Globalisierung: Zug der Heuschrecken

Der Zug der Heuschrecken: zur Kapitalis-mus-Schelte von Franz Müntefering

Wird Europa vom Neolibe-ralismus aufgefressen?

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Harald Schmidt war in Deutschland vermutlich der Einzige, der vergnügt die Internationale sang. Im Fernsehen. Als Franz Müntefering, Chef der deutschen Sozialdemokraten, Mitte April mit dem Holzhammer seiner Kapitalismusschelte auf die deutsche Politszene einschlug (siehe Kasten Seite 43), wurden die meisten anderen öffentlichen Meinungsbildner eher von einer Art wortreicher Verlegenheit ergriffen.

Müntefering hatte angesichts der bevorstehenden Wahlen in Nordrhein-Westfalen aus taktisch-populistischen Gründen den Finanz- und Raubtierkapitalismus, der sich seinen Aussagen nach in Deutschland zunehmend ausbreite, hart angegriffen. „Wie Heuschreckenschwärme“, so der SPD-Chef, fielen so genannte Hedge-Fonds und Private-Equity-Gesellschaften über die Wirtschaft des Landes her, grasten sie profitgierig ab, um dann, Ödland zurücklassend, wieder weiterzuziehen. Auch der wahlkämpfende Kanzler Gerhard Schröder geißelte das „entfesselte neoliberale Wirtschaftssystem“.

Die meisten politischen Akteure Deutschlands flüchteten nach diesem überraschenden SPD-Ausritt sogleich verschreckt in ihre gewohnte Ecke der sozialen Marktwirtschaft: Die SPD machte klar, Müntefering wolle die soziale Marktwirtschaft vor dem Kapitalismus retten, die FDP beeilte sich, die soziale Marktwirtschaft vor Müntefering zu retten, und CDU wie CSU eilten dem Begriff, den schließlich ursprünglich sie besetzt, wenn nicht gar geprägt zu haben glauben, zu Hilfe, um ihn vor allen anderen zu retten.

Handgreiflichkeiten. Aber die Aufregung legte sich dadurch nicht. Im Gegenteil, da und dort brach buchstäblich das Chaos aus. Bei einer von Müntefering besuchten Betriebsversammlung kam es gar zu Handgreiflichkeiten, Arbeiter bewarfen ihn mit Eiern. Andere benutzten die besondere mediale Aufmerksamkeit, um sich überraschend wider das eigene Klasseninteresse zu outen. So gab Porsche-Chef Wendelin Wiedeking dem SPD-Vorsitzenden Rückendeckung, indem er sich in der Wochenzeitung „Die Zeit“ zu ähnlichen Ansichten wie dieser bekannte: „Wenn der Papst dasselbe sagt wie Müntefering, bekommen alle Leute glänzende Augen und jubeln ihm zu“, sagte er.

Die meisten Reaktionen auf „Münte“, wie der SPD-Chef von seinen Genossen genannt wird, waren freilich vorhersehbar. Die deutschen Standortneurotiker, von wirtschaftsliberalen Ökonomen bis zu Firmenbossen, heulten auf und klagten wieder einmal in die Welt hinaus, wie wenig die Deutschen im Allgemeinen und die rotgrüne Regierung im Besonderen ihre Marktwirtschaft lieben. Sorgenvolle Soziologen wie Ulrich Beck schrieben sich angesichts des zum Sterben verurteilten Sozialstaats im Feuilleton ihre Wehmut von der Seele. Aber auch fröhlichere Denker wie Peter Sloterdijk tönten von nahender „Vierfünftelgesellschaft“ und „autoritärem Kapitalismus“.

