrien ist ein enger Verbündeter des Mullah-Regimes im Iran. Hinzu kommen die von Assad traditionell unterstützten islamistischen Organisationen Hamas und Hisbollah, Syrien spielt daher auch in der Palästinenserfrage eine wichtige Rolle. Ein Umsturz des Regimes könnte auch zu neuen Unruhen im Irak führen. Und selbst wenn der Westen in Damaskus interveniert – das Morden würde definitiv weitergehen.

profil: Glauben Sie, wird sich das Schicksal von Muammar Gaddafi auf die Ereignisse in Syrien auswirken?
George: Definitiv. Die gesamte Region steht vor einer entscheidenden Wende. Wenn sich Gaddafi an der Macht hält, dann wird das alle Autokraten und Diktatoren im arabischen Raum ermutigen. Dann lautet die Botschaft: Wer die Demonstranten brutal zurückschlägt, wird erfolgreich sein und weiterhin sein Land beherrschen können.

profil: Gibt es kein positives Zukunftsszenario für Syrien?
George: Das Regime hat bewiesen, dass es unfähig ist, Reformen einzuleiten. Es kann nicht einmal die kleinsten Schritte gegen Korruption unternehmen, weil es die mächtige Elite im Land und damit sich selbst bekämpfen müsste. Wie ich schon sagte: Die einzige Chance der Demokratiebewegung ist, dass das Militär gegen die Demonstranten eingesetzt wird und Teile des Heers überlaufen. Das syrische Militär könnte wie in Ägypten provisorisch die Macht übernehmen, bis es nach ein paar Monaten zu freien Wahlen kommt.