Deutschland: Die ver-flixten sieben Jahre

Deutschland: Die verflixten sieben Jahre

Rot-grüne Regierung hat die Republik verändert

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Sieben Jahre Rot-Grün waren sieben magere Jahre für Deutschland“, rief CSU-Chef Edmund Stoiber zum Wahlkampfauftakt in München. Der bayerische Ministerpräsident und glücklose Schröder-Herausforderer von 2002 zog eine niederschmetternde Bilanz: fünf Millionen Menschen ohne Arbeit, die Schulden höher denn je, das niedrigste Wirtschaftswachstum Europas. Und obendrein dürfen die Homosexuellen heiraten.

Mit dem 18. September jedoch soll das rot-grüne Experiment Geschichte sein. 61,9 Millionen deutsche Wähler dürfen ihr Urteil fällen, laut Umfragen unterstützt nur noch knapp ein Drittel der Bevölkerung die Regierung – nur jeder Zehnte gar erwartet eine Fortsetzung.

Es ist kein Wunder, dass Deutschlands Konservative aufatmen. Kulturell waren die verflixten sieben rot-grünen Jahre keine einfache Zeit für sie. Gewiss, Joschka Fischer ist längst grau geworden – passend zur Farbe seiner Dreiteiler. Doch dass er überhaupt so hoch steigen konnte, zum Außenminister und beliebtesten Politiker Deutschlands, schmerzt die Schwarzen bis heute.

Die Grünen haben es weit gebracht in dem Vierteljahrhundert ihrer Geschichte. Als sie 1983 das Parlament enterten, mit Sonnenblumen und Strickzeug bewaffnet, war von einer rot-grünen Option noch keine Rede. Schließlich war die Geburt der neuen Partei das Resultat der burschikosen Politik des SPD-Kanzlers Helmut Schmidt, der auf Atomwaffen und -kraftwerke setzte und tiefen Widerwillen gegen alles Ökologische hegte. Die Zuneigung der Grünen zur SPD war kaum größer. Keine Liebe auf den ersten Blick.

Doch die „Realos“ unter den Grünen, der machtwillige Flügel, begannen bald die Optionen auszuloten. Rot-Grün sei die einzige Chance, folgerten sie. Im Land Hessen wurde Mitte der achtziger Jahre der erste Versuch gewagt. Noch kurz zuvor hatte der dortige SPD-Ministerpräsident Holger Börner, ein gelernter Betonfacharbeiter, über Umweltschützer gelästert: Solche Leute hätte man früher auf dem Bau „mit der Dachlatte versohlt“. Im Dezember 1985 vereidigte Börner mit ernstem Blick den grünen Umweltminister Joseph Fischer. Die beim Amtsakt getragenen Ministerturnschuhe stehen heute im Museum.

Rot-Grün in Hessen scheiterte bald. Das Tabu aber war gebrochen. Andere rot-grüne Landesregierungen folgten: in Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein. 1990 machte auch der neue Ministerpräsident von Niedersachsen, Gerhard Schröder, erste rot-grüne Erfahrungen.

Am Abend des 27. September 1998 war es auch national so weit: Rot-Grün hatte die Mehrheit in Deutschland. Selbst der Sieger Schröder wirkte verdutzt. War es ein Zufall, ein Unfall gar? Nach dreißig Jahren, hieß es nun, kämen die 68er an die Macht. Das war ein Missverständnis: Einzig Fischer war 1968 Aktivist gewesen. Alle Übrigen mochten sich fortschrittlich fühlen – doch Teil der Studentenrevolte waren sie nicht gewesen.

Sie kamen wohl ohnehin zu spät. Der Beginn der neunziger Jahre wäre ihre Zeit gewesen. Doch damals bescherte die deutsche Wiedervereinigung Helmut Kohl eine Ehrenrunde, die acht weitere Jahre währte. Die Aufbruchsstimmung der Neuen war schon verflogen, bevor sie an die Macht kamen. Es gab keine Vision von einer besseren Gesellschaft mehr, nur noch ein paar einzelne Ideen.

In dieser Stimmung begann die Regierung Schröder zu werken, klebte wechselnde Etiketten auf ihre Politik: „Neue Mitte“, „Dritter Weg“. Die Herausforderungen waren enorm: Krisen und Kriege verlangten rasche Entscheidungen. Dann kam die Ratlosigkeit, kaschiert als „Politik der ruhigen Hand“. Und schließlich die „Agenda 2010“.

Manches Urteil fällt da am Ende recht bitter aus. Seit die Generation der Achtundsechziger an der Macht sei, resümiert „Spiegel“-Autor Cordt Schnibben, „muss sie erkennen, dass ihre Regierung dabei ist, das Land unsozialer, autoritärer und militanter zu machen“. Hat er Recht?

Kochen ohne Rezept
In der Wirtschafts- und Sozialpolitik hat Rot-Grün versagt.

„Wir hatten zuvor ein extremes Modernisierungsdefizit“, meint die grüne Fraktionschefin Christa Sager im Rückblick. „Helmut Kohl hat in seinen letzten Jahren als Kanzler alles nur noch ausgesessen.“ So korrekt dieser Befund erscheint, so wenig taugt er als Entschuldigung. Das Feld der Ökonomie ist ein Debakel für Rot-Grün. Vor allem der dramatische Niedergang der SPD ist dieser Tatsache geschuldet. Von Beginn an gab es widerstreitende Ideen in der Regierung, wie das Land zu reformieren sei. Der damalige SPD-Chef und Finanzminister Oskar Lafontaine setzte auf die Belebung der Nachfrage. Schröders Berater dagegen liebäugelten mit der eher konservativen Politik des britischen Genossen Tony Blair.

Neben den Standardproblemen moderner Industriegesellschaften – Überalterung und Globalisierung – trug Deutschland an einer zusätzlichen Last: Seit der Wiedervereinigung acht Jahre zuvor flossen Milliarden in einen radikal deindustrialisierten Osten. Die prophezeiten „blühenden Landschaften“ wuchsen nicht. Die ohnehin schon arg strapazierten Sozialkassen bekamen im Osten immer mehr Kundschaft und steuern mittlerweile auf den Bankrott zu.

Die Grünen durften sich in der Wirtschaftspolitik nur im Sandkasten tummeln: das Dosenpfand neu regeln, den Naturschutz ausdehnen und die Windkraft ausbauen. Immerhin ist Deutschland bei erneuerbaren Energiequellen heute die Nummer eins der Welt.

Gerhard Schröder, großen Programmen abhold, glaubte, es gebe ohnehin keine linke oder rechte Wirtschaftspolitik, sondern nur „die richtige“. Um diese zu finden, setzte er Kaffeerunden im Kanzleramt ein, „Bündnis für Arbeit“ genannt, mit Vertretern der Arbeitgeber und der Gewerkschaften. Wichtige Einflüsterer aus der Industrie durften anschließend auch auf ein Gläschen Rotwein bleiben. Der Direktor von Volkswagen, Peter Hartz, erstellte für Schröder später ein Sanierungskonzept für Deutschland – an Partei und Parlament vorbei. Es war ein Konzept, das die SPD in ihre tiefste Existenzkrise stürzte, deutlich teurer ausfiel als geplant – und bislang kaum Wirkung entfaltet hat.

Mit dem frühen Abgang Lafontaines hatten die Linken ohnehin schon verloren. Die hohe Staatsverschuldung galt nun als Kernübel. Finanzminister Hans Eichel bekam 1999 die Order, rigoros zu sparen. Er kündigte für 2006 einen ausgeglichenen Haushalt an – was aus heutiger Sicht wie ein Scherz klingt.

Derweil leitete die Regierung Reformen an den Sozialsystemen ein: Die Rentenformel wurde verändert und das System um die Förderung privater Vorsorge erweitert, die so genannte „Riester-Rente“. Später gab es, mit Zustimmung der in der Länderkammer schon übermächtigen CDU/CSU, auch Korrekturen bei der Krankenversicherung.

Zunehmend setzte Rot-Grün auf eine drastische Senkung der Einkommen- und Unternehmensteuern. Die Körperschaftsteuer sank auf 25 Prozent, der Spitzensteuersatz wurde gekappt, die Besteuerung von Veräußerungsgewinnen bei Kapitalgesellschaften komplett abgeschafft. Großunternehmen zahlen in Deutschland faktisch keine Steuern mehr – im Kontrast zu den USA, wo auch Auslandsgewinne und Kursgewinne besteuert werden. „Wer hätte gedacht, dass sich ausgerechnet eine rot-grüne Regierung zum Sachwalter des internationalen Finanzkapitals macht?“, spottet der Wiesbadener Wirtschaftsprofessor Lorenz Jarass.

Die Folge: Die Staatseinnahmen fallen seit Jahren dramatisch. Die ehrgeizigen Sparziele werden deshalb ebenso verfehlt wie die Kriterien des Euro-Stabilitätspaktes. Doch die Konjunktur springt nicht an. Die Zahl der Arbeitslosen, deren Senkung Schröder 1998 zur wichtigsten Messlatte seines Erfolges erklärt hatte, stieg auf über fünf Millionen.

Der Kanzler reagierte mit der „Agenda 2010“, einer Verschärfung des gleichen Kurses, was unterschiedlich bewertet wurde. Man habe sich zu sehr „neoliberalen Dogmen geöffnet“, sagt der Grüne Frank Bsirske, Chef der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di – und „sich auf eine Politik zubewegt, die schon in der Kohl-Ära nicht funktioniert hat“. „Die rot-grüne Regierung verdient höchsten Respekt“, meint hingegen Manfred Weber, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes deutscher Banken.

Das Gewicht der Welt
Die Außenpolitik ist das rot-grüne Erfolgskapitel.

Die bürgerliche Nation war etwas nervös, als der ehemalige Straßenkämpfer Joschka Fischer im neuen Außenminister-Zwirn in die Welt hinausging. Doch schon bald war die Sorge verflogen. Fischer turtelte mit Clintons Außenministerin Madeleine Albright. Im Nahen Osten war er bald ein gern gesehener Gast, bei Israelis wie Palästinensern.

Entsetzt reagierte eher die eigene Alternativklientel – weil Schröder und Fischer, kaum im Amt, den ersten deutschen Kriegseinsatz seit Hitler in die Wege leiteten: die Beteiligung am NATO-Angriff auf Serbien, ohne formelles UN-Mandat. Fischer trug alle Zweifel und Wandlungen der einst pazifistischen Grünen öffentlich aus und kämpfte die Sache durch. Der Protest seiner Partei war laut, Farbbeutel flogen. Die später folgenden Bundeswehreinsätze in Mazedonien und in Afghanistan waren schon deutlich weniger umstritten.

Innerhalb der EU baute die Regierung die traditionell enge Allianz mit Frankreich aus. Ihren Höhepunkt erreichte die Freundschaft, als man sich gemeinsam den Irak-Kriegsplänen der USA widersetzte – vereint mit Russland und gegen Partner wie Großbritannien, Italien und Spanien. Bei der Erweiterung der EU setzten sich Fischer und Schröder vehement für Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ein.

Es wäre für Deutschland schön gewesen, dieses neue Selbstbewusstsein mit einem permanenten Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu krönen. Dieser Triumph blieb der rot-grünen Außenpolitik allerdings versagt.

Verspätete Moderne
Unter Rot-Grün gelang die überfällige Modernisierung der Gesellschaft.

Gesellschaftspolitisch war der rot-grüne Elan anfangs am größten. Schwule und Lesben verlangten nach Anerkennung, und die längst Realität gewordene multikulturelle Gesellschaft brauchte dringend ein rechtliches Fundament. Vier Jahrzehnte zuvor hatte die Einwanderung aus halb Europa begonnen, zum Wohl der deutschen Industrie. Doch die Konservativen beteuerten störrisch: „Deutschland ist kein Einwanderungsland.“

Rot-Grün machte sich an ein neues Staatsbürgerschaftsrecht. Bis dahin war das „Privileg“, Deutscher zu sein, an den Nachweis einer deutschen Ahnenreihe geknüpft. Die Regierung wollte auch eine doppelte Staatsbürgerschaft zulassen. Doch der CDU-Politiker Roland Koch, in Hessen im Wahlkampf, heizte geschickt die nationale Stimmung an und startete eine Unterschriftenkampagne gegen das neue Gesetz. Rot-Grün schreckte zurück – und fuhr die erste schwere Niederlage ein: Ihr Pionierland Hessen fiel, und viele Niederlagen folgten. Bald war die Mehrheit in der zweiten Kammer, dem Bundesrat, verloren. Im Frühjahr 2005 wurde die letzte rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen abgewählt.

Sozial und kulturell hat die rot-grüne Regierung dennoch vielen Erwartungen ihrer Wähler entsprochen. Die Gleichstellung der Frau, die Integration von Einwanderern, die Rechte von Minderheiten machten Fortschritte. Ein Hauch von Wehmut ist also dabei, wenn die Kulturszene sich im Hamburger St. Pauli Theater derzeit mit einem Kabarettprogramm von Rot-Grün verabschiedet. Der Titel: „Gute Nacht Freunde – es wird Zeit für Euch zu geh’n“.

Im Jammertal
Berlin ist ein Bazar plappernder Beliebigkeit. Der Politikverdruss wächst.

Der Umzug vom rheinischen Städtchen Bonn in die neue Hauptstadt Berlin weckte große Erwartungen: Auf den Boulevards der Metropole werde neue Kultur Raum finden, eine kosmopolitischere, geistreichere Politik. Das Gegenteil geschah. Unter Rot-Grün schwand die Bedeutung des Parlaments, das Niveau der Debatte fiel auf das jener Talkshows, in denen sie inzwischen stattfindet. Wesentlicher Grund dafür ist wohl die mangelnde Kohärenz und Strahlkraft der Ära Schröder.

Der Kanzler konnte nie wirklich erklären, was er mit Deutschland vorhat, der Rest war oft rot-grüne Kakofonie. So blühte dauernder, zur Schau getragener Pessimismus auf allen Kanälen. Jammern wurde zum Volkssport von Journalisten, Experten und Verbandsfunktionären. „Die neoliberale Bewegung in Deutschland steht eigentlich vor einem Scherbenhaufen“, bilanziert der Ökonom Albrecht Müller, ehemaliger Mitarbeiter der SPD-Kanzler Brandt und Schmidt. „Doch Gerhard Schröder hilft ihr aus der Patsche.“

Dabei hatte die SPD in den Grünen einen artigen Alliierten. Die ehemalige „Anti-Parteien-Partei“ benahm sich braver und berechenbarer als alle Partner vor ihr. Beide Parteien aber blieben im Pragmatismus ihrer schon ermatteten Machergeneration stecken. Gesellschaftliches Engagement kam da nur noch als cooles Retro-Feeling vor.

Ist linkes Regieren in Deutschland also nur als Episode zwischen langen konservativen Zeiten denkbar? Die sozialliberale Ära (1969–1982) endete in tiefer Enttäuschung. Die rot-grüne Ära (1998–2005) droht mit ähnlich schwerem Illusionsverlust einherzugehen. Damals wurde die grüne Partei geboren. Diesmal entsteht aus der PDS im Osten und abtrünnigen Sozialdemokraten die neue Linkspartei – jeweils auf Kosten der SPD.

Eine tiefe Politikverdrossenheit breitet sich aus. Schröder sollte es besser machen, weil Kohl es nicht mehr schaffte. Nun soll Merkel es besser machen, weil auch Schröder scheiterte. Und dann?

Von Tom Schimmeck