„Einfach gut“. Während sich die Deutschen wieder einmal in ideologischen Krämpfen winden, freut sich in Österreich die Konkurrenzwirtschaft. Erste-Bank-Generaldirektor Andreas Treichl findet die Müntefering-Sager „einfach gut“. Treichl: „Klar. Denn wenn die in Deutschland mit der Wirtschaft in einem solchen Ton verkehren, wird das dazu führen, dass sie noch mehr Unternehmen verschrecken als bisher. Die kommen dann nach Österreich – beziehungsweise in unsere Wirtschaftsregion.“ Und RZB-Vorstand Karl Sevelda meint erkannt zu haben, „dass sich in Deutschland die frühere Ostmentalität im Westen stärker durchgesetzt hat als die Westmentalität im Osten“. Dagegen sei Österreich, bei allen Schwächen, „geradezu Gold“.

Auch wenn die Deutschen es erst jetzt zu entdecken scheinen: Die Wirtschaftswelt befindet sich schon seit mehr als einem Jahrzehnt in einem tiefgreifenden Änderungsprozess. Globalisierungskritische Aktivisten wie die Plattform Attac protestierten in den neunziger Jahren heftig gegen wachsende Ungleichheit, die als schrankenlos empfundene Macht der Konzerne und die Demontage des Sozialstaates. In der Zeit, als Europa noch mehrheitlich von Sozialdemokraten regiert war, beschränkte sich deren Widerstand gegen den – damals noch nicht so benannten – Neoliberalismus freilich im Wesentlichen auf Rhetorik à la „dritter Weg“. Als es ernsthaft darum ging, in Brüssel entsprechend zu handeln, versagte die Sozialdemokratie aber. Und jetzt mögen es die Genossen nicht so gerne hören, wenn ihnen jemand vorhält, es bringe wenig, um (selbst) vergossene Milch zu weinen.

Eine Weile fiel es auch kaum auf, dass hier europäische Chancen ungenutzt geblieben waren. Aber als dann im Mai 2004 die Staaten des früher kommunistischen Ostens der EU beitraten und damit vermehrte Niedriglohnkonkurrenz über Westeuropa hereinbrach, wurde es auch dem Durchschnittsbürger plötzlich klar: Die EU ist ja kein Schutz vor Globalisierung. Und die Globalisierung ist Realität! Von da an begannen sich auch immer mehr derjenigen, die früher Attac-Demos nur als Politfolklore am TV-Bildschirm beäugt hatten, für die Frage zu interessieren, wie denn die globale Wirtschaft konkret funktioniert und wie sie sich auf das eigene Leben auswirken könnte (abgesehen davon, dass einem die Globalisierung immer billiger werdende Textilien, Turnschuhe oder Möbel beschert). Man stellt sich die Frage: Ist an „Müntes“ Kritik womöglich was dran?

Der Graben zwischen den reichen und den armen Ländern der Erde zum Beispiel wird tatsächlich immer breiter. Allerdings ist das nicht erst seit dem Zeitpunkt so, als die Globalisierung zum Thema wurde. Nach den allgemein anerkannten Berechnungen des Wirtschaftshistorikers Angus Maddison verhielt sich im Jahr 1820 das Pro-Kopf-Einkommen des reichsten Landes der Erde zu jenem des ärmsten wie fünf zu eins. 1913 hatte sich dieser Abstand auf 13 zu eins erweitert, 1950 auf 33 zu eins, und heute ist der durchschnittliche US-Amerikaner mehr als hundertmal reicher als ein Bewohner der Republik Kongo.

Auch der Welthandel wächst nicht erst seit Kurzem, wenngleich sich die Dynamik der letzten Globalisierungsjahre besonders eindrucksvoll bemerkbar macht. Das Volumen des Welthandels erhöhte sich von 1950 bis 2002 auf das 43-Fache, das Bruttosozialprodukt der Welt nur auf das Zehnfache, das Pro-Kopf-Einkommen der Menschen auf das nicht ganz Dreifache. Nach Berechnungen der Weltbank ging die Zahl der Menschen, die von weniger als einem Dollar pro Tag leben müssen, von 1981 bis 2001 ein wenig zurück, nämlich von 1,45 Milliarden auf 1,1 Milliarden.

China. So weit die sehr langfristige Perspektive. Aus einem solchen Blickwinkel wird aber auch klar, dass es immer schon unterschiedliche Weltregionen waren, die mal vorne lagen und mal zurückblieben. Nicht immer fanden sich Europa oder die USA im ökonomischen Wettlauf an der Spitze. Stehen heute die hohen Wachstumsraten asiatischer Länder, allen voran Chinas, im Zentrum der Globalisierungsdebatte, so hat deren wirtschaftliche Prosperität eben auch eine Vorgeschichte: Im frühen 19. Jahrhundert wurden 60 Prozent des gesamten Weltsozialprodukts in Asien generiert, ein Drittel allein in China, ungefähr ein Sechstel in Indien. Im Jahr 1950 betrug Asiens Anteil am Weltsozialprodukt dann nur mehr knapp 20 Prozent; seither steigt dieser Prozentsatz (anfangs aufgrund der ökonomischen Dynamik, die Japan in der Nachkriegszeit entfaltete) wieder an.

Freihandel. Die Öffnung gegenüber dem Freihandel spielt bei der Frage, ob ein Entwicklungsland ökonomisch prosperiert oder zurückbleibt, eine große Rolle. Es gilt heute als unbestritten, dass Entwicklungsländer, die sich in die Weltwirtschaft integrieren – so zum Beispiel China oder die ehemaligen asiatischen „Tigerstaaten“ –, nachhaltig höheres Wachstum erzielen können als jene, die sich von der Globalisierung abschotten. Claus Raidl, Generaldirektor des Edelstahlkonzerns Böhler-Uddeholm und wirtschaftspolitischer Berater von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, argumentiert, dass es auch vom moralischen Standpunkt her nicht zu vertreten wäre, würde man solchen Ländern die Chance auf mehr Wohlstand durch Globalisierung vorenthalten – selbst wenn dadurch kurzfristig anderswo Arbeitsplätze verschwinden sollten. Wienerberger-Chef Wolfgang Reithofer pflichtet Raidl bei diesem Versuch, wirtschaftliche Interessen mit moralischen Motiven aufzufetten, bei: „Wenn sich hoch industrialisierte Länder an traditionelle Arbeitsplätze niedriger Qualifikation klammern, könnte man das ja auch als Egoismus bezeichnen. Denn angesichts einer Alternative ‚Hier oder dort?‘ reduziert sich die Sache auf die Auseinandersetzung ‚Du oder ich‘.“

Ricardo. Liberalisierung bringt also zusätzliche Wachstumschancen. Und zwar für alle am Freihandel teilnehmenden Staaten, wie es schon der alte Ökonom David Ricardo behauptet hatte. Weniger klar ist allerdings, ob diese Erkenntnis auch angesichts der nicht bloß aus materiellen Gütern bestehenden Interaktionen der heutigen Welt gilt: Liberalisierte Kapitalmärkte und alle Wirtschaftsbereiche durchflutende Computertechnologie machen die Antwort auf die Frage schwierig, ob Ricardo heute noch Recht hat. Die Meinungen der Fachwelt gehen auseinander.

Und die offenen Fragen setzen sich fort. Denn ob sich der durch Globalisierung gewonnene, zusätzliche Reichtum globalisierungsfreudiger Entwicklungsländer dann auf deren Einwohner halbwegs gleichmäßig verteilt oder ob er zu dramatischen Ungleichheiten führt, ist ein weiterer offener Punkt. In China zum Beispiel war während der letzten Jahre ein Sich-Öffnen der Schere in der Einkommensverteilung zu bemerken. Zwischen den „neuen Reichen“ in den Städten und der darbenden Landbevölkerung gibt es kaum noch Gemeinsamkeiten. Zudem pflegen sich Entwicklungsländer mit liberalem Außenwirtschaftsregime um soziale Minimalstandards oder Ökologie nicht nur nicht zu kümmern, sie nutzen diese Missstände vielfach sogar aktiv als Standortwerbung für Unternehmensansiedlungen.

In den hoch entwickelten Ländern Europas und insbesondere in den USA hat sich in den vergangenen Jahren der Abstand zwischen Arm und Reich vergrößert. Hier ist freilich nicht ganz klar, ob die Globalisierung dabei als Ursache eine mehr als nebensächliche Rolle spielt. Stanley Fischer zum Beispiel, früher Chefökonom des Internationalen Währungsfonds und jetzt Zentralbankpräsident von Israel, bewertet die Rolle der Globalisierung in dem Zusammenhang als „marginal“. Andererseits hat die Dynamik der Globalisierung die Gewinne so vieler Konzerne (und somit auch die Einkünfte aus Kapitalvermögen bei wohlhabenden Anlegern) markant steigen lassen, dass ein Zusammenhang eigentlich auf der Hand läge. Man gehe davon aus, schreibt der britische „Economist“, „dass das Gewinnwachstum der Unternehmen weiterhin stärker sein wird als das Wachstum des Bruttosozialprodukts des jeweiligen Landes“. Mit anderen Worten, die Einkommen jedenfalls der schlecht ausgebildeten Arbeitskräfte in den hoch entwickelten Ländern werden auch weiterhin kräftig absacken.

Polarisiert. In einem Feuilletonbeitrag zur „New York Times“ hat der bekannte US-Ökonom Paul Krugman schon vor geraumer Zeit die Entwicklung der USA von der „Mittelstandsgesellschaft“ seiner Kindheit zur „Oberschicht-Unterschicht-Gesellschaft“ der Gegenwart geschildert. „Genau diese Entwicklung“ sieht Österreichs Arbeiterkammerdirektor Werner Muhm nun „auch auf Europa zukommen“. Franz Münteferings „Pauschalkritik“ hält Muhm zwar „nicht für zielführend“. Aber geschehen müsse etwas. Gegen die „Auswüchse des Finanzkapitalismus“.

Auch Muhm zielt offenbar auf die Aktivitäten jener Fonds und Finanzgesellschaften, die Müntefering als „Heuschrecken“ apostrophiert hat. Klaus Sernetz, bis vor Kurzem Chef des Anlagebauunternehmens VA Tech, hat vor wenigen Monaten Erfahrungen mit so genannten Hedge-Fonds gesammelt, als diese in Erwartung einer VA-Tech-Übernahme durch Siemens kurzfristig heftiges Interesse am Erwerb von VA-Tech-Aktien entwickelten. „Tatsächlich wächst in Europa der Einfluss kurzfristig orientierter Investoren“, findet Sernetz. „Die zerstörerische Wirkung afrikanischer Heuschreckenschwärme entfalten sie aber nicht.“ Es hänge von den Managern eines Unternehmens und der Weitsicht der anderen Aktionäre ab, „wie groß der Einfluss kurzatmiger Hedge-Fonds werden wird“.

Früher hätten sich Eigentümer „sozial verantwortlich“ verhalten, jetzt zähle nur noch die nackte Profitgier, wird häufig geklagt. Wirtschaftsminister Martin Bartenstein sieht in der Werthaltung, die mit Eigentum auch Verantwortung verknüpft, traditionelle Vorzüge der mittelständischen Wirtschaft. Über das Konzept der so genannten Corporate Social Responsibility will er solche Werte nun auch den Kapitalgesellschaften nahe bringen – ein Ansatz, der freilich nicht nur den „linken“ Kapitalismuskritikern, sondern auch nüchternen Kapitalisten eher verwaschen und kaum zielführend erscheint: „Das läuft letztlich nur auf eine sophistiziertere Form von Public Relations hinaus“, meint ein Investmentbanker. Denn: „Kapitalströme tun, was Kapitalströme eben zu tun pflegen: Sie suchen – jenseits aller Moral – nach einer möglichst hohen Rendite.“

Gefordert sei, wenn überhaupt, die europäische Politik. Aber beim gegenwärtigen Zustand der Union sei wohl nicht zu erwarten, dass da in absehbarer Zeit große Konzepte geboren würden. Und wie sagt Wirtschaftsminister Bartenstein: „Die Globalisierung aufhalten zu wollen ist ohnehin so, also ob man die Erde daran hindern wollte, sich zu drehen.“

Von Julia Heuberger und Liselotte Palme
Mitarbeit: Robert Zechner