Der maghrebinische Zündkreis

Der maghrebinische Zündkreis: Revolte der Hoffnungslosen in Tunesien

Tunesien. Revolte der Hoffnungslosen

Drucken

Schriftgröße

Ein untrügliches Indiz für die Verkommenheit eines Regimes ist zweifelsohne, dass sich seine Machthaber große Raubkatzen als Haustiere halten: Tiger zum Beispiel. Saif al-Gaddafi, Sohn des libyschen Revolutionsführers, besitzt zwei davon, der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow einen. Und auch im weitläufigen Anwesen von Sakher el-Materi im tunesischen Badeort Hammamet schnurrt ein Exemplar der Spezies Panthera tigris.

Sakher el-Materi ist der breiteren Öffentlichkeit im Gegensatz zu Gaddafi und Kadyrow ebenso unbekannt wie auch der Umstand, dass seine Heimat nicht nur eine beliebte Urlaubsdestination ist, sondern gleichzeitig eine brutale Despotie. Letzteres nimmt die Welt erst zur Kenntnis, seit dort Aufstände toben, bei denen bereits mehr als 140 Menschen ums Leben gekommen sind. Die meisten wurden von der Polizei erschossen, mehrere haben sich jedoch selbst verbrannt - aus Protest gegen die Umtriebe jener Familie, der Sakher el-Materi angehört: dem weitverzweigten Clan von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali.

Bis vergangenen Freitag regierte der 74-Jährige gemeinsam mit seiner Frau Leila in einer eigenwilligen Mischung aus gesellschaftlicher Liberalität, religiöser Toleranz, polizeistaatlicher Repression sowie unverblümtem Nepotismus und hemmungsloser Korruption. Fast ein Vierteljahrhundert funktionierte dieses Rezept.

Am Freitag jedoch musste der Präsident die Regierung auflösen und Neuwahlen ankündigen, ehe er sich nach Saudi Arabien absetzte. Das beruhigte die Lage nicht: Die Aufstände griffen vom Landesinneren auf die Hauptstadt Tunis und die Touristenzentren an der Küste über, die Behörden verhängten den Ausnahmezustand, die Armee besetzte den Flughafen der Hauptstadt Tunis, tausende Touristen wurden von Reiseveranstaltern wie TUI und Neckermann eilig evakuiert. Am Samstag bracht vor dem Innenministerium eine Schießerei aus, bei einer Gefängnisrevolte starben mindestens 60 Menschen.

Jede weitere Eskalation könnte unabsehbare Folgen für andere Regime in Nordafrika haben - besonders jene von Hosni Mubarak in Ägypten oder von Abd el-Aziz Bouteflika in Algerien.

Die drei Länder lassen sich nicht eins zu eins miteinander vergleichen. Was Tunesien im Gegensatz zu den beiden anderen etwa fehlt, sind einflussreiche radikalislamische Bewegungen. In einer Hinsicht jedoch war die Herrschaft von Ben Ali ein Musterbeispiel für die Region: die explosive Mischung, die entsteht, wenn ein sklerotisches System einer überwiegend jungen Bevölkerung nicht nur die politischen, sondern auch die wirtschaftlichen Perspektiven verstellt.

Das wird klar, wenn man die Entwicklung der Aufstände in Tunesien von ganz unten bis ganz oben nachverfolgt. Am 17. Dezember des Vorjahrs übergoss sich vor dem Gouverneurspalast der Stadt Sidi Bouzid ein Mann namens Mohamed Bouazizi mit brennbarer Flüssigkeit und zündete sich an. Bouazizi war so etwas wie der Tunesier schlechthin: mit 27 Jahren genauso alt wie der Durchschnitt der männlichen Bevölkerung, gut gebildet und trotzdem ohne Job.

Offiziell liegt die Arbeitslosenrate in Tunesien bei 14 Prozent, in Wahrheit ist sie aber deutlich höher. Besonders unter den Absolventen von höheren Schulen und Universitäten beträgt sie 25 Prozent bei Männern und 44 Prozent bei Frauen.

Bevor er seinem Leben durch Selbstverbrennung ein Ende setzte, hatte sich Bouazizi als Obst- und Gemüsehändler auf der Straße durchzuschlagen versucht. Das ist allerdings illegal - und weil er das Schmiergeld, das tunesische Behörden darüber hätte hinwegsehen lassen, nicht zahlen konnte oder wollte, wurde sein Schubkarren samt Ware immer wieder beschlagnahmt. Bouazizi war bereits schwer verschuldet, als die Polizei ihn an diesem Freitag im Dezember wieder einmal stellte und zu umgerechnet 160 Euro Strafe - ein durchschnittlicher Monatslohn - verdonnerte.

Im Gouverneurspalast wollte ihn mit seiner Beschwerde keiner anhören. Bouazizi ging nach Hause und schrieb auf seinem Facebook-Account eine letzte Nachricht. "Ich habe genug vom Weinen ohne Tränen, Vorwürfe sind nutzlos in diesen grausamen Zeiten. Ich bin müde“, heißt es darin. Dann kehrte er mit zwei Flaschen Lösungsmittel zum Amtssitz des Gouverneurs zurück.

Mohamed Bouazizi war ganz unten an jenem System zerbrochen, auf dem die Familie von Ben Ali ganz oben ihren immensen Wohlstand begründet hat und das der US-Botschafter in Tunis in einer auf WikiLeaks veröffentlichten Depesche so beschreibt: "Egal, ob Bargeld, Dienstleistungen, Grund und Boden, Immobilien oder, ja, sogar eine Yacht: Die Familie von Ben Ali will es haben und bekommt offenbar auch alles, was sie haben will.“

Zwei Clans haben sich das Land und seine Wirtschaft untereinander aufgeteilt: jener des Präsidenten und jener seiner Frau Leila - die Trabelsis, die bei der Bevölkerung inzwischen besonders verhasst sind. Die First Lady etwa ließ sich vor nicht allzu langer Zeit vom Staat die Errichtung einer Privatschule mit Millionenbeträgen sponsern, um sie dann gewinnbringend an ausländische Investoren zu verscherbeln. Ihrem Bruder Belhassen gehört die Groupe Karthago, die Fluglinien, Hotels, Reisebüros und Telekomunternehmen sowie eine private Radiostation besitzt.

Wer es sich mit den Trabelsis, die vor allem den Großraum Tunis kontrollieren, gutstellen will, tut das am besten durch Spenden an eine der Charity-Organisationen für Behinderte, die sich Leila Ben Ali hält, oder an das Fußballteam von Belhassen.

Ähnlich kommt man wohl auch an den Clan des Präsidenten heran, zu dem etwa Ben Alis Schwiegersohn Sakher el-Materi zählt. Zu seiner Princess Holding gehören Reedereien, Autohäuser und der Sender Islamic Zitouna FM. Das Anwesen mit dem Tigerkäfig, das el-Materi bewohnt, war eigentlich für das Wasserministerium vorgesehen, wurde ihm aber zur privaten Nutzung überlassen. "Er lebt in großem Wohlstand und Überfluss“, kabelte der US-Botschafter im Juli 2009 nach einer Essenseinladung in der Villa nach Washington. "Das illustriert, warum die Ablehnung der Verwandten von Präsident Ben Ali in der Bevölkerung steigt.“

Es ist aber nicht nur das. Jeder, der in Tunesien ein größeres Geschäft abwickelt, muss fürchten, dass die Präsidentenfamilie einen Anteil daran fordert. Das hat letztlich sogar Auswirkungen bis ganz nach unten zu Mohamed Bouazizi. Die allgegenwärtige Korruption führt dazu, dass wohlhabende Tunesier ihr Geld nicht mehr im Land investieren, sondern im Ausland parken - was wiederum dazu führt, dass weniger Jobs geschaffen werden und die Frustration in der Bevölkerung steigt.

Damit schließt sich der Zündkreis, der in Tunesien zur Explosion geführt hat - und in Ägypten oder Algerien möglicherweise nur noch auf einen wie Mohamed Bouazizi wartet.