Der drohende Zerfall der Währungsunion

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Als vor gut einem Jahrzehnt der Euro geboren wurde, sprachen ihm mehrere angelsächsische Wirtschaftsprofessoren die Zukunft ab. Die präsumtiven Euro-Staaten bildeten keinen optimalen Währungsraum, lautete die Diagnose. Und weil die Länder wirtschaftspolitisch nun einmal so unterschiedlich tickten wie zum Beispiel Deutschland auf der einen und Italien auf der anderen Seite, würde es den Euro früher oder später zerreißen.

Im ersten Jahrzehnt verlief die Entwicklung so, dass alle schon glaubten, diese angelsächsischen Professoren hätten geirrt. Ungleichgewichte gab es zwar in diesem Währungsraum, keine Frage, aber die Europäische Zentralbank (EZB) schaffte es trotzdem anscheinend mühelos, eine einheitliche Geldpolitik für ganz Europa zu betreiben. Zwar war es zum Beispiel den Italienern jetzt nicht mehr möglich, ihre Währung zwecks Ausgleich der Ungleichgewichte abzuwerten – dieses Scharnier war ja verschweißt. Gemäß Lehrbuch hätten die Zinsen für die Staatsschuld von Schuldenmacher-Ländern – beziehungsweise von Ländern, deren Löhne stärker anstiegen, als es ihr Produktivitätswachstum eigentlich erlaubte – unter den neuen Voraussetzungen weit über die Zinsen von besonders disziplinierten Ländern steigen müssen. So wäre, gemäß Lehrbuch, der Schuldenmacherei eine Grenze gesetzt worden. Die Problemländer hätten also eine Wirtschaftspolitik betreiben müssen, die starkes Lohnwachstum verhindert.

Nichts davon geschah. Die Zinsen der Staatsschuld stiegen auch in „undisziplinierten“ Ländern nur minimal an, und die so genannten Lohnstückkosten im Euro-Raum gingen dramatisch auseinander. Die strengen Vorgaben des Vertrags von Maastricht und des so genannten Stabilitätspakts (das Budgetdefizit darf nicht höher sein als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, BIP; der staatliche Schuldenstand soll sechzig Prozent des BIP nicht übersteigen; und so weiter), die strengen Regeln also, wurden entschärft und de facto außer Kraft gesetzt. Denn sobald einflussreiche EU-Länder zu sündigen begannen, machten sie ihren Einfluss in Brüssel geltend und verhinderten Sanktionen. Und obwohl jetzt das Regelwerk nur mehr halbherzig befolgt wurde, behielt die EZB weiterhin die Zügel in der Hand.

Doch dann kam die Krise. Mit einem Mal schnellten die Zinsen für die Schulden jener laxen Euro-Länder, die von den Märkten nun plötzlich doch als Problemkinder eingestuft wurden, dramatisch in die Höhe. Von den Kosten der Derivativpapiere für solche Staaten (den so genannten Credit Default Swaps, CDSs) ganz zu schweigen. Gerüchte kamen auf, dass es den Euro nun wirklich zerreißen könnte. EZB-Präsident Jean-Claude Trichet begann sich ernste Sorgen zu machen.

Dann wieder – Entwarnung. Die Krise sei vorbei, erklärten die Wirtschaftsforscher, jedenfalls insofern, als sie die Geld- und Finanzmärkte betroffen habe. Sogleich gingen die Zinsaufschläge für die „weniger disziplinierten“ Länder (es handelte sich vornehmlich um Italien, Griechenland, Portugal, Spanien, Irland und das Nicht-Euro-Mitglied Großbritannien) wieder zurück, desgleichen die erwähnten Derivativ-sätze. Alles wiegte sich wieder in Sicherheit.

Aber denkste.

Die EZB weiß, dass die großen Aufgaben jetzt nicht enden, sondern dass neue auf sie zukommen. Denn die Realitäten, die den Entwicklungen auf den Geld- und Finanzmärkten zugrunde liegen, lassen sich zwar kurz- und (vielleicht sogar) mittelfristig überspielen, langfristig aber sicher nicht. Und langfristig könnte die Sache noch haarig werden.

Die EZB hat sich in ihrem ersten Lebensjahrzehnt den Ruf erworben, in ihrer strikten Stabilitätspolitik eine echte Nachfolgerin der stabilitätssüchtigen Deutschen Zentralbank, der Bundesbank, zu sein. Diesen Ruf akzeptierte die EZB-Führung gern, gab er ihr doch die Möglichkeit, besagten Erwartungen gemäß die Verhaltensweise der Player auf den Finanzmärkten zu beeinflussen. Doch der Ruf der EZB ist ein Paar Schuhe, ihre wirkliche Vorgangsweise ein anderes: In Wahrheit erwies sich die EZB gerade in der jüngeren Vergangenheit als nicht stabilitätssüchtig, sondern als in ihrer Gratwanderung zwischen Stabilitätspolitik und Wachstumsförderung durchaus pragmatisch.

Wenn in den nächsten Jahren allerdings die Quoten der Staatsschuld in mehreren Euro-Ländern auf achtzig, neunzig Prozent oder mehr klettern und die Finanzmärkte ab irgendeinem Punkt mit ernsthaften Zinsaufschlägen reagieren, dann – ja, was passiert dann?

In Wahrheit weiß das heute vermutlich nicht einmal EZB-Präsident Jean-Claude Trichet. Noch.

Klar ist nur, dass die Zukunft gewaltige Explosionsgefahren in sich birgt.

Die Währungshüter sinnieren noch. Sie studieren Ausarbeitungen von Experten, die verschiedene Szenarien in aller Stille durchdenken. Wie stellt sich eigentlich die Rechtslage dar? Ist es zum Beispiel möglich, den Euro-Raum zu verlassen und dennoch EU-Mitglied zu bleiben? Wie hängen Binnenmarkt und Euro-Raum zusammen? Von welchem Szenario geht die größte Bedrohung aus? Von einem, demzufolge ein kleines schwaches Defizitland bankrottgeht, oder von einem, demzufolge eine Gruppe starker und „disziplinierter“ Euro-Länder beschließt, sich in Form einer Kern-Währungsunion abzukoppeln und die Schwächeren hinter sich zu lassen?

Zwei Aspekte der künftigen Entwicklung verdienen es, auch jenseits von Expertenzirkeln erörtert zu werden. Da ist einmal das ambivalente Verhältnis der beiden wichtigen EU-Staaten Deutschland und Frankreich. Auch auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik besteht zwischen ihnen ein kompliziertes Spannungsverhältnis: Wann immer Deutschland geglaubt hat, wirtschaftlich in Probleme zu geraten, schlug es bisher den Weg einer strikten Austerity-Politik ein. Also: Drohte ein ernstes Budgetdefizit, schnürte man Sparpakete und erhöhte die Steuern. Als alle Welt die deutschen Arbeitsmärkte kritisierte und Deregulierungen forderte, stellten Deutschlands Gewerkschafter abrupt auf Mäßigung um. Seither sinken die deutschen Lohnstückkosten im europäischen Vergleich signifikant ab, Deutschland festigte so seinen Ruf als „Exportweltmeister“.

Ganz anders Frankreich. Die Momentaufnahme zeigt hier das Bild eines Landes, dessen Regierung nicht nur, und zwar ziemlich offen, protektionistische Reflexe zeigt. In jüngster Vergangenheit lassen sich auch ziemlich konkrete Hinweise darauf finden, dass die französische Regierung nicht wirklich die Absicht hat, ihren wirtschaftspolitischen Kurs in absehbarer Zeit auf unpopuläres Budgetsanieren umzustellen.

Das heißt: Bleibt Deutschland beim bisherigen Muster, dann wird die Euro-Spannung zwischen den beiden Staaten in den nächsten Jahren unerträglich. Setzt sich hingegen die FDP in den Koalitionsverhandlungen mit ihrem Kurs der Steuersenkungen auch dann, wenn es das Budget kaum hergibt, durch, dann ergibt sich eine noch nie da gewesene Konstellation.

Eine, deren Konsequenzen für den Euro noch niemand wirklich überblicken kann.

Der zweite Aspekt, der auch jenseits von Expertenzirkeln erörtert werden sollte, betrifft die zwei ganz unterschiedlichen Arten von Budgetdefiziten, nämlich das konjunkturelle und das strukturelle.

Am Ende der wirtschaftspolitisch „neoliberalen“ Ära glaubte keiner mehr an Konjunkturzyklen. Als etwa Karl-Heinz Grasser im Finanzministerium saß, war nur mehr von „Deregulierung“ und „budgetärer Strukturpolitik“ die Rede. Seit der Krise hat sich das wieder gedreht.

Als die EU-Finanzminister vor ein paar Jahren den „Stabilitätspakt“ umgemodelt haben, einigten sie sich darauf, die „strukturellen Ausgabenelemente“ der Staatshaushalte (also zum Beispiel die Bereiche Gesundheit und Renten) jedes Jahr um einen halben Prozentpunkt zurückzufahren. So lange, bis die erwünschte Haushaltsdisziplin erreicht sei.

Genau diese Aufgabe, der sich die Finanzminister damals verschrieben haben, ist jetzt wieder angesprochen: Derzeit sind die Budgets der EU- und Euro-Länder aus konjunkturpolitischen Gründen derart defizitär. Aber auf mittlere und lange Sicht werden sie aus demografischen – also strukturellen – Gründen noch viel defizitärer werden.

Wenn also die Staaten in den kommenden Jahren ihre Fiskalpolitik von derzeit „expansiv“ auf „Sparen“ umstellen wollen, dann überlappen sich die konjunkturellen und strukturellen Erfordernisse:

„Richtig“ (im Sinn des Beschlusses der EU-Finanzminister) wäre es, nach dem Ende der Finanzkrise zwar nicht die Konjunkturausgaben, wohl aber die „strukturellen Budgetausgaben“ weiter zurückzufahren. Aber hat denn Geld ein Mascherl? Sind Staatsausgaben wirklich so eindeutig dem „konjunkturellen“ oder dem „strukturellen“ Zweck zuzuordnen? Antwort: Nein. Außerdem wird gerade zu dem Zeitpunkt, zu dem das „strukturelle Sparen“ wieder beginnen müsste (also ab etwa 2012), jener Aspekt ins allgemeine Bewusstsein rücken, der jetzt in der Wucht seiner Auswirkungen auf die Staatshaushalte noch überhaupt nicht bewusst ist: die Überalterung der Bevölkerung. Also der demografische Faktor und seine – wirklich explosiven – Konsequenzen für die Defizite.

Das alles muss und wird der Euro überstehen. Auch wenn es für Europas Zentralbank bedeutet, dass sie noch viel lernen muss.


Liselotte Palme, langjährige profil-Wirtschaftsredakteurin, arbeitet heute als freie Autorin für Medien im In- und Ausland